Catherine war jetzt unabhängig. Je mehr sie über Washington nachdachte, desto aufregender schien es. An jenem Abend rief sie ihren Vater an und sagte ihm, sie wolle von der Uni abgehen und in Washington arbeiten. Er fragte sie, ob sie gerne nach Omaha kommen wolle, aber Catherine spürte das Widerstreben in seiner Stimme. Er wollte nicht, dass sie wie er in die Falle tappte.
Am nächsten Morgen ging Catherine aufs Dekanat für Studentinnen und teilte mit, dass sie von der Uni abgehe. Catherine schickte Susie Roberts ein Telegramm und saß tags darauf im Zug nach Washington, D. C.
Noelle
Paris 1940
Am Sonnabend, dem 14. Juni, marschierte die deutsche 5. Armee in ein niedergeschmettertes Paris ein. Die Maginot-Linie hatte sich als das größte Fiasko in der Kriegsgeschichte herausgestellt, und Frankreich lag verteidigungslos vor einer der mächtigsten Kriegsmaschinen, die die Welt je gekannt hatte.
Der Tag begann mit einer eigentümlichen Wolkendecke, die über der Stadt lag, einer erschreckenden Wolke unbekannten Ursprungs. Während der letzten achtundvierzig Stunden hatten Geräusche eines stoßweise einsetzenden Artilleriefeuers die unnatürliche, eingeschüchterte Stille von Paris unterbrochen. Der Kanonendonner war außerhalb der Stadt, aber der Widerhall drang bis ins Herz von Paris. Es hatte eine Flut von Gerüchten gegeben, die sich wie eine Welle über den Rundfunk, in Zeitungen und von Mund zu Mund ergossen hatte. Die Boches griffen die französische Küste an ... London war zerstört ... Hitler hatte ein Übereinkommen mit der britischen Regierung getroffen ... Die Deutschen würden Paris mit einer tödlichen neuen Bombe ausradieren. Zuerst war jedes Gerücht wie ein Evangelium aufgenommen worden, das seinen eigenen Schrecken erzeugte, aber dauernde Krisen üben schließlich eine einschläfernde Wirkung aus, als ob Geist und Körper, außerstande, noch mehr Schrecken zu absorbieren, sich hinter einen Schutzschild der Apathie zurückzögen. Jetzt waren die Gerüchtemühlen vollständig zum Stillstand gekommen, die Zeitungspressen druckten nicht mehr, und die Rundfunkstationen sendeten nicht mehr. Der menschliche Instinkt war an die Stelle der Maschinen getreten, und die Pariser spürten, dass dies ein Tag der Entscheidung war. Die graue Wolke war ein
Omen.
Und dann schwärmten die deutschen Heuschrecken herein.
Plötzlich war Paris eine Stadt voll ausländischer Uniformen und fremder Menschen, die eine seltsame gutturale Sprache sprachen, die breiten, mit Bäumen gesäumten Avenuen in großen Mercedes-Limousinen mit der Nazi-Flagge entlangfuhren oder sich auf den Bürgersteigen drängten, die jetzt ihnen gehörten.
Innerhalb von vierzehn Tagen hatte sich eine verblüffende Verwandlung vollzogen. Überall tauchten Schilder in Deutsch auf. Denkmäler französischer Helden waren entfernt worden, und das Hakenkreuz flatterte von allen öffentlichen Gebäuden. Deutsche Bemühungen, alles Gallische auszurotten, nahmen lächerliche Ausmaße an. Die Bezeichnungen an Heiß- und Kaltwasserhähnen wurden von chaud und froid in warm und kalt geändert. Die Place de Broglie in Straßburg wurde in Adolf-Hitler-Platz umbenannt.
Die deutschen Besatzungstruppen amüsierten sich. Wenn die französische Küche auch zu schwer und zu saucenreich war, war sie doch eine angenehme Abwechslung von der Kriegsverpflegung. Die Soldaten wussten nicht und es interessierte sie auch nicht, dass Paris die Stadt Baudelaires, Dumas' und Molieres war. Für sie war Paris eine grelle, gierige, übertrieben geschminkte Hure mit empor geschobenen Röcken, und sie nahmen sie, jeder auf seine Weise. Göring und Himmler raubten den Louvre aus und beschlagnahmten die reichen Wohnsitze.
Wenn Korruption und Opportunismus in Frankreichs Krisenzeit an die Oberfläche drangen, dann aber auch der Heroismus. Eine der Geheimwaffen des Untergrunds waren die Pompiers, die Feuerwehr, die in Frankreich der Armee unterstellt ist. Die Deutschen hatten Dutzende von Gebäuden fürs Heer, für die Gestapo und verschiedene Ministerien beschlagnahmt; Standort und Lage dieser Gebäude waren natürlich kein
Geheimnis. In einem Hauptquartier der Resistance in St. Remy brüteten Widerstands-Führer über großen Stadtplänen, auf denen die genaue Lage jedes einzelnen Gebäudes verzeichnet war. Dann wurden Experten bestimmte Ziele zugewiesen, und am folgenden Tag fuhr ein Wagen in schnellem Tempo oder ein unschuldig aussehender Radfahrer an einem der Gebäude vorbei und warf eine selbst gebastelte Bombe durchs Fenster. Bis dahin war der Schaden gering. Das Raffinierte des Planes lag in dem, was dann folgte.
Die Deutschen mobilisierten die Pompiers, das Feuer zu löschen.
Nun gibt es eine feststehende Regel in allen Ländern, dass bei einem Brand die Feuerwehr die alleinige Verantwortung und Aufsicht hat. In Paris war das genauso. Die Pompiers stürzten in das Gebäude, während die Deutschen lammfromm daneben standen und zusahen, wie die mit ihren Hochdruckschläuchen, Äxten und – wenn sie die Möglichkeit hatten – mit ihren eigenen Brandbomben alles Erreichbare zerstörten. Auf diese Weise gelang es der Untergrundbewegung, kostbare in den Festungen der Wehrmacht und der Gestapo verschlossene deutsche Archive zu vernichten. Es dauerte fast sechs Monate, bis das deutsche Oberkommando merkte, was sich hier abspielte, und inzwischen war nicht wieder gutzumachender Schaden angerichtet worden. Die Gestapo konnte nichts beweisen, aber die Mitglieder der Pompiers wurden verhaftet und eingesperrt.
Alles, von den Lebensmitteln bis zur Seife, wurde knapp. Es gab kein Benzin, kein Fleisch, keine Molkereiprodukte. Die Deutschen hatten alles beschlagnahmt. Geschäfte mit Luxuswaren blieben offen, aber ihre einzigen Kunden waren Soldaten, die in Besatzungsgeld bezahlten.
»Wer wird die Noten einlösen?« fragten die französischen Ladenbesitzer jammernd.
Und die Deutschen grinsten: »Die Bank von England.«
Jedoch litten nicht alle Franzosen. Für die mit Geld und Beziehungen gab es immer noch den Schwarzmarkt.
Noelle Pages Leben änderte sich sehr wenig durch die Besetzung. Sie arbeitete als Vorführdame bei Chanel in der Rue Canbon in einem hundertfünfzig Jahre alten Sandsteinhaus, das äußerlich den üblichen Anblick bot, innen jedoch elegant eingerichtet war. Wie alle Kriege hatte auch dieser über Nacht Millionäre hervorgebracht, und es fehlte nicht an Kunden. Noelle erhielt mehr Anträge denn je; der einzige Unterschied bestand darin, dass die meisten von Deutschen kamen. Wenn sie keinen Dienst hatte, saß sie stundenlang in kleinen Trottoir-Cafes auf den Champs-Elysees oder auf dem linken Ufer in der Nähe des Pont Neuf. Hunderte von Männern in deutschen Uniformen flanierten vorbei, viele von ihnen mit jungen Französinnen. Die französischen Zivilisten waren entweder zu alt oder unbefriedigend, und Noelle nahm an, dass die jüngeren ins Lager gebracht oder aber zum Militärdienst eingezogen worden waren. Sie erkannte die Deutschen mit einem Blick, auch wenn sie in Zivil waren. Auf ihren Gesichtern lag ein Ausdruck von Arroganz, das Aussehen von Eroberern seit den Tagen Alexanders und Hadrians. Noelle hasste sie nicht und mochte sie auch nicht. Sie berührten sie einfach nicht.
Sie war von ihrem regen Innenleben in Anspruch genommen, plante sorgfältig jeden Schritt. Sie kannte ihr Ziel genau und wusste, dass nichts sie davon abbringen konnte. Sobald sie es sich leisten konnte, engagierte sie einen Privatdetektiv, der in dem Scheidungsprozess einer ihrer Kolleginnen erfolgreich tätig gewesen war. Der Mann hieß Christian Barbet. Er saß in einem kleinen schäbigen Büro in der Rue St. Lazare. Auf dem Schild an der Tür stand:
NACHFORSCHUNGEN PRIVAT UND GESCHÄFTLICH
ERMITTLUNGEN
VERTRAULICHE AUSKÜNFTE
FAHNDUNGEN BEWEISE
Das Schild war fast größer als das Büro. Barbet war klein und glatzköpfig, hatte gelbe schadhafte Zähne, enge Schielaugen und nikotinfleckige Finger.