Kann ich von meinem Bruder Abschied nehmen,
Den ich ermorde? Nimmer kann ich ihm
Mehr in die vielgeliebten Augen schaun!
Thoas:
So haben die Betrüger künstlich dichtend
Der lang Verschloßnen, ihre Wünsche leicht
Und willig Glaubenden ein solch Gespinst
Ums Haupt geworfen!
Iphigenie:
Nein! o König, nein!
Ich könnte hintergangen werden; diese
Sind treu und wahr. Wirst du sie anders finden,
So laß sie fallen und verstoße mich,
Verbanne mich zur Strafe meiner Torheit
An einer Klippeninsel traurig Ufer.
Ist aber dieser Mann der lang erflehte
Geliebte Bruder, so entlaß uns, sei
Auch den Geschwistern wie der Schwester freundlich!
Mein Vater fiel durch seiner Frauen Schuld
Und sie durch ihren Sohn. Die letzte Hoffnung
Von Atreus' Stamme ruht auf ihm allein.
Laß mich mit reinem Herzen, reiner Hand
Hinübergehn und unser Haus entsühnen.
Du hältst mir Wort! — Wenn zu den Meinen je
Mir Rückkehr zubereitet wäre, schwurst
Du, mich zu lassen; und sie ist es nun.
Ein König sagt nicht, wie gemeine Menschen,
Verlegen zu, daß er den Bittenden
Auf einen Augenblick entferne; noch
Verspricht er auf den Fall, den er nicht hofft:
Dann fühlt er erst die Höhe seiner Würde,
Wenn er den Harrenden beglücken kann.
Thoas:
Unwillig, wie sich Feuer gegen Wasser
Im Kampfe wehrt und gischend seinen Feind
Zu tilgen sucht, so wehret sich der Zorn
In meinem Busen gegen deine Worte.
Iphigenie:
O laß die Gnade wie das heil'ge Licht
Der stillen Opferflamme mir, umkränzt
Von Lobgesang und Dank und Freude, lodern.
Thoas:
Wie oft besänftigte mich diese Stimme!
Iphigenie:
O reiche mir die Hand zum Friedenszeichen!
Thoas:
Du forderst viel in einer kurzen Zeit.
Iphigenie:
Um Guts zu tun, braucht's keiner Überlegung.
Thoas:
Sehr viel! denn auch dem Guten folgt das Übel.
Iphigenie:
Der Zweifel ist's, der Gutes böse macht.
Bedenke nicht; gewähre, wie du's fühlst.
Vierter Auftritt
Orest, gewaffnet. Die Vorigen.
Orest nach der Szene gekehrt:
Verdoppelt eure Kräfte! Haltet sie
Zurück! Nur wenig Augenblicke! Weicht
Der Menge nicht und deckt den Weg zum Schiffe
Mir und der Schwester!
Zu Iphigenien, ohne den König zu sehen:
Komm, wir sind verraten.
Geringer Raum bleibt uns zur Flucht. Geschwind!
Er erblickt den König.
Thoas nach dem Schwerte greifend:
In meiner Gegenwart führt ungestraft
Kein Mann das nackte Schwert.
Iphigenie:
Entheiliget
Der Göttin Wohnung nicht durch Wut und Mord!
Gebietet eurem Volke Stillstand, höret
Die Priesterin, die Schwester!
Orest:
Sage mir!
Wer ist es, der uns droht?
Iphigenie:
Verehr in ihm
Den König, der mein zweiter Vater ward!
Verzeih mir, Bruder! doch mein kindlich Herz
Hat unser ganz Geschick in seine Hand
Gelegt. Gestanden hab ich euern Anschlag
Und meine Seele vom Verrat gerettet.
Orest:
Will er die Rückkehr friedlich uns gewähren?
Iphigenie:
Dein blinkend Schwert verbietet mir die Antwort.
Orest, der das Schwert einsteckt:
So sprich! Du siehst, ich horche deinen Worten.
Fünfter Auftritt
Die Vorigen. Pylades. Bald nach ihm Arkas. Beide mit bloßen Schwertern.
Pylades:
Verweilet nicht! Die letzten Kräfte raffen
Die Unsrigen zusammen; weichend werden
Sie nach der See langsam zurückgedrängt.
Welch ein Gespräch der Fürsten find ich hier!
Dies ist des Königes verehrtes Haupt!
Arkas:
Gelassen, wie es dir, o König, ziemt,
Stehst du den Feinden gegenüber. Gleich
Ist die Verwegenheit bestraft; es weicht
Und fällt ihr Anhang, und ihr Schiff ist unser.
Ein Wort von dir, so steht's in Flammen.
Thoas:
Geh!
Gebiete Stillstand meinem Volke! Keiner
Beschädige den Feind, solang wir reden.
Arkas ab.
Orest:
Ich nehm es an. Geh, sammle, treuer Freund,
Den Rest des Volkes; harret still, welch Ende
Die Götter unsern Taten zubereiten
Pylades ab.
Sechster Auftritt
Iphigenie. Thoas. Orest.
Iphigenie:
Befreit von Sorge mich, eh ihr zu sprechen
Beginnet. Ich befürchte bösen Zwist,
Wenn du, o König, nicht der Billigkeit
Gelinde Stimme hörest; du, mein Bruder,
Der raschen Jugend nicht gebieten willst.
Thoas:
Ich halte meinen Zorn, wie es dem Ältern
Geziemt, zurück. Antworte mir! Womit
Bezeugst du, daß du Agamemnons Sohn
Und dieser Bruder bist?
Orest:
Hier ist das Schwert,
Mit dem er Trojas tapfre Männer schlug.
Dies nahm ich seinem Mörder ab und bat
Die Himmlischen, den Mut und Arm, das Glück
Des großen Königes mir zu verleihn
Und einen schönern Tod mir zu gewähren.
Wähl einen aus den Edeln deines Heers
Und stelle mir den Besten gegenüber!
So weit die Erde Heldensöhne nährt,
Ist keinem Fremdling dies Gesuch verweigert.
Thoas:
Dies Vorrecht hat die alte Sitte nie
Dem Fremden hier gestattet.
Orest:
So beginne
Die neue Sitte denn von dir und mir!
Nachahmend heiliget ein ganzes Volk
Die edle Tat der Herrscher zum Gesetz.
Und laß mich nicht allein für unsre Freiheit,
Laß mich, den Fremden, für die Fremden kämpfen!
Fall ich, so ist ihr Urteil mit dem meinen
Gesprochen; aber gönnet mir das Glück
Zu überwinden, so betrete nie
Ein Mann dies Ufer, dem der schnelle Blick
Hülfreicher Liebe nicht begegnet, und
Getröstet scheide jeglicher hinweg!
Thoas:
Nicht unwert scheinest du, o Jüngling, mir
Der Ahnherrn, deren du dich rühmst, zu sein.
Groß ist die Zahl der edeln, tapfern Männer,
Die mich begleiten; dich ich stehe selbst
In meinen Jahren noch dem Feinde, bin
Bereit, mit dir der Waffen Los zu wagen.
Iphigenie:
Mitnichten! Dieses blutigen Beweises
Bedarf es nicht, o König! Laßt die Hand
Vom Schwerte! Denkt an mich und mein Geschick.
Der rasche Kampf verewigt einen Mann:
Er falle gleich, so preiset ihn das Lied.