Catherine schüttelte ratlos den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
»Hatten Sie mal einen Nervenzusammenbruch?«
Sie sah ihn argwöhnisch an. »Nein. Meinen Sie, dass ich einen brauche?«
Er lächelte nicht. Er sprach langsam, wählte seine Worte sorgfältig. »Die menschliche Psyche ist eine delikate Sache, Mrs. Douglas. Sie kann nur eine bestimmte Menge Schmerz ertragen, und wenn der Schmerz unerträglich wird, flüchtet sie in die verborgenen Bereiche des Bewusstseins, die wir gerade erst zu erforschen beginnen. Ihre Gefühle sind in einem sehr hohen Maß belastet.« Er sah sie einen Augenblick lang an. »Ich glaube, es war gut, dass Sie zu mir gekommen sind, um Hilfe zu suchen.«
»Ich weiß, dass ich etwas nervös bin«, sagte Catherine abwehrend. »Deshalb trinke ich. Um mich zu entspannen.«
»Nein«, antwortete er schonungslos. »Sie trinken, um zu entfliehen.« Nikodes stand auf und trat zu ihr. »Ich glaube, wir können wahrscheinlich eine ganze Menge für Sie tun. Mit >wir< meine ich Sie und mich. Es wird nicht einfach sein.«
»Sagen Sie mir, was ich tun soll.«
»Zunächst werde ich Sie in eine Klinik zu einer gründlichen Untersuchung schicken. Meiner Ansicht nach wird man dort nicht feststellen, dass Ihnen grundlegend etwas fehlt. Als nächstes werden Sie das Trinken einstellen. Dann werde ich Ihnen eine Diät verordnen. Soweit alles klar?«
Catherine zögerte, ehe sie nickte.
»Sie werden sich bei einer Gymnastikschule anmelden, wo Sie sich regelmäßig ausarbeiten werden, bis Sie körperlich wieder fit sind. Ich kenne eine ausgezeichnete Physiotherapeu-ten, die Ihnen Massagen geben wird. Sie werden einmal wöchentlich in einen Schönheitssalon gehen. Das alles nimmt Zeit in Anspruch, Mrs. Douglas, aber Sie sind nicht über Nacht in diesen Zustand gekommen, und er kann auch nicht über Nacht behoben werden.« Er lächelte ihr aufmunternd zu. »Aber ich kann Ihnen versprechen, dass Sie in wenigen Monaten – sogar schon in wenigen Wochen – anfangen werden, wie eine andere Frau auszusehen und sich auch so zu fühlen. Wenn Sie in den Spiegel blicken, werden Sie stolz sein – und wenn Ihr Mann Sie ansieht, wird er Sie attraktiv finden.«
Catherine starrte ihn an, ihr Herz schlug höher. Ihr war, als ob eine unerträgliche Last tief in ihrem Inneren von ihr genommen, als ob ihr plötzlich eine neue Lebenschance gegeben worden wäre.
»Sie müssen sich darüber im klaren sein, dass ich Ihnen dieses Programm nur empfehlen kann«, sagte der Doktor. »Sie selbst müssen es durchführen.«
»Das werde ich«, sagte Catherine inbrünstig. »Ich verspreche es.«
»Das Trinken aufzugeben, wird das schwerste sein.«
»O nein«, widersprach Catherine. Und als sie es sagte, wusste sie, dass es die Wahrheit war. Der Arzt hatte recht, sie hatte getrunken, um zu entfliehen. Jetzt hatte sie ein Ziel, wusste sie, wohin sie ging. Sie würde Larry zurückgewinnen. »Ich werde keinen Tropfen mehr anrühren«, sagte sie fest.
Der Arzt blickte ihr ins Gesicht und nickte zufrieden. »Ich glaube Ihnen, Mrs. Douglas.«
Catherine stand auf. Es bestürzte sie, wie plump und unbeholfen ihr Körper war, doch das würde jetzt alles anders werden. »Ich werde mir jetzt lieber ein paar eng anliegende Kleider kaufen«, meinte sie mit einem zaghaften Lächeln.
Dr. Nikodes schrieb etwas auf eine Karte. »Dies ist die Adresse der Klinik. Man wird Sie erwarten. Ich sehe Sie nach den Untersuchungen wieder.«
Auf der Straße sah Catherine sich nach einem Taxi um, dann dachte sie: Zum Teufel damit! Ich kann mit dem Training gleich anfangen. Sie ging also zu Fuß. Sie kam an einem Schaufenster vorbei und blieb stehen, um ihr Spiegelbild zu betrachten.
Sie war vorschnell gewesen, Larry die Schuld für den Zerfall ihrer Ehe zu geben, ohne je zu fragen, welchen Anteil an der Schuld sie selbst hatte. Warum sollte er nach Hause kommen wollen zu jemandem, der aussah wie sie? Wie langsam und verstohlen hatte sich diese Fremde eingeschlichen, ohne dass sie es bemerkte? Sie fragte sich, wie viele Ehen auf die gleiche Weise zerbrochen waren, nicht mit einem Knall – und davon hat es in der letzten Zeit nicht viel gegeben, dachte Catherine sarkastisch, sondern mit einem Winseln, wie der gute alte T. S. Eliot sagte. Nun, das lag alles in der Vergangenheit. Von nun an würde sie nicht mehr zurückblicken, sondern nur noch vorwärts in eine wundervolle Zukunft sehen.
Catherine hatte den eleganten Distrikt Salonika erreicht. Sie kam an einem Schönheitssalon vorbei, und einem plötzlichen Impuls folgend, kehrte sie um und trat ein. Der Empfangsraum war mit weißem Marmor ausgekleidet, weitläufig und elegant. Eine hochnäsige Empfangsdame sah Catherine missbilligend an und fragte: »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ich möchte einen Termin für morgen Vormittag«, sagte Catherine. »Ich wünsche alles, komplett.« Der Name des Starfriseurs kam ihr plötzlich in den Sinn. »Ich wünsche von Aleko bedient zu werden.«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen einen Termin geben, aber Sie werden sich mit jemand anderem begnügen müssen.«
»Hören Sie«, sagte Catherine fest. »Sagen Sie Aleko, dass er mich entweder bedienen wird, oder ich werde überall in Athen erzählen, dass ich eine seiner Stammkundinnen bin.«
Die Augen der Frau weiteten sich entsetzt. »Ich – ich werde sehen, was sich tun lässt«, versprach sie hastig. »Kommen Sie morgen früh um zehn.«
»Danke«, antwortete Catherine. »Ich werde pünktlich sein.« Damit ging sie.
Vor sich sah sie eine kleine Taverne mit einem Schild im Fenster: »Madame Piris – Wahrsagerin«. Irgendwie kam es ihr bekannt vor, und plötzlich erinnerte sie sich, dass Graf Pappas ihr eine Geschichte über Madame Piris erzählt hatte. Es war etwas von einem Polizeibeamten und einem Löwen gewesen, aber an die Einzelheiten konnte sie sich nicht erinnern. Catherine glaubte nicht ans Wahrsagen, aber der Impuls hineinzugehen war unwiderstehlich. Sie brauchte Zuspruch, jemanden, der sie in ihrer Zuversicht auf eine wundervolle
Zukunft bestärkte, der ihr sagte, dass ihr Leben wieder schön und lebenswert werden würde. Sie öffnete die Tür und ging hinein.
Nach dem hellen Sonnenlicht brauchte Catherine einige Augenblicke, um sich an das düstere Halbdunkel des Raumes zu gewöhnen. Sie erkannte eine Bar in der Ecke und ein Dutzend Tische mit Stühlen. Ein müde wirkender Kellner kam auf sie zu und sprach sie auf griechisch an.
»Nichts zu trinken, danke«, sagte Catherine. Sie genoss es, diese Worte aus dem eigenen Mund zu hören, und wiederholte sie. »Nichts zu trinken. Ich möchte Madame Piris sprechen. Ist sie da?«
Der Kellner deutete auf einen freien Tisch in der Ecke, und Catherine ging hinüber und setzte sich. Wenige Minuten später spürte sie, dass jemand neben ihr stand, und blickte auf.
Die Frau war unglaublich alt und hager, schwarz gekleidet, mit einem Gesicht, das von der Zeit zu tiefgefurchten Winkeln und Flächen ausgedörrt worden war.
»Sie wollten mich sprechen?« Ihr Englisch war stockend.
»Ja«, sagte Catherine. »Ich möchte eine Sitzung, bitte.«
Die Frau setzte sich und hob eine Hand, und der Kellner kam an den Tisch und brachte eine Tasse dicken schwarzen Kaffee auf einem kleinen Tablett. Er stellte es vor Catherine hin.
»Für mich nicht«, sagte Catherine. »Ich ...«
»Trinken Sie«, befahl Madame Piris.
Catherine sah sie überrascht an, dann griff sie nach der Tasse und trank einen Schluck von dem Kaffee. Er war stark und bitter. Sie setzte die Tasse ab.
»Mehr«, sagte die alte Frau.
Catherine wollte protestieren, aber dachte dann: Zum Teufel, was sie hier beim Wahrsagen verlieren, machen sie mit dem Kaffee wieder weit. Sie nahm noch einen Schluck. Es schmeckte scheußlich. »Noch einmal«, sagte Madame Piris.