Noelle war von dem, was sich da ereignet hatte, weder schockiert noch aus der Fassung gebracht. Sie kannte einfach den Unterschied zwischen einer Kurtisane und einer Hure. Huren veränderten den Gang der Geschichte nicht; Kurtisanen konnten dies. Inzwischen war sie ohne einen Sou. Sie musste einen Weg finden, sich über Wasser zu halten, bis sie morgen eine Stelle finden konnte. Die Dämmerung begann den Himmel zu streifen, und die Geschäftsleute und Hotelportiers waren eifrig damit beschäftigt, die Verdunkelungsrollos gegen mögliche Luftangriffe herunterzuziehen. Um ihr unmittelbares Problem zu lösen, musste Noelle jemanden finden, der ihr ein gutes warmes Abendbrot spendierte. Sie fragte einen Gendarm nach dem Weg und steuerte dann aufs Hotel Crillon zu. Außen bedeckten abstoßende eiserne Rollläden die Fenster, aber die Halle innen war ein Meisterstück gedämpfter Eleganz, gemütlich und unauffällig. Noelle ging selbstsicher hinein, als ob sie da hingehörte, und nahm in einem Sessel gegenüber dem Aufzug Platz. Sie hatte so etwas noch nie gemacht und war ein bisschen nervös. Aber sie erinnerte sich, wie leicht es gewesen war, mit Auguste Lanchon umzugehen. Die Männer waren wirklich sehr unkompliziert. Es gab nur eine Lehre, die ein Mädchen zu beherzigen hatte: Ein Mann war weich, wenn er hart war, und hart, wenn er weich war. Man musste also nur dafür sorgen, dass er hart blieb, bis er einem gab, was man haben wollte. Und als Noelle sich in der Halle umblickte, kam sie zu dem Schluss, dass es ein leichtes sein würde, die Aufmerksamkeit eines einsamen Mannes auf sich zu ziehen, der vielleicht gerade auf dem Weg zum Abendessen war. »Pardon, Mademoiselle.«
Noelle wandte den Kopf und blickte zu einem großen Mann in einem dunklen Anzug auf. Sie hatte noch nie in ihrem Leben einen Detektiv gesehen, aber hier hatte sie gar keinen Zweifel.
»Warten Mademoiselle auf jemanden?«
»Ja«, erwiderte Noelle und versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten. »Ich warte auf einen Freund.«
Plötzlich war sie sich ihres zerknitterten Kleides und des Fehlens einer Handtasche heftig bewusst.
»Ist Ihr Freund ein Hotelgast?«
Sie bekam es plötzlich mit der Angst zu tun. »Er – äh – nicht eigentlich.«
Er sah Noelle einen Augenblick prüfend an und sagte dann in scharfem Ton: »Kann ich Ihren Ausweis sehen?«
»Ich – ich habe ihn nicht bei mir«, stammelte sie.
Der Detektiv sagte: »Würden Mademoiselle bitte mitkommen?« Er packte sie fest am Arm, und sie stand auf.
In diesem Augenblick nahm jemand ihren anderen Arm und sagte: »Entschuldige, dass ich mich verspätet habe, Cherie, aber du kennst ja diese verdammten Cocktailparties. Man muss sich mit Gewalt losreißen. Hast du lange gewartet?«
Noelle fuhr erstaunt zu dem Sprecher herum. Es war ein großer hagerer, zäh wirkender Mann, der eine ausländische, ungewohnte Uniform trug. Er hatte blauschwarzes Haar, und die Farbe seiner Augen war wie eine dunkle, stürmische See, dazu lange, dichte Wimpern. Seine Gesichtszüge glichen dem Bildnis auf einer alten florentinischen Münze. Es war ein unregelmäßiges Gesicht, dessen beide Hälften nicht ganz zusammenpassten, als ob die Hand des Prägers einen Augenblick ausgerutscht wäre. Ein außerordentlich lebhaftes und veränderliches Gesicht; man hatte den Eindruck, es sei bereit zu lächeln, zu lachen, sich zu verfinstern. Das einzige, was es davor bewahrte, weibisch schön zu sein, war ein kräftiges, maskulines Kinn mit einem tiefen Spalt.
Er machte eine Bewegung zum Detektiv hin. »Hat dieser Mann dich belästigt?« Seine Stimme klang tief, und er sprach französisch mit einem ganz leichten Akzent.
»N-nein«, antwortete Noelle verwirrt.
»Verzeihung, Sir«, sagte der Hoteldetektiv. »Ein Missverständnis. Wir haben seit einiger Zeit hier Ärger mit...« Er wandte sich an Noelle. »Entschuldigen Sie bitte, Mademoisel-le.«
Der Fremde drehte sich zu Noelle um. »Nun, ich weiß nicht. Was meinst du?«
Noelle schluckte und nickte schnell.
Der Mann sah den Detektiv an. »Mademoiselle ist großzügig. Aber seien Sie in Zukunft vorsichtig.« Er nahm Noelles Arm, und sie gingen auf die Tür zu.
Als sie auf die Straße traten, sagte Noelle: »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Monsieur.«
»Ich konnte Polizisten nie leiden.« Der Fremde grinste. »Soll ich Ihnen eine Taxe besorgen?«
Noelle starrte ihn an, und wieder stieg panischer Schrecken in ihr hoch, als sie sich ihre Lage vergegenwärtigte. »Nein.«
»Schön. Gute Nacht.« Er ging zum Stand hinüber und wollte in eine Taxe steigen, blickte sich noch einmal um und sah sie angewurzelt dastehen und ihm nachblicken. Im Hoteleingang stand der Detektiv. Der Fremde zögerte, dann ging er zu Noelle zurück. »Verschwinden Sie lieber hier«, riet er ihr, »unser
Freund interessiert sich immer noch für Sie.«
»Ich weiß nicht, wo ich hingehen soll«, erwiderte sie.
Er nickte und fasste in die Tasche.
»Ich möchte Ihr Geld nicht«, sagte sie schnell.
Er sah sie erstaunt an. »Was wollen Sie dann?« fragte er.
»Mit Ihnen Abendbrot essen.«
Er lächelte und sagte: »Tut mir leid, ich habe eine Verabredung und bin schon zu spät dran.«
»Dann gehen Sie nur«, sagte sie. »Ich werde mich schon zurechtfinden.«
Er schob die Noten in die Tasche zurück. »Wie Sie meinen, Schätzchen«, sagte er. »Au Voir.« Er drehte sich um und ging wieder zu der Taxe zurück. Noelle sah ihm nach und fragte sich, was mit ihr nicht stimmte. Sie wusste, sie hatte sich dumm benommen, aber sie wusste auch, dass sie nicht anders hätte handeln können. Vom ersten Augenblick hatte sie etwas nie zuvor Empfundenes gefühlt, eine so starke Welle der Erregung, dass sie sie beinahe hätte berühren können. Sie kannte nicht einmal seinen Namen und würde ihn wahrscheinlich nie mehr wieder sehen. Noelle warf einen verstohlenen Blick zum Hotel hinüber und sah den Detektiv entschlossen auf sich zukommen. Es war ihre eigene Schuld. Diesmal würde sie sich nicht herausreden können. Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter, und als sie sich umdrehte, um zu sehen, wer es war, hakte der Fremde sie unter und zog sie zum Taxi hin, öffnete schnell die Tür und stieg neben ihr ein. Er nannte dem Fahrer eine Adresse. Der am Rinnstein stehende Detektiv starrte dem davonfahrenden Taxi nach.
»Was ist mit Ihrer Verabredung?« fragte Noelle.
»Es ist eine Party«, sagte er schulterzuckend. »Einer mehr oder weniger spielt keine Rolle. Ich heiße Larry Douglas. Wie heißen Sie?«
»Noelle Page.«
»Wo kommen Sie her, Noelle?«
Sie blickte ihn an, sah ihm in die leuchtend-dunklen Augen und antwortete: »Antibes. Ich bin die Tochter eines Prinzen.«
Er lachte, entblößte seine ebenmäßigen Zähne.
»Das ist aber nett, Prinzessin«, sagte er.
»Sind Sie Engländer?«
»Amerikaner.«
Sie musterte seine Uniform. »Amerika ist nicht im Krieg.«
»Ich bin in der britischen RAF«, erklärte er. »Sie hat soeben eine Kampfgruppe amerikanischer Flieger aufgestellt. Sie nennt sich Adler-Staffel.«
»Aber warum kämpfen Sie für England?«
»Weil England für uns kämpft«, sagte er. »Wir wissen es bloß noch nicht.«
Noelle schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Hitler ist ein Boche-Clown.«
»Vielleicht. Aber ein Clown, der weiß, was die Deutschen wollen: die Welt beherrschen.«
Noelle hörte fasziniert zu, als Larry über Hitlers Strategie sprach, den plötzlichen Austritt aus dem Völkerbund, den gemeinsamen Verteidigungspakt mit Japan und Italien. Sie war nicht fasziniert von dem, was er sagte, sondern von seinem Gesicht, dessen Anblick sie genoss, während er sprach. Seine dunklen Augen blitzten vor Begeisterung, leuchteten von einer überwältigenden, unwiderstehlichen Vitalität.