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Er wußte nicht genau, was er meinte... aber Bills Zettel war eine Art in Entstehung befindlicher Nachruf gewesen, und er hatte keinen Zweifel, daß der von Faye dasselbe sein würde. Das Gefühl, als würde er mühelos und ohne Zögern vorwärts getragen werden, war so stark, daß er es nicht in Zweifel ziehen konnte; es war, als würde man auf einer unbekannten Bühne erwachen und Dialogzeilen in einem Schauspiel sprechen (oder besser gesagt, stottern), an dessen Probe man sich nicht erinnern konnte, als würde man einen Zusammenhang in etwas erkennen, das bislang wie völliger Unsinn ausgesehen hatte, oder entdecken...

Was entdecken?

»Eine heimliche Stadt, genau das«, murmelte er. »Das Derry der Auren.« Dann beugte er sich über Fayes Zettel und las ihn, während der Wind schalkhaft mit seinem schütteren Haar spielte.

Wer Jimmy Vandermeer die letzte Ehre erweisen möchte, sollte es bis spätestens morgen tun. Pater Coughlin kam heute mittag vorbei, als ich die Aufstellungfür das Schachturnier durchsah, und erzählte mir, daß sich der Zustand des armen Kerls zusehends verschlechtert. Aber er KANN Besucher empfangen. Er liegt auf der Intensivstation des Derry Home, Zim-

P.S. Vergeßt nicht, die Zeit wird knapp. 414

Ralph las den Zettel zweimal, legte ihn mit dem Stein darauf wieder auf den Tisch, damit ihn der nächste Altvordere lesen konnte, der hierher kam, dann blieb er einfach mit den Händen in den Taschen und gesenktem Kopf stehen und betrachtete Startbahn 3 unter seinen buschigen Brauen hervor. Ein trockenes Blatt, orangefarben wie die Halloweenkürbisse, die bald die Straßen schmücken würden, kam aus dem tiefblauen Himmel heruntergeschwebt und landete in seinem schütteren Haar. Ralph wischte es zerstreut weg und dachte an zwei Zimmer auf der Intensivstation, zwei Zimmer nebeneinander. Bob Polhurst in einem, Jimmy V. im anderen. Und das nächste Zimmer in diesem Flur? Das war 217, das Zimmer, in dem seine Frau gestorben war.

»Das ist kein Zufall«, sagte er leise. »Nichts von alledem ist Zufall.«

Aber was war es? Umrisse im Nebel? Eine heimliche Stadt? Beides waren bedeutungsschwangere Ausdrücke, beide, aber sie beantworteten keine Fragen.

Ralph setzte sich auf den Picknicktisch neben dem, auf dem Faye seine Nachricht hinterlassen hatte, zog die Schuhe aus und schlug die Beine übereinander. Der böige Wind zerzauste ihm das Haar. Er saß zwischen den fallenden Blättern, hielt den Kopf leicht gesenkt und hatte die Stirn nachdenklich gerunzelt. Er sah wie eine Winslow-Homer-Version des meditierenden Buddha mit den Händen auf den Knien aus, während er gründlich über seine Eindrücke von Doc Nr. 1 und Doc Nr. 2 nachdachte... und sie dann mit denen verglich, die er von Doc Nr. 3 gewonnen hatte.

Erster Eindruck: Alle drei Docs hatten ihn an die Außerirdischen in Sensationsblättern wie Inside View und an Bilder erinnert, die stets die Legende »Vorstellung des Künstlers« trugen. Ralph wußte, daß diese Bilder geheimnisvoller kahlköpfiger, dunkeläugiger Besucher viele Jahre zurückreichten; schon seit langer Zeit berichteten Menschen von Begegnungen mit kleinwüchsigen Kahlköpfen - den sogenannten »kleinen Ärzten« -, möglicherweise schon so lange, wie von UFOSichtungen berichtet wurde. Er war ziemlich sicher, daß er mindestens einen derartigen Bericht schon in den sechziger Jahren gelesen hatte.

»Okay, also sind einige von diesen Burschen unterwegs«, sagte Ralph zu einem Sperling, der sich auf einem der Abfalleimer des Picknickplatzes niedergelassen hatte. »Nicht nur drei Docs, sondern dreihundert. Oder dreitausend. Lois und ich sind nicht die einzigen, die sie gesehen haben. Und...«

Und sprachen die meisten Leute, die solche Begegnungen schilderten, nicht auch von scharfen Gegenständen?

Ja, aber nicht von Scheren oder Skalpellen - jedenfalls glaubte Ralph das nicht. Die meisten Leute, die behaupteten, von den kleinen kahlköpfigen Ärzten entführt worden zu sein, sprachen von Sonden, oder nicht?

Der Sperling flog weg. Ralph bemerkte es nicht. Er dachte an die kleinen kahlköpfigen Ärzte, die May Locher in der Nacht ihres Todes besucht hatten. Was wußte er sonst noch von ihnen? Was hatte er noch gesehen? Sie waren in weiße Kittel gekleidet, wie sie Ärzte in Fernsehserien der fünfziger und sechziger Jahre getragen hatten und Apotheker sie heute noch trugen. Aber ihre Kittel waren, im Gegensatz zu dem von Doc Nr. 3, sauber gewesen. 3 hatte ein rostiges Skalpell gehabt; wenn die Schere in der rechten Hand von Doc Nr. 1 rostig gewesen war, hatte Ralph es nicht bemerkt. Nicht einmal durch das Fernglas.

Noch etwas - wahrscheinlich nicht so wichtig, aber immerhin ist es dir aufgefallen. Der scherentragende Doc war Rechtshänder, jedenfalls der Art nach zu urteilen, wie er seine Waffe gehalten hat. Der skalpellschwingende Doc war Linkshänder.

Nein, wahrscheinlich nicht wichtig, aber etwas daran auch einer dieser Umrisse im Nebel, ein kleinerer - ließ ihm keine Ruhe. Etwas über die Dichotomie von links und rechts.

»Gehen Sie nach links, und Sie haben recht«, murmelte Ralph und wiederholte die Pointe eines Witzes, an den er sich nicht mehr erinnern konnte. »Gehen Sie nach rechts, und man läßt Sie links liegen.«

Unwichtig. Was wußte er sonst noch über die Docs?

Nun, sie waren selbstverständlich von Auren umgeben gewesen - ziemlich hübschen grün-goldenen -, und sie hatten diese (Spuren des weißen Mannes)

Tanzdiagramme wie von Arthur Brown hinterlassen. Und ihre Züge waren ihm völlig anonym vorgekommen, aber die Auren hatten ein Gefühl von Macht vermittelt... und Aufrichtigkeit... und...

»Und Würde, gottverdammt«, sagte Ralph. Der Wind wehte wieder böig, noch mehr Blätter wurden von den Bäumen gewirbelt. Fünfzig Meter vom Picknickplatz, nicht weit von den alten Eisenbahnschienen entfernt, schien ein verkrümmter, halb entwurzelter Baum in Ralphs Richtung zu greifen und Zweige auszustrecken, die tatsächlich ein wenig wie zupackende Hände aussahen.

Plötzlich überlegte sich Ralph, daß er in jener Nacht eine ganze Menge gesehen hatte für einen alten Burschen, der sich angeblich an der Schwelle zum letzten Lebensabschnitt eines Menschen befand, den Shakespeare (und Bill McGovern) »den ausgerutschten Hanswurst« nannte. Und nichts - nicht die kleinste Einzelheit - deutete auf Gefahr oder böse Absicht hin. Daß Ralph etwas Böses unterstellt hatte, war nicht gerade überraschend. Sie waren körperlich mißgebildete Fremde; er hatte sie zu nachtschlafender Zeit aus dem Haus einer todkranken Frau kommen sehen, wo Besucher normalerweise nichts zu suchen hatten; er hatte sie, wenige Minuten nachdem er aus einem Alptraum von epischer Breite erwacht war, gesehen.

Aber jetzt, als er Revue passieren ließ, was er gesehen hatte, fielen ihm auch andere Einzelheiten ein. Zum Beispiel, wie sie auf Mrs. Lochers Veranda standen, als hätten sie ein Recht, dort zu sein; der Eindruck, den er gehabt hatte, als würden zwei alte Freunde noch ein kleines Schwätzchen halten, bevor sie ihres Weges gingen. Zwei Kumpel bei einer abschließenden Besprechung, bevor sie nach getaner Arbeit nach Hause gingen.

Das war dein Eindruck, ja, aber es ist nicht gesagt, daß du dich darauf verlassen kannst, Ralph.

Aber Ralph fand, er konnte sich darauf verlassen. Alte Freunde, langjährige Kollegen, deren Arbeit für die Nacht beendet war. May Locher war ihre letzte Anlaufstelle gewesen.

Nun gut, Doc Nr. 1 und 2 unterschieden sich vom dritten wie der Tag von der Nacht. Sie waren sauber, er war schmutzig, sie besaßen eine Aura, er dagegen keine (jedenfalls keine, die Ralph gesehen hätte), sie trugen Scheren, er ein Skalpell, sie wirkten so ernst und normal wie zwei geachtete Dorfälteste, während Nr. 3 so verrückt wie eine Scheißhausratte zu sein schien.

Aber eines ist vollkommen klar, oder nicht? Deine Spielkameraden sind übernatürliche Wesen, und abgesehen von Lois scheint der einzige andere Mensch, der von ihrer Anwesenheit weiß, Ed Deepneau zu sein. Wollen wir Wetten abschließen, wieviel Schlaf Ed in letzter Zeit bekommt?