Zum ersten Mal, seit dieser ganze Albtraum begonnen hatte, befürchtete Khadgar, dass die Soldaten in Panik geraten könnten.
„Das ist eine kleine Armee“, sagte er leise. Orcs waren in seiner Vision auch vorgekommen. Orcs, die auf einem Hügelkamm standen, brüllten, knurrten und fluchten.
„Wir haben selbst eine Armee“, sagte Alleria und sah Turalyon an.
„Das stimmt“, antwortete Turalyon. Seine Stimme klang unsicher. Er war auch beim ersten Anblick dieser Welt erschüttert gewesen. Doch jetzt war er fest entschlossen. „Eine Armee, die zwischen den Orcs und denjenigen steht, die sie töten wollen. Eine Streitmacht, die nicht tatenlos dabei zusieht, wie ihre eigene Welt leiden muss.“ Er sah seine Soldaten an. „Söhne Lothars“, rief er. „Dies ist der Kampf, für den wir bestimmt sind! Mehr als jemals zuvor kämpfen wir für unsere Heimat! Wir werden nicht zulassen, dass die Horde uns oder anderen das antut, was sie dieser Welt angetan hat!“ Seine Stimme klang so klar und rein und war stark wie der leuchtende Hammer, den er jetzt hob. „Für Sturmwind! Für Lordaeron, Eisenschmiede, Gnomeregan. Für Azeroth!“
So sei es, dachte Khadgar und folgte seinem General in die Schlacht.
15
Ner’zhul saß auf dem Thron in der Höllenfeuerzitadelle, der albtraumhaften Festung, die von der Horde kurz nach der Vereinigung der Klans erbaut worden war.
Er mochte diesen Ort nicht.
Er war eine hässliche, die Sinne verstörende Ansammlung von schroffen Winkeln, dunklem Stein, Korridoren und Wegen, die sich wie eine Schlange in jede Richtung wanden. All das wirkte nicht im Entferntesten wie ein traditionelles Orc-Dorf, das normalerweise aus einer Ansammlung von kleinen Gebäuden, Hütten und Türmchen bestand. Es hätte bestenfalls die pervertierte Variante eines solchen sein können. So, wie die Orcs selbst verderbt und entstellt waren.
Während Orc-Hütten aus grünen Zweigen bestanden und mit Rinde bedeckt waren, hatte man diese Gebäude aus dunklem Gestein und rohem Eisen errichtet. Merkwürdige Stützbalken ragten auf, von glänzenden Stahlspitzen gekrönt. Es sah aus, als würden riesige Hände aus dem Boden heraus nach den Bauten greifen. Die verschlungenen Verbindungswege erstreckten sich von einem Dach zum anderen, fast als hätte man die Gebäude ineinandergeschoben.
An der Hinterseite erhob sich ein hoher Turm mit spitzem Dach. Hier befand sich Schwarzfausts Thronsaal. Der Schattenrat hatte einst seiner Marionette einen Thron geschenkt. Jetzt gehörte er Ner’zhul, dem wahren neuen Anführer der Horde.
Ner’zhul schaute nicht durch die Fenster zum Portal. Er hatte kein Verlangen danach, an den desolaten Zustand seiner einst fruchtbaren Welt erinnert zu werden. Aber eigentlich ließ es sich kaum vermeiden.
Unbewusst befühlten seine Finger den weißen Totenschädel auf seinem Gesicht. Tod. Der Tod seiner Welt, der Tod seines Volkes, der Tod seiner Ideale. An seinen grünen, gichtigen Händen klebte Blut. Das Blut so vieler Unschuldiger. Das Blut von Orcs, die ihm vertraut hatten. Die er versehentlich in die Irre geführt hatte.
Du musst aufhören, dir solche Vorwürfe zu machen, erklang eine Stimme in seinem Kopf. Er ignorierte sie. Es fiel ihm leichter, die Stimme des toten Gul’dan zu ignorieren, wenn er keinen direkten Kontakt mit dessen Schädel hatte. Aber selbst jetzt, da er bewusst nicht auf ihn achtete, sah er zu dem Totenkopf hin, der auf einem kleinen Tisch lag. Fackellicht tanzte über den gelblichen Knochenschädel. Ner’zhul merkte, dass er mit ihm sprach, als könnte Gul’dan ihn tatsächlich hören – was irgendwie auch stimmte.
„Wir haben viel Schaden angerichtet, du und ich. Wir sind Todbringer, stürzen andere ins Verderben. Aber jetzt können wir versuchen, sie zu retten. Und dein Schädel, mein alter Schüler... dein Schädel wird mir dabei helfen. Tot nützt du den Orcs mehr als zu deinen Lebzeiten. Du bist zu deinem alten Meister zurückgekommen. Vielleicht können wir unserem Volk ja gemeinsam eine neue Zukunft geben.“
Aber das willst du eigentlich gar nicht, oder, mein Meister?
Ner’zhul blinzelte. „Natürlich will ich das! Ich wollte immer meinem Volk dienen. Dass ich den Tod über sie gebracht habe... das verzehrt mich. Deshalb trage ich das hier.“ Er berührte wieder das Symbol in seinem Gesicht. Der Schädel, der vor ihm lag, und der auf seinem Gesicht waren beides Totenköpfe.
Vielleicht war das mal so. Gul’dans Stimme kroch in sein Hirn, war sanft und beruhigend. Aber du bist zu Höherem berufen, mächtiger Ner’zhul. Zusammen können wir...
Ein Geräusch zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Ner’zhul löste widerwillig den Blick von dem Schädel und ließ die jüngste Diskussion mit dessen Besitzer offen. Blutschatten stand vor ihm, zusammen mit einem Menschen, den Ner’zhul nicht kannte. Es war ein großer, schlanker Mann mit dunklen Locken und einem adrett gestutzten Bart. Der Fremde trug kostbare Kleidung und bewegte sich selbstsicher und mit Anmut. Aber irgendetwas an ihm stimmte nicht. Ner’zhul furchte die Stirn, als er die Macht des Fremden spürte.
„Ich habe die Artefakte“, verkündete Blutschatten ohne lange Vorrede und hielt einen großen Sack hoch. Ner’zhul spürte, wie Hoffnung in ihm aufstieg, und er bedeutete dem Todesritter eifrig, vor ihn zu treten. Blutschatten ging zum Thron, holte alle Gegenstände aus dem Beutel und legte sie in den Schoß seines Herrschers.
Ner’zhul sah sie an und nahm jedes einzelne Artefakt in die Hand, um es zu bewundern. Ein großes, schweres Buch, dessen roter Titel in Messing geschlagen und mit dem Bild eines fliegenden Raben geschmückt war. Ein Kristall von der Größe eines Menschenschädels, dessen Zentrum wie ein Stern in tiefstem Violett leuchtete. Und ein langes, dünnes Zepter, aus Silber und Holz gefertigt, mit einem großen Edelstein, der an der Spitze glitzerte.
„Ja“, flüsterte Ner’zhul und legte seine Hände auf die drei Artefakte. Er konnte die Macht spüren, die sie durchströmte. Eine immense Macht. Ausreichend, um den Raum zwischen den Welten aufzureißen. „Ja, damit werden wir neue Portale erschaffen. Wir werden die Horde retten. Wir müssen sofort mit der Arbeit beginnen! Es dauert einige Zeit, um einen Spruch dieser Stärke zu wirken, und es erfordert äußerste Präzision.“ Er lächelte. „Aber mit diesen drei Gegenständen können wir nicht versagen.“
Blutschatten verneigte sich. „Ich habe dir ja gesagt, dass es funktioniert“, erinnerte er Ner’zhul. Er trat einen Schritt zurück und wandte sich dem Menschen zu, den er mitgebracht hatte.
„Ohne die Hilfe der schwarzen Drachen hätten wir die Artefakte nicht bekommen können. Todesschwinge ist ihr Vater und Anführer.“
Todesschwinge! Ner’zhuls Hände verkrampften sich um die Lehnen seines Throns. Totenschädel, Todesritter... und jetzt stand vor ihm das mächtigste Wesen, das je nach dem Tod benannt worden war...
Ner’zhul konnte die wahre Form des Drachen erkennen, die seine menschliche Gestalt wie Rauchschwaden umgab, und er zitterte innerlich. Todesschwinge lächelte, aber es lag keine Wärme darin, und er verneigte sich ein wenig spöttisch. Ner’zhul versuchte seinen rasenden Puls zu beruhigen. Davon hatte er ebenfalls geträumt – vom Schatten des Todes.
„Er hat uns aus freien Stücken die Hilfe seiner Kinder angeboten. Als Gegenleistung gewährten wir ihm und den Seinen mit ihrer Fracht freien Durchgang durch das Portal“, sagte Blutschatten.
„Fracht?“ Ner’zhul hatte die Sprache wiedergefunden. Aber er war unangenehm überrascht, wie schrill seine Stimme in seinen Ohren klang. „Was für eine Fracht?“
„Nichts, worüber du dir Sorgen machen musst“, antwortete Todesschwinge mit glatter, kühler Stimme. Sie enthielt eine unterschwellige Drohung. Die Fackeln flackerten, als wäre Wind aufgekommen, und der Schatten des Drachen breitete sich aus und erfüllte den Raum.