»Ich sagte, ich danke Ihnen. Trotzdem nein. Sie hören wieder von mir.«
Ralph legte den Hörer behutsam auf. Wahrscheinlich hatte John recht, überlegte er sich, wahrscheinlich war er verrückt, aber er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so normal gefühlt.
»Müde«, sagte er seiner sonnigen, einsamen Küche, »aber normal.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Und fast wieder verliebt.«
Dabei mußte er grinsen, und er grinste immer noch, als er schließlich den Teekessel auf den Herd stellte.
Er trank die zweite Tasse Tee, als ihm einfiel, daß Bill in der Nachricht etwas von einem Essen gesagt hatte. Er beschloß impulsiv, Bill zu bitten, sich mit ihm zu einem kleinen Abendessen im Day Break, Sun Down zu treffen. Sie konnten noch einmal von vorne anfangen.
Ich glaube, wir müssen noch mal von vorne anfangen, dachte er, denn dieser kleine Irre hat Bills Hut, und ich bin ziemlich sicher, das bedeutet, daß er in Gefahr ist.
Nun, es geht nichts über die Gegenwart. Er griff zum Telefon und wählte eine Nummer, die er sich jederzeit merken konnte: 941-5000. Die Nummer des Derry Home Hospital.
Die Telefonistin des Krankenhauses verband ihn mit Zimmer 213. Die eindeutig erschöpfte Frau, die den Hörer abnahm, war Denise Polhurst, die Nichte des sterbenden Mannes. Bill war nicht da, informierte sie ihn. Vier andere Lehrer aus den, wie sie sich ausdrückte, »ruhmreichen Tagen von Onkelchen« waren gegen eins vorbeigekommen, und Bill hatte vorgeschlagen, daß sie gemeinsam zu Mittag essen sollten. Ralph wußte sogar, wie es sein Untermieter formuliert haben würde: Besser spät als nie. Das war einer seiner Lieblingssprüche. Als Ralph sie fragte, ob sie ihnbald zurückerwartete, antwortete Denise Polhurst mit ja.
»Er war so aufmerksam. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn gemacht hätte, Mr. Robbins.«
»Roberts«, sagte er. »Nach Bills Worten muß Mr. Polhurst ein wunderbarer Mensch gewesen sein.«
»Ja, der Meinung sind alle. Aber die Rechnungen werden selbstverständlich nicht an seinen Fandub gehen, oder?«
»Nein«, sagte Ralph unbehaglich. »Wahrscheinlich nicht. In Bills Nachricht stand, daß es Ihrem Onkel sehr schlecht geht.«
»Ja. Die Ärzte sagen, er wird den Tag wahrscheinlich nicht überstehen, geschweige denn die Nacht, aber das habe ich schon einmal gehört. Gott möge mir verzeihen, aber manchmal kommt mir Onkel Bob wie eine dieser Anzeigen von Publisher's Clearing House vor - große Versprechungen und nichts dahinter. Ich nehme an, das hört sich schrecklich an, aber ich bin so müde, daß es mir egal ist. Heute morgen haben sie den Lebenserhaltungskram abgeschaltet - ich hätte die Verantwortung nicht auf mich alleine genommen, aber ich habe Bob angerufen, und er hat gesagt, das wäre bestimmt auch der Wunsch meines Onkels. >Es wird Zeit, daß Bob die nächste Welt erforscht sagte er. >Diese hier hat er schon zur Genüge kartographiert.< Ist das nicht poetisch, Mr. Robbins?«
»Doch. Und ich heiße Roberts, Ms. Polhurst. Würden Sie Bill bitte sagen, daß Ralph Roberts angerufen hat und ihn bittet zurückzu -«
»Also haben wir den Kram abgeschaltet, und ich war bereit -gewappnet, könnte man wohl sagen -, aber er ist nicht gestorben. Das verstehe ich nicht. Er ist bereit, ich bin bereit, sein Lebenswerk ist vollbracht... also warum stirbt er nicht?«
»Ich weiß nicht.«
»Der Tod ist ziemlich blöd«, sagte sie mit der quengelnden und unschönen Stimme, wie sie nur die sehr Müden und Schwermütigen zustande bringen. »Ein Geburtshelfer, der einem Baby so langsam die Nabelschnur durchschneidet, würde wegen Unfähigkeit gefeuert werden.«
Neuerdings schweiften Ralphs Gedanken gerne ab, aber diesmal wurde er ruckartig zurückgeholt. »Was haben Sie gesagt?«
»Pardon?« Sie klang verblüfft, als wären ihre eigenen Gedanken abgeschweift.
»Sie haben etwas gesagt, von wegen die Schnur durchschneiden.«
»Das hatte nichts zu bedeuten«, sagte sie. Der quengelnde Tonfall war stärker geworden... aber er war nicht quengelnd, wurde Ralph jetzt klar, er war winselnd, und er war ängstlich. Da stimmte etwas nicht. Sein Herz schlug plötzlich schneller. »Es hatte überhaupt nichts zu bedeuten«, beharrte sie, und plötzlich nahm der Telefonhörer in Ralphs Hand eine tiefe und bedrohliche Blaufärbung an.
Sie hat daran gedacht, ob sie ihn töten soll, und zwar nicht nur so - sie hat tatsächlich daran gedacht, ihm ein Kissen aufs Gesicht zu drücken und ihn damit zu ersticken. »Es würde nicht lange dauern«, denkt sie. »Ein Gnadenakt«, denkt sie. »Endlich überstanden«, denkt sie.
Ralph hielt den Hörer vom Ohr weg. Blaues Licht, kalt wie der Februarhimmel, drang in dünnen Strahlen aus der Hörmuschel.
Mord ist blau, dachte Ralph, hielt den Hörer auf Armeslänge von sich und sah, von ungläubiger Fassungslosigkeit erfüllt, wie die blauen Strahlen sich krümmten und zu Boden tropften. Er konnte ganz leise die quengelnde, ängstliche Stimme von Denise Polhurst hören. Das ist etwas, was ich nie wissen wollte, aber ich schätze, nun weiß ich es doch: Mord ist blau.
Er hielt den Apparat wieder an den Mund, aber so, daß die obere Hälfte mit der Last der eisblauen Aura von seinem Kopf wegzeigte. Er hatte Angst, wenn er den Hörer zu nahe ans Ohr hielt, würde sie ihn mit ihrer kalten und erbosten Verzweiflung taub machen.
»Sagen Sie Bill, daß Ralph angerufen hat«, sagte er. »Roberts, nicht Robbins.« Er legte auf, ohne auf ihre Antwort zu warten. Die blauen Strahlen am Hörer brachen ab und fielen torkelnd zu Boden. Ralph mußte wieder an Eiszapfen denken; diesmal, wie sie ordentlich in einer Reihe herunterfielen, wenn man nach einem warmen Wintertag mit dem Fäustling an der Unterseite eines Simses entlangstrich. Sie lösten sich auf, bevor sie auf dem Linoleum landeten. Er sah sich um. Nichts in dem Raum leuchtete, flackerte oder vibrierte. Die Auren waren wieder fort. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, und dann hatte draußen auf der Harris Avenue ein Auto eine Fehlzündung.
In dem einsamen Apartment im ersten Stock stieß Ralph Roberts einen Schrei aus.
Er wollte keinen Tee mehr, hatte aber immer noch Durst. Er fand eine halbe Flasche Pepsi Light - abgestanden, aber außen beschlagen - hinten im Kühlschrank, goß es in einen Plastikbecher mit dem verblaßten Symbol des Red Apple und nahm es mit nach draußen. Er ertrug es nicht mehr, in dem Apartment zu sein, das nach unglücklichem Wachsein zu riechen schien. Besonders nicht nach dem Zwischenfall mit dem Telefon.
Der Tag war, sofern dies überhaupt möglich war, noch schöner geworden; ein starker, milder Wind war aufgekommen, rollte Bänder aus Licht und Schatten über das westliche Derry und kämmte das Laub von den Bäumen. Der Wind wehte es wie orangefarbene, rote und gelbe heulende Derwische über die Bürgersteige.
Ralph wandte sich nach links, aber nicht, weil er den Wunsch verspürte, das Picknickgelände beim Flughafen wiederzusehen, sondern weil er den Wind im Rücken haben wollte. Dennoch betrat er zehn Minuten später wieder die kleine Lichtung. Diesmal fand er sie verlassen vor, was ihn nicht überraschte. Der Wind, der aufgekommen war, war keineswegs schneidend, so daß alte Männer und Frauen hätten aufspringen und in den Häusern Schutz suchen müssen, aber es war Schwerstarbeit, Karten auf den Tischen oder Spielfiguren auf dem Schachbrett zu halten, wenn der übermütige Wind versuchte, sie fortzuwehen. Als Ralph sich dem kleinen Tisch näherte, wo Faye Chapin für gewöhnlich Hof hielt, überraschte ihn auch nicht, daß er einen Zettel unter einem Stein vorfand, und er hatte eine deutliche Vorstellung davon, worum es gehen würde, noch bevor er den Plastikbecher aus dem Red Apple wegstellte und den Zettel aufhob.
Zwei Spaziergänge; zweimal den kahlköpfigen Arzt mit dem Skalpell gesehen; zwei alte Leute, die an Schlaflosigkeit leiden und bunte Farben sehen; zwei Zettel. Als würde Noah die Tiere auf die Arche führen, nicht einzeln, sondern in Paaren... und wird wieder harter radioaktiver Regen fallen? Was meinst du, alter Mann?