„Ihr ist das Töten von Orcs wichtiger als ihr eigenes Leben“, sagte Khadgar. „Sie geht übertriebene Risiken ein.“ Turalyon nickte traurig. „Aber jetzt tragen wir den Kampf zu den Orcs. Das könnte ihr guttun. Es könnte euch beiden guttun.“
Turalyon errötete, antwortete aber nicht. Seine Augen waren auf seine Soldaten gerichtet, in deren Mitte er sich jetzt begab.
„Söhne Lothars!“, rief er. „Wir sind schon früher in Schlachten gezogen. Wir haben Verluste und Niederlagen erlitten. Aber auch Siege. Doch nun treten wir dem Unbekannten entgegen.“ Er sah Khadgar an und lächelte. „Wir tragen den Kampf zu den Orcs. Und wir werden sie aufhalten, damit sie weder uns noch irgendwelchen anderen Welten mehr Ärger bereiten. Für die Allianz! Für das Licht!“
Er hob seinen Hammer, und Jubel brandete auf, als seine Waffe in hellem weißem Licht erstrahlte. Khadgar nickte. Das war es, was er und Anduin Lothar in Turalyon gesehen hatten, als er ihnen das erste Mal begegnet war. Es schien, als wäre seitdem ein ganzes Menschenleben vergangen. Der ehemalige Kommandeur der Allianz und der Magier hatten schon damals gewusst, dass der Mann, der sich vom Priester zum heiligen Krieger gewandelt hatte, an seinen Aufgaben wachsen würde. Dass sich sein unverdorbenes Ehrgefühl mit der wilden Entschlossenheit, sein Volk zu beschützen, vereinen würde. Dass er als Anführer der Armee seine Männer um sich sammeln und in eine völlig neue Welt führen würde.
Khadgar fragte sich, ob sein Freund merkte, wirklich merkte, wie sehr er seine Soldaten inspirierte. Und wie er im Besonderen eine Person inspirierte, die ihn in unbeobachteten Augenblicken mit Bewunderung auf ihrem schönen Elfengesicht ansah.
Turalyon wendete sein Pferd und trieb es die Steinrampe zum Dunklen Portal hinauf. Sein Pferd scheute, aber Turalyon hielt die Zügel straff und drängte es hindurch.
Die Wirbel aus Licht erschienen verlockend. Ein grünlicher Schimmer überlagerte kurz sein weißes Licht, bevor Turalyon zwischen den Säulen verschwand. Alleria und Khadgar befanden sich direkt hinter ihm. Der Magier kämpfte mit seinem Pferd und spürte eine unbekannte Neugier, als Mann und Tier den Spalt betraten; es fühlte sich kalt an, als würde ein starker Strom an ihm zerren.
Ein Schauder überkam ihn, und für einen Moment sah er gleichzeitig die Finsternis, Sterne, bunte Wirbel und das Aufblitzen merkwürdiger Farben.
Dann kam er wieder heraus. Heiße Luft wärmte seine Haut, die sich während des kurzen Durchgangs stark abgekühlt hatte.
Grell... es war alles so grell. Er hob eine Hand, um seine Augen zu schützen. Es war heiß, eine trockene Hitze, die Khadgar physisch angriff. Er blinzelte, wartete, bis sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten... und schnappte nach Luft.
Er stand auf einem Felsen, inmitten des hiesigen, kunstvoll verzierten Portals. Das Tor auf ihrer Welt war weitgehend schmucklos, wahrscheinlich, weil es so schnell errichtet worden war. Statuen von verhüllten Männern standen auf beiden Seiten. Und die Treppe, die zu einer zweiten Plattform hinabführte, wurde von brennenden Fackeln flankiert. Zwei Säulen, auf denen ebenfalls ein Feuer brannte, befanden sich auf jeder Seite der merkwürdig wirkenden Straße, und...
Die zerklüftete rote, unfruchtbare Ebene, die sich vor ihnen erstreckte, wirkte irgendwie vertraut auf ihn und erinnerte ihn an die Verwüsteten Lande. Selbst jetzt platzte das ausgetrocknete Land in der Ferne immer wieder auf. Feuer stieg hoch, als wäre ein Drache geschlüpft, der durch die Erde wie durch eine Schale brach.
Aber Khadgars Augen hingen am Himmel. Er war rot, das tiefe Rot frischen Blutes, und im Zenit stand eine purpurne Sonne, deren Hitze auf sie niederbrannte. Und... beim Licht... der Himmel war ihm auch vertraut.
„Nein“, sagte er mit gebrochener Stimme. „Nein“, flüsterte er erneut. „Nicht hier! Nicht so!“
„Was ist los?“, fragte ihn Alleria. Er ignorierte sie. Es war alles genauso wie in der Vision... der Himmel, das Land...
„Khadgar! Was ist?“
Er schloss die Augen und öffnete sie wieder, als würde er aufwachen. Aber die schreckliche Szenerie verschwand nicht. Er schüttelte den Kopf und zwang sich zu einem müden Lächeln. „Gar nichts“, log er. Doch schnell merkte er, wie offensichtlich die Lüge war, und er korrigierte sich. „Ich habe diesen Ort... in meinen Visionen gesehen. Ich hatte nicht erwartet... ich dachte nicht, dass es so schnell geschehen würde. Es... es hat mich kurzzeitig überwältigt. Es tut mir leid.“
Alleria sah ihn stirnrunzelnd an. Sie war besorgt, sah aber ein, dass er nichts mehr hinzuzufügen hatte. „Es ist...“ Sie schloss den Mund, unfähig, die richtigen Worte zu finden. Sie legte eine Hand auf ihr Herz, als würde es körperlich schmerzen. Und einen Augenblick lang vergaß Khadgar seine eigene Verzweiflung, um sie zu trösten. Sie war eine Elfe, ein Kind des Waldes, der Bäume, des wachsenden, gesunden Landes. Sie wirkte wie versteinert, krank.
Beinahe so krank, wie Khadgar sich fühlte.
Aus dem Nichts kam Wind auf. Ohne Pflanzen, die den Boden festigten, wirbelte der gierige Luftzug die tote, staubige Erde auf und bedeckte sie alle damit. Sie husteten und griffen nach etwas, irgendetwas, um Mund, Nase und Ohren zu bedecken.
Das war es. Khadgar erkannte, dass er sich, als er durch das Portal getreten war, seiner Bestimmung genähert hatte. Er hatte gehofft, dass dieser Tag noch weit in der Zukunft läge.
In seiner Vision hatte er ausgesehen, wie er jetzt aussah... er war ein alter Mann. Und jetzt war er hier. Verdammt, ich bin gerade mal zweiundzwanzig Jahre alt... Und ich soll hier sterben?, dachte er verzweifelt und versuchte den Gedanken zu verdrängen. Ich habe doch kaum gelebt...
Der Wind verschwand so schnell, wie er gekommen war. „Ein hässlicher Ort“, sagte Danath Trollbann und hustete, als er neben sie trat. Khadgar klammerte sich an den sachlichen Tonfall. „Sagt mal, geht es nur mir so, oder sehen die Verwüsteten Lande genauso aus?“
Khadgar nickte. Es war gut, wenn man sich auf etwas anderes konzentrieren konnte. „Ihre... äh... diese Welt reichte durch den Spalt in unsere hinein. Und was auch immer diese Schäden verursacht hat – ich vermute, dass es die Hexenmeister mit ihrer schwarzen Magie waren –, begann auch, unsere Welt zu beeinflussen.“
Er zwang sich, ihre Umgebung leidenschaftslos zu studieren. Das Land war nicht nur einfach tot, es wirkte, als wäre diese Welt ausgesaugt worden. Was hatten die Orcs ihr nur angetan?
„Auf Azeroth konnten wir den Prozess dank des Lichts aufhalten. Doch dieses Land hat viel länger darunter gelitten. Ich vermute, diese Welt war einst viel freundlicher.“
Alleria furchte die Stirn. „Die Straße... sie...“ Sie wurde plötzlich bleich, dann verzog sich ihr anmutiges Gesicht vor Wut. „Diese... Monster...“
Turalyon ritt neben sie. „Was ist los?“
„Die Straße...“ Alleria schien das richtige Wort nicht einzufallen. Sie versuchte es erneut. „Sie ist mit... Knochen gepflastert.“
Sie alle verstummten. Sicherlich irrte sich Alleria. Die Straße war schließlich kein schmaler Pfad. Sie war breit, dafür gedacht, dass Dutzende Krieger nebeneinander hermarschieren konnten. Sie war breiter als die Brücke, die nach Sturmwind führte, und so lang, dass man das Ende von hier aus nicht erkennen konnte.
Um diese Straße mit Knochen zu pflastern, hätte man Tausende... nein... Hunderttausende Leichen benötigt.
„Bei der Gnade des Lichts“, flüsterte ein junger Mann. Er war kreidebleich geworden, und hinter ihm schwoll Gemurmel an.
Gerade als die Soldaten die schreckliche Wahrheit erkannten, zeigte sich der Feind. Als sie durch das Tor marschiert waren, hatten sich nur ein paar Orcs in der Nähe des Dunklen Portals aufgehalten. Khadgar hatte gehofft, dass es die Einzigen waren, die sie beim Betreten der Welt bekämpfen mussten. Aber diese wenigen hatten Verstärkung gerufen.
Entlang der Hügelkuppe und der Straße erkannte Khadgar Dutzende Orcs, deren Waffen in der grellen roten Sonne glitzerten.