»Was?«
»Nichts.« Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich verstehe Sie nicht.«
Sie lächelte leise. »Nein. Sie verstehen mich nicht.«
Er stand einen Augenblick da und überlegte.
»Na gut, ich stecke meinen Hals in die Schlinge für Sie, aber wenn Sie wirklich entschlossen sind abzutreiben, dann kriegen wir's hinter uns. Ich habe einen befreundeten Kollegen, der mir eine Gefälligkeit schuldet. Ich werde ...«
»Nein.«
Er starrte sie an.
»Larry ist noch nicht bereit«, sagte sie.
Drei Wochen später wurde Israel um vier Uhr morgens von einem wütenden Donnern des Concierge an seiner Tür geweckt. »Telefon, Monsieur Nachteule!« brüllte er. »Und sagen Sie dem Anrufer, es sei mitten in der Nacht, wo ehrbare
Leute schlafen!«
Israel stolperte aus dem Bett und ging noch halb schlafend in die Halle zum Telefon hinunter, fragte sich dabei, was für eine Krise das jetzt wieder war. Er hob den Hörer.
»Israel...«
Er erkannte die Stimme am anderen Ende nicht.
»Ja?«
»Jetzt ...«Es war ein Flüstern, geisterhaft anonym.
»Wer ist da?«
»Jetzt. Kommen Sie jetzt, Israel...«
Es lag etwas so Unheimliches, Schauerliches in der Stimme, dass es ihm kalt den Rücken hinunterlief. »Noelle?«
»Jetzt...«
»Zum Donnerwetter!« platzte er heraus. »Ich mach' es nicht. Es ist zu spät. Sie werden sterben, und ich will nicht verantwortlich dafür sein. Lassen Sie sich in ein Krankenhaus bringen.«
In seinem Ohr erklang ein Knacken, und er stand da, den Hörer in der Hand. Er warf den Hörer auf und ging in sein Zimmer zurück, seine Gedanken rasten. Er wusste, dass er nichts mehr tun konnte. Niemand könnte etwas tun. Sie war fünfeinhalb Monate schwanger. Er hatte sie immer und immer wieder gewarnt, aber sie wollte nicht hören. Nun, es war ihre Sache. Er wollte nichts damit zu tun haben.
Er zog sich mit fliegenden Händen an, kalt vor Angst.
Als Israel Katz in ihre Wohnung trat, lag Noelle in einer Blutlache auf dem Boden. Ihr Gesicht war leichenblass, wies aber keine Anzeichen der rasenden Schmerzen auf, die ihren Körper gemartert haben mussten. Anscheinend trug sie ein Hochzeitskleid. Israel kniete sich neben sie. »Was ist passiert?« fragte er. »Wie kam —?« Er hielt inne, als sein Blick auf einen blutigen, verbogenen Drahtkleiderbügel neben ihren Füßen fiel.
»Um Gottes willen!« Maßlose Wut und gleichzeitig ein enttäuschendes Gefühl der Hilflosigkeit packten ihn. Das Blut sprudelte jetzt schneller, es war kein Augenblick zu verlieren.
»Ich hole einen Krankenwagen«, und er stand auf.
Noelle langte nach ihm, umklammerte seinen Arm mit erstaunlicher Kraft und zog ihn zu sich herunter.
»Larrys Kind ist tot«, sagte sie, und ihr Gesicht hellte sich zu einem wunderbaren Lächeln auf.
Ein Team von sechs Ärzten mühte sich fünf Stunden ab, Noelles Leben zu retten. Die Diagnose lautete Blutvergiftung, perforierte Gebärmutter und Schock. Alle Doktoren waren sich einig, dass sie kaum Überlebenschancen hatte. Um sechs Uhr an jenem Abend war Noelle außer Gefahr, und zwei Tage später saß sie aufrecht im Bett und konnte schon sprechen. Israel besuchte sie.
»Alle Ärzte sagen, es sei ein Wunder, dass Sie noch leben, Noelle.«
Sie schüttelte den Kopf. Es war einfach noch nicht Zeit für sie zu sterben. Sie hatte ihre erste Rache an Larry genommen, aber das war nur der Anfang. Es würde noch mehr kommen. Viel mehr. Zuerst jedoch musste sie ihn finden. Das brauchte Zeit. Aber sie würde es tun.
Catherine
Chicago 1939-1940
Die immer heftiger über Europa stürmenden Winde des Krieges schwächten sich an den Küsten der Vereinigten Staaten zu einem sanften, warnenden Lüftchen ab.
Im Northwestern Campus traten ein paar Jungen mehr in das ROTC1 ein; auf Studenten-Kundgebungen wurde Präsident Roosevelt aufgefordert, Deutschland den Krieg zu erklären, und ein paar ältere Semester meldeten sich freiwillig zur Armee. Im allgemeinen verharrte man jedoch in Selbstgefälligkeit, und die untergründige Welle, die bald das Land überfluten sollte, war noch kaum bemerkbar.
Als Catherine Alexander an jenem Oktobernachmittag zum Roost ging, um ihren Kassiererinnendienst anzutreten, fragte sie sich, ob der Krieg, wenn er käme, ihr Leben verändern würde. Sie kannte eine Veränderung, die sie selbst vornehmen musste, und sie war entschlossen, dies so schnell wie möglich zu tun. Sie wollte jetzt unbedingt wissen, wie es war, in den Armen eines Mannes zu liegen und geliebt zu werden, und sie wusste, dass sie es teils aus einem physischen Bedürfnis heraus wollte, aber auch, weil sie glaubte, eine wichtige und wundervolle Erfahrung zu versäumen. Mein Gott, wenn sie durch einen Autounfall umkäme und man bei einer Autopsie feststellte, dass sie noch Jungfrau war! Nein, da musste etwas geschehen. Gleich. Jetzt.
Catherine blickte sich im Roost vorsichtig um, sah aber das Gesicht, das sie suchte, nicht. Als Ron Peterson eine Stunde später mit Jean-Anne hereinkam, spürte Catherine, wie ihr ganzer Körper kribbelte und ihr Herz zu klopfen begann. Sie wandte sich ab, als die beiden an ihr vorübergingen, und sah aus dem Augenwinkel, dass sie auf Rons Nische zusteuerte und sich setzten. Überall im Raum hingen Werbesprüche. »PROBIEREN SIE UNSEREN DOPPELTEN SPEZIAL HAMBURGER« ... »KOSTEN SIE UNSER LOVER's DELIGHT« ... »VERSUCHEN SIE UNSER DREIFACH GEBRAUTES MALZBIER«.
Catherine holte tief Atem und ging zu der Nische hinüber. Ron Peterson sah die Speisekarte durch und versuchte, sich für etwas zu entscheiden. »Ich weiß nicht, was ich will«, sagte er.
»Wie hungrig bist du?« fragte Jean-Anne.
»Ich sterbe vor Hunger.«
»Dann versuch das.« Beide blickten überrascht auf. Catherine stand neben der Nische. Sie reichte Ron Peterson einen gefalteten Zettel, drehte sich um und ging zu ihrer Registrierkasse zurück.
Ron entfaltete den Zettel, las ihn und brach in Lachen aus. Jean-Anne betrachtete ihn kühl.
»Ist es ein Privatwitz, oder kann man auch etwas davon erfahren?«
»Privat«, sagte Ron grinsend und steckte den Zettel in die Tasche.
Ron und Jean-Anne gingen kurz danach. Ron sagte nichts, als er die Rechnung bezahlte, sah Catherine aber lange forschend an, lächelte und ging mit Jean-Anne am Arm hinaus. Catherine sah ihnen nach und kam sich wie eine Idiotin vor. Sie wusste noch nicht einmal, wie man einen erfolgreichen Annäherungsversuch bei einem Jungen machte.
Als ihre Schicht zu Ende war, zog Catherine ihren Mantel an, sagte gute Nacht zu dem Mädchen, das sie ablöste, und ging. Es war ein warmer Herbstabend, eine kühlende Brise wehte vom See her herein. Der Himmel hatte die Farbe purpurroten Samtes, an dem sanft schimmernde Sterne unerreichbar waren. Es war ein idealer Abend für was -? Catherine machte sich in Gedanken eine Liste.
Ich kann nach Hause gehen und mir das Haar waschen.
Ich kann in die Bibliothek gehen und mich auf die Lateinprüfung morgen vorbereiten.
Ich kann ins Kino gehen.
Ich kann mich im Gebüsch verstecken und den ersten vorbeikommenden Matrosen vergewaltigen.
Ich kann mit jemandem anbändeln.
Anbändeln, beschloss sie.
Als sie über den Campus zur Bibliothek ging, trat eine Gestalt hinter einem Laternenpfahl hervor.
»Hallo, Cathy. Wohin?«
Es war Ron Peterson. Er lächelte auf sie hinunter, und Cathe-rines Herz begann zu klopfen, bis es ihr die Brust sprengte. Sie hatte das Gefühl, es mache sich selbständig und hüpfe durch die Luft davon. Sie merkte, dass Ron sie anstarrte. Kein Wunder. Wie viele Mädchen kannte er, die diesen Herztrick zustande brachten? Sie wollte unbedingt ihr Haar kämmen, ihr Make-up auffrischen und ihre Strumpfnähte nachprüfen, trotzdem versuchte sie, ihre Nervosität nicht zu zeigen. Regel Nummer eins: Ruhe behalten.