„Gehen wir tiefer; das will ich aus der Nähe sehen“, sagte Ross.
Eine halbe Stunde lang kreiste er über den Schiffen. Mit manchem nahm er Verbindung auf, aber meist starrte er nur verzaubert hinunter und beobachtete die Kreuzer, die sogar gleichmäßig in den Wellen zu schaukeln schienen. Eigentlich war er, Ross, verantworten dafür, daß diese Flotte existierte; und bei dem Gedanken schwindelte ihm.
Auch dieser zweite Tag war voller erregender Abenteuer, aber Ross’ Freude wurde durch eine wachsende Unruhe getrübt. Er wollte wieder an die Arbeit, aber „Schwester“ ließ es nicht zu. Wenn er den Forschungsmaschinen Instruktionen gab, widerrief Schwester seine Befehle. Und wenn er die Berichte durchsehen wollte, hielt der Pflegeroboter ihn auch davon ab, mit der Erklärung, er sei auf Urlaub.
Bisher hatte ihn „Schwester“ entweder als Patient behandelt und überhaupt nicht auf seine Anweisungen geachtet oder als Herrn und Meister betrachtet, dem man unbedingt Gehorsam leisten mußte. Nun aber schien der Roboter eine dritte Möglichkeit entwickelt zu haben. Manches befolgte er, anderes redete er Ross aus. Ein Verdacht stieg in Ross auf.
„Wie ist das,,Schwester’, irgend etwas mit dir scheint mir nicht in Ordnung. Du hast deinen Erinnerungsspeicher nicht auf die Reise mitgenommen. Werden dadurch deine Entschlüsse beeinträchtigt?“
„Keineswegs“, entgegnete der Roboter ruhig. Da er keine Gefühle kannte, verletzte ihn die unverhohlene Kritik nicht. „Seit zehntausend Jahren brauche ich den Speicher nicht mehr. Wir haben eine Verkleinerungsmethode entwickelt, die es uns erlaubt, sämtliches gespeicherte Wissen in unserem Innern mit herumzutragen.“.
Zwei Wochen lang faulenzte Ross. Er schwamm und ließ sich an sämtlichen berühmten Küsten der Welt braun brennen, bis „Schwester“ ihm durch die Blume mitteilte, daß er wieder völlig hergestellt sei. Der Pflegeroboter sagte: „Die Forschungsberichte werden im Krankenhaus aufbewahrt, Sir. Möchten Sie zurückkehren?“
Erholt ging Ross an die Arbeit zurück.
Er gönnte sich nur wenig Freizeit — gelegentlich ein kühles Bad oder einen Spaziergang im Tal. Den Rest seiner Zeit verbrachte er damit, einen riesigen Kontrollraum zu bauen, aus dem man die See überblicken konnte. Er sah sich die Filme an, die von den Forschungs-U-Booten aufgenommen worden waren, betrachtete die von atmosphärischen Störungen entstellten Bilder der Mondberge und versuchte, sich auf den jetzigen Stand des Wissens zu bringen, den die Roboter während seines Tiefschlafes erarbeitet hatten.
Die Landflächen der Erde waren gründlich erforscht worden, und es blieben nur noch wenig hundert Quadratkilometer, um die Pole zu untersuchen. Eintausendsiebenhundertachtundfünfzig unterirdische Anlagen waren gefunden und überprüft worden. Hierbei handelte es sich um Raketenabschußbasen, Krankenhäuser, unterirdische Städte, private Bunker und zu Schutzzwecken umgebaute Bergwerksschächte.
Unter den Meeren waren bisher zweiundsiebzig Anlagen des Heeres und der Marine aufgefunden worden, aber zwei Drittel des Pazifik und der größte Teil des Indischen und des Südatlantischen Ozeans mußten noch abgegrast werden. Auf dem Mond hatten die Roboter drei Stützpunkte festgestellt, aber keine dieser Festungen hatte den ferngesteuerten Raketen standgehalten.
Die Suchaktion hatte große Mengen brauchbaren Metalls zutage gefördert, die sichergestellt worden waren, ebenso zahlreiche Roboter und andere Maschinen, die nicht mit Elektronengehirnen ausgestattet waren. Millionen von Büchern und technischen Zeichnungen waren von den Fotozellen der Roboter abgetastet worden. Andere Maschinen hatten dieses Wissen registriert und eigens hierfür Speicher angelegt, aus denen es jederzeit entnommen werden konnte. Hierdurch waren die Roboter anpassungsfähiger geworden und hatten mehr Entschlußkraft entwickelt. Wenn Ross jetzt einen Befehl nur zum Teil aussprach, gehorchten ihm die Maschinen schon, und sie begriffen erstaunlich schnell, was er von ihnen wollte.
Zweifellos hatten sie große Fortschritte gemacht. Aber es gab auch eine negative Seite der Forschungsberichte.
Nirgendwo waren Menschen oder Tiere gefunden worden. Weder Vögel noch Würmer, noch Insekten. Selbst in den Ozeanen gab es keine Spur tierischen Lebens.
Jetzt haßte Ross das Gras, das er aus seinem Kontrollraum sehen konnte. Außer ihm gab es nur Gras auf der Welt — er und die Gräser waren die einzigen Lebewesen. Und sein Tiefschlaf hatte ihm lediglich zu einer gefüllten Speisekammer verholfen.
Ross wanderte von nun an öfter als sonst ins Tal hinunter und warf sich ins Gras, jedesmal an einer anderen Stelle. Stundenlang lag er da und wartete darauf, daß irgend etwas über seine Hand kriechen würde — eine Spinne, ein Ohrwurm oder ein Marienkäfer. Er unterhielt sich immer weniger mit den Robotern, und das beunruhigte „Schwester“ sehr. Der Pflegeroboter versuchte ständig, ihn auf andere Gedanken zu bringen, und eines Tages hatte er auch Erfolg damit.
„Einer der Roboter, die wir in den Bunkern fanden, Sir, ist Schneider“, sagte „Schwester“ fröhlich, als Ross gerade zu einem seiner ziellosen Spaziergänge aufbrechen wollte. „Ich könnte mir denken, daß Sie gern etwas Praktischeres als Bettücher tragen würden.“
Drei Stunden später zog Ross seit vierzigtausend Jahren zum erstenmal wieder einen anständigen Anzug an Als er sich in der weißen Tropenuniform eines Kapitäns zur See vor dem Spiegel bewunderte, freute sich Ross darüber, daß der weiße Stoff seine Bräune so gut zur Geltung brachte. So hätte ihn Alice sehen sollen!
„Dieser Anzug ist auch aus Betttüchern gemacht“, sagte er, um seine unangenehmen Gedanken zu verscheuchen. „Färbt das Zeug! Und wenn die Jacke schon einen offenen Kragen hat, denn brauche ich auch ein Hemd und eine Krawatte, sonst wirke ich lächerlich.“
„Jawohl, Sir“, sagten der Schneiderrobot, der aus einem Marinestützpunkt stammte, und „Schwester“ wie aus einem Lautsprecher. Dann zog sich der Schneider zurück.
„Haben Sie sonst noch Wünsche?“ fragte „Schwester“.
Ross schwieg eine Zeitlang. Dann sagte er: „Ich habe die Nase voll; ich langweile mich hier. Ich will zum Mond.“
„Tut mir leid, Sir“, sagte „Schwester“ und erklärte lang und breit, daß ein menschlicher Körper dem Andruck nicht gewachsen sei, daß ihn die Strahlung, die vom Schiffsantrieb ausging, binnen weniger Stunden töten würde, und daß es noch weitere Gefahren gäbe — wie zum Beispiel kosmische Strahlung und Meteorschwärme -, vor denen man ihn nicht schützen könne. Für den letzten Überlebenden der Erde war eine Raumreise zu gefährlich.
„Wenn das so ist“, sagte Ross vorsichtig, „würde ich vielleicht ganz gern wieder schlafen.“
„Wie lange, Sir?“
Am liebsten hätte er geantwortet: für immer! Aber das durfte er nicht, denn „Schwester“ hätte ihn sofort wie einen Nervenkranken behandelt. Er hatte eine gute Ausrede dafür, daß er sich wieder in Tiefschlaf versetzen lassen wollte. Die Idee war ihm während einer der vielen Stunden gekommen, die er unten im Tal verbracht hatte, voller Erwartung, daß sich ein Lebewesen zeigen würde, und voller Verzweiflung darüber, daß er mit dem Gras allein auf der Welt war.
Er sagte daher: „Die Hoffnung, Menschen zu finden, habe ich aufgegeben. Es wäre kindisch, jetzt noch darauf zu bauen, daß sich irgend jemand durch Tiefschlaf hat retten können. Ich muß alles daransetzen, auf diesem Planeten wieder intelligente Organismen ins Leben zu rufen. Und zu diesem Zweck müssen wir im Meer aussäen. Das Leben nahm seinen Ursprung im Meer, und vielleicht wiederholt sich dieser Vorgang. Die einzigen Organismen, die mir zur Verfügung stehen, sind Gräser. Deshalb ordne ich folgendes an: Es werden Halme gesammelt, die auf Moorboden wachsen. Dann legt ihr Versuchsfelder an und vergrößert die Wasserzufuhr ständig, bis die Halme unter Wasser gedeihen. Ist das erreicht, so ersetzt ihr das Süßwasser nach und nach durch Salzwasser, den Boden durch Sand, und endlich pflanzt ihr die Halme an seichten Stellen des Ozeans an. Ich weiß, daß ich versuche, die Entwicklung vom Ende her abzuspulen, aber die Möglichkeit besteht, daß sich aus dem Gras Algen, aus ihnen Urtierchen und endlich intelligente Organismen entwickeln. Hast du meine Instruktionen verstanden?“