»Na gut«, sagte Gautier. »Ich werde dir ein Stück zum Studium geben. Wenn du es gelernt hast, wirst du es mir vortragen, und wir werden sehen, wie viel Talent du hast. Dann können wir entscheiden, was wir mit dir tun.«
»Danke, Armand«, sagte sie. Es lag kein Triumph in ihren Worten, nicht einmal Freude, die er entdecken konnte. Nur eine einfache Anerkennung des Unvermeidlichen. Zum ersten Mal fühlte Gautier einen leisen Stich des Zweifels. Aber das war natürlich lächerlich. Er war ein Meister im Umgang mit Frauen.
Während Noelle sich anzog, ging Armand Gautier in seine Bibliothek und überflog die vertrauten, abgegriffenen Bände auf den Borden. Schließlich wählte er mit einem schiefen Lächeln Andromache von Euripides. Es war eines der schwierigsten klassischen Werke. Er ging ins Schlafzimmer zurück und gab Noelle das Stück.
»Da, meine Liebe«, sagte er. »Wenn du die Rolle gelernt hast, werden wir sie zusammen durchnehmen.«
»Danke, Armand. Du wirst es nicht bedauern.«
Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr freute ihn seine List. Noelle würde eine oder zwei Wochen brauchen, die Rolle
zu lernen, oder, was noch wahrscheinlicher war, sie würde zu ihm kommen und zugeben, sie könne sie nicht auswendig lernen. Er würde vollstes Verständnis zeigen und erklären, wie schwer die Kunst des Schauspielens sei, und sie könnten dann ein von ihren Ambitionen unbeeinträchtigtes Verhältnis unterhalten. Gautier verabredete sich mit Noelle zum Diner am Abend, und sie ging.
Als Noelle in die Wohnung zurückkehrte, die sie mit Philippe Sorel teilte, wartete er schon auf sie. Er war sehr betrunken.
»Du Luder«, schrie er. »Wo bist du die ganze Nacht gewesen?«
Es wäre gleichgültig, was sie sagte. Sorel wusste, dass er sich ihre Entschuldigung anhören, sie verdreschen und dann ins Bett nehmen und ihr verzeihen würde.
Doch Noelle entschuldigte sich nicht, sagte nur: »Bei einem anderen Mann, Philippe. Ich bin gekommen, meine Sachen zu holen.«
Und als Sorel sie verblüfft und ungläubig ansah, ging Noelle ins Schlafzimmer und begann zu packen.
»Um Himmels willen, Noelle«, flehte er, »tu das nicht! Wir lieben uns doch, wir werden heiraten.« Die nächste halbe Stunde redete er auf sie ein, argumentierte, drohte, schmeichelte, und inzwischen hatte Noelle zu Ende gepackt und die Wohnung verlassen, und Sorel hatte keine Ahnung, warum er sie verloren hatte, denn er wusste nicht, dass er sie nie besessen hatte.
Armand steckte tief in der Regie-Arbeit an seinem neuen Stück, dessen Premiere in vierzehn Tagen sein sollte, und verbrachte den ganzen Tag mit Proben im Theater. In der Regel dachte Gautier, wenn er ein Stück inszenierte, an nichts anderes. Ein Teil seines Genies war die intensive Konzentration, die er seiner Arbeit widmen konnte. Nichts existierte für ihn außer den vier Wänden des Theaters und den Schauspielern, mit denen er arbeitete. An diesem Tag jedoch war es anders. Gautier entdeckte, dass seine Gedanken unablässig zu Noelle und der unglaublichen Nacht, die sie zusammen verbracht hatten, abschweiften. Die Schauspieler gingen eine Szene durch, hielten inne und warteten auf seine Kritik, und Gautier merkte plötzlich, dass er gar nicht hingehört hatte. Wütend auf sich versuchte er, sich auf seine Regie-Arbeit zu konzentrieren, aber die Erinnerungen an Noelles nackten Körper und die wunderbaren Dinge, die er ihm geboten hatte, kehrten immer wieder zurück. Mitten in einer dramatischen Szene entdeckte er, dass er mit einer Erektion auf der Bühne herumlief, und er musste sich einen Augenblick entschuldigen und hinausgehen.
Da Gautier einen analytischen Verstand hatte, versuchte er zu ergründen, was an diesem Mädchen derart auf ihn eingewirkt hatte. Gut, Noelle war schön, aber er hatte mit einigen der schönsten Frauen der Welt geschlafen. Sie war vollendet und gewandt im Liebesakt, aber das waren andere Frauen auch, mit denen er geschlafen hatte. Sie schien intelligent, aber nicht geistreich; ihre Persönlichkeit war angenehm, aber nicht kompliziert. Da war noch etwas anderes, etwas, worauf der Regisseur nicht wirklich den Finger legen konnte. Und dann erinnerte er sich an ihr sanftes »Nein«, und das war ein Anhaltspunkt. Es war eine gewisse Kraft in ihr, die unwiderstehlich war, die alles erreichen würde, was sie wollte. Etwas war in ihr, das unberührt war. Und wie andere Männer vor ihm spürte Armand Gautier, dass er, obgleich Noelle ihn tiefer bewegt hatte, als er es sich eingestehen wollte, sie überhaupt nicht berührt hatte, und das war eine Herausforderung, die seine Männlichkeit nicht ertrug.
Gautier verbrachte den Tag in einem Stadium der Verwirrung. Er freute sich auf den Abend mit großen Hoffnungen, nicht sosehr, weil er Noelle umarmen wollte, sondern weil er sich selbst beweisen wollte, dass er aus nichts etwas gemacht hatte. Er wollte, dass Noelle eine Enttäuschung für ihn sei, damit er sie aus seinem Leben verbannen konnte.
Als sie sich in jener Nacht umarmten, zwang sich Armand Gautier, sich der Tricks und Kunstgriffe und Listen bewusst zu werden, die Noelle anwandte, damit ihm klar würde, dass alles mechanisch, ohne jedes Gefühl, geschah. Aber er irrte sich. Sie gab sich ihm voll und ganz hin, wollte ihm nur Vergnügen und Genuss bereiten, wie er es nie vorher gekannt hatte, und sich an seinem Genuss weiden. Als der Morgen dämmerte, war Gautier von ihr noch mehr behext als zuvor.
Wieder bereitete Noelle ihm das Frühstück, diesmal feine Eierkuchen mit Marmelade und heißen Kaffee, und es war herrlich.
»Gut«, sagte Gautier sich, »du hast ein junges Mädchen gefunden, das schön anzusehen ist, das perfekt lieben und kochen kann. Bravo! Aber genügt das einem intelligenten Mann? Wenn du die Umarmung hinter dir hast und wenn du gegessen hast, musst du dich unterhalten. Worüber kann sie sich mit dir unterhalten?« Die Antwort lautete, dass es eigentlich keine Rolle spielte.
Von dem Stück war nicht mehr gesprochen worden, und Gautier hoffte, dass Noelle es entweder vergessen hatte oder aber mit dem Auswendiglernen des Textes nicht zu Rande gekommen war. Als sie am Morgen ging, versprach sie, mit ihm zu Abend zu essen.
»Kannst du dich von Philippe losmachen?« fragte Gautier.
»Ich habe ihn verlassen«, sagte Noelle einfach und nannte Gautier ihre neue Adresse.
Er starrte sie einen Augenblick an. »Ich verstehe.«
Er verstand nichts. Nicht im geringsten.
Sie verbrachten wieder die Nacht zusammen. Wenn sie sich nicht umarmten, redeten sie. Oder eigentlich – Gautier redete. Noelle schien so an ihm interessiert, dass er plötzlich über Dinge sprach, die er jahrelang nicht erörtert hatte, persönliche
Sachen, die er noch nie jemandem enthüllt hatte. Das Stück, das er ihr zu lesen gegeben hatte, wurde nicht erwähnt, und Gautier beglückwünschte sich, dass er sein Problem so elegant gelöst hatte.
Als sie am nächsten Abend gegessen hatten und bereit waren, sich zur Ruhe zu begeben, ging Gautier aufs Schlafzimmer zu.
»Noch nicht«, sagte Noelle.
Er drehte sich überrascht um.
»Du sagtest, du würdest mich anhören, wenn ich die Rolle spreche.«
»J-a natürlich«, stammelte Gautier. »Sobald du fertig bist.«
»Ich bin fertig.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht, dass du die Rolle liest, Cherie«, sagte er. »Ich möchte sie hören, wenn du sie auswendig gelernt hast, damit ich dich als Schauspielerin wirklich beurteilen kann.«