Выбрать главу

Dreißig Minuten später kehrte Napoleon Chotas allein in den Gerichtssaal zurück. In dem Augenblick, als er durch die Tür des Beratungszimmers trat, spürte jeder im Saal, dass sich etwas Wichtiges ereignet hatte. Das Gesicht des Anwalts zeigte eine geheimnisvolle Zufriedenheit, sein Gang war schneller und elastischer, als ob eine Scharade zu Ende wäre und es nicht mehr nötig sei, das Spiel mitzumachen. Chotas kam zur Anklagebank herüber und sah auf Noelle hinab. Sie blickte auf, ihre tiefblauen Augen waren forschend und angstvoll. Und ein plötzliches Lächeln erschien auf den Lippen des Anwalts, und an dem Licht in seinen Augen erkannte Noelle, dass er es irgendwie geschafft hatte, dass es ihm trotz aller belastenden Beweise, trotz aller Widrigkeiten gelungen war, das Wunder zu bewirken. Das Recht hatte triumphiert, aber es war das Recht von Constantin Demiris. Auch Larry Douglas blickte starr auf Chotas, von Angst und Hoffnung erfüllt. Doch was Chotas auch vollbracht hatte, es war für Noelle. Aber was wurde mit ihm?

Chotas wandte sich mit bedacht unbeteiligter Stimme an Noelle. »Der Gerichtspräsident hat mir erlaubt, mit Ihnen in seinem Zimmer zu sprechen.« Dann wandte er sich an Frederick Stavros, der in quälender Unsicherheit dasaß, weil er nicht wusste, was vorging. »Sie und Ihr Klient haben die Erlaubnis, sich uns anzuschließen, wenn Sie es wünschen.«

Stavros nickte. »Selbstverständlich.« Er erhob sich rasch und warf dabei in seinem Übereifer beinahe seinen Sessel um.

Zwei Aufseher begleiteten sie in das leere Zimmer des Gerichtspräsidenten. Nachdem die Aufseher sie verlassen hatten und sie allein waren, wandte Chotas sich an Frederick Stavros. »Was ich zu sagen habe«, begann er ruhig, »liegt im Interesse meiner Klientin. Weil die beiden jedoch gemeinsam angeklagt sind, konnte ich durchsetzen, dass Ihrem Klienten die gleichen Zugeständnisse gemacht werden wie der meinen.«

»Sprechen Sie doch!« drängte Noelle ungeduldig.

Chotas wandte sich ihr zu. Er sprach langsam und wählte seine Worte sehr sorgfältig. »Ich habe gerade mit den Richtern beraten«, sagte er. »Sie sind sehr beeindruckt von dem Belastungsmaterial, das die Anklage gegen Sie vorgebracht hat. Jedoch« – er ließ eine kleine Pause eintreten -, »ich konnte sie – hm – davon überzeugen, dass dem Interesse der Gerechtigkeit nicht gedient wird, wenn man Sie verurteilt.«

»Was wird geschehen?« fragte Stavros in fieberhafter Ungeduld.

Der Ton tiefer Befriedigung schwang in Chotas Stimme mit, als er fort fuhr: »Wenn die Angeklagten bereit sind, ihre Erklärung zu ändern und sich schuldig zu bekennen, haben die Richter eingewilligt, jeden von Ihnen zu fünf Jahren zu verurteilen.« Er lächelte und fügte hinzu: »Vier Jahre werden Ihnen davon erlassen werden. In Wirklichkeit brauchen Sie nicht mehr als sechs Monate zu verbüßen.« Er wandte sich an Larry. »Weil Sie Amerikaner sind, werden Sie ausgewiesen. Es wird Ihnen nicht erlaubt, jemals nach Griechenland zurückzukehren.«

Larry nickte. Er spürte die Erleichterung, die ihn überflutete, geradezu körperlich.

Chotas wandte sich wieder Noelle zu. »Das war keineswegs leicht zu erreichen. Ich muss Ihnen in aller Offenheit sagen, dass der primäre Grund für die Nachsicht des Gerichts das Interesse Ihres – hm – Beschützers ist. Die Richter sind der Ansicht, dass er durch die ganze Publizität bereits unbillig zu leiden hatte, und sind sehr darauf bedacht, dass das ein Ende findet.«

»Ich verstehe«, sagte Noelle.

Napoleon Chotas zögerte verlegen. »Es wird jedoch noch eine weitere Bedingung gestellt.«

Noelle sah ihn an. »Ja?«

»Ihr Pass wird eingezogen. Es wird Ihnen nie mehr erlaubt, Griechenland zu verlassen. Sie werden unter dem Schutz Ihres Freundes hier bleiben.«

Constantin Demiris hatte sein Wort gehalten. Noelle glaubte keinen Augenblick, dass die Richter nachsichtig waren, weil sie sich über die unerfreuliche Publizität, der Demiris ausgesetzt war, Gedanken machten. Nein, er hatte für ihre Freiheit einen Preis zahlen müssen, und Noelle wusste, dass er beträchtlich gewesen sein musste. Doch als Gegenleistung bekam Demiris sie zurück und hatte Vorsorge getroffen, dass sie ihn nie mehr verlassen oder Larry wieder sehen konnte. Sie drehte sich zu Larry um und las die Erleichterung von seinem Gesicht ab. Er würde freigelassen werden, das war alles, was für, ihn zählte. Da war kein Bedauern darüber, dass er sie verlor, oder über das, was geschehen war. Aber Noelle verstand, weil sie Larry verstand, denn er war ihr anderes Ich, ihr Doppelgänger, und sie waren beide von der gleichen Lebensgier besessen, dem gleichen unstillbaren Hunger. Sie waren verwandte Seelen über den Tod hinaus, über die Gesetze hinaus, die sie nicht gemacht und nach denen sie nie gelebt hatten. Auf ihre Weise würde Noelle Larry sehr vermissen, und wenn er ging, würde ein Teil ihrer selbst mit ihm gehen. Doch sie wusste jetzt, wie kostbar ihr Leben für sie war und welch wahnsinnige Angst sie erfüllte, es zu verlieren. Wenn sie alles gegeneinander abwog, war es ein gutes Geschäft, und sie nahm es dankbar an. Sie wandte sich an Chotas und sagte: »Ich bin einverstanden.«

Chotas blickte sie an, und in seinen Augen lag sowohl Trauer wie Befriedigung. Auch das verstand Noelle. Er liebte sie und hatte sein ganzes Können einsetzen müssen, um sie für einen anderen Mann zu retten. Noelle hatte Chotas bewusst ermutigt, sich in sie zu verlieben, weil sie ihn brauchte, ihn brauchte, um sicher zu sein, dass er vor nichts zurückschrecken würde, um sie zu retten. Und alles hatte sich bewährt.

»Ich finde es absolut wunderbar«, stammelte Frederick Stavros. Stavros hielt es wirklich für ein Wunder. Es war fast so gut wie ein Freispruch, und wenn es auch zutraf, dass Napoleon Chotas den größten Teil des Gewinns für sich einstreichen würde, so musste der Abfall am Rande immer noch ungeheuer sein. Von diesem Augenblick an konnte Stavros sich seine Klienten aussuchen, und jedes Mal, wenn er die Geschichte dieses Prozesses erzählte, würde seine Rolle größer und größer werden.

»Hört sich wie ein gutes Geschäft an«, sagte Larry. »Der einzige schwache Punkt ist, dass wir nicht schuldig sind. Wir haben Catherine nicht getötet.«

Frederick Stavros drehte sich wütend zu ihm um. »Wen interessiert das schon, ob Sie schuldig sind oder nicht?« schrie er. »Wir schenken Ihnen das Leben.« Er warf Chotas einen raschen Blick zu, um zu sehen, wie er auf das »wir« reagierte, aber der Anwalt hörte nur zu. Seine Haltung war die einer unbeteiligten Neutralität.

»Ich möchte eines klarmachen«, sagte Chotas zu Stavros, »ich berate nur meine Klientin. Ihrem Klienten steht es frei, seine eigene Entscheidung zu treffen.«

»Was würde aus uns ohne diese Vereinbarung werden?« fragte Larry.

»Die Geschworenen hätten«, begann Frederick Stavros.

»Ich will es von ihm hören«, unterbrach Larry schroff. Er wandte sich Chotas zu.

»In einem Prozess«, erwiderte Chotas, »ist der wichtigste Faktor nicht die Schuld oder Unschuld, sondern der Eindruck von der Unschuld oder Schuld. Es gibt keine absolute Wahrheit, sondern nur eine Interpretation der Wahrheit. In diesem Fall spielt es keine Rolle, ob Sie an dem Mord nicht schuldig sind, die Geschworenen haben den Eindruck, dass Sie schuldig sind. Deswegen wären Sie verurteilt worden, und deswegen würden Sie letzten Endes genauso tot sein.«

Larry sah ihn lange an, dann nickte er. »Also gut«, sagte er. »Bringen wir es hinter uns.«

Fünfzehn Minuten später standen die beiden Angeklagten vor dem Richtertisch. Der Gerichtspräsident saß in der Mitte, flankiert von seinen beiden Beisitzern. Napoleon Chotas stand neben Noelle Page, und Frederick Stavros stand an der Seite von Larry Douglas. Der Gerichtssaal war von einer elektrischen Spannung geladen, denn es hatte sich im Saal herumgesprochen, dass eine dramatische Wendung bevorstehe. Doch als sie kam, wurde jeder davon völlig unvorbereitet überrascht. In förmlichem, pedantischem Ton, als hätte er gerade ein geheimes Abkommen mit den drei Juristen hinter dem Richtertisch abgeschlossen, sagte Napoleon Chotas: »Herr Präsident, Euer Ehren, meine Klientin wünscht, ihr Bekenntnis von nicht schuldig in schuldig abzuändern.«