Catherine hob die Schultern und trank einen letzten Schluck.
Auf dem Boden der Tasse war ein dicker, schleimiger Satz. Madame Piris nickte, griff nach der Tasse und nahm sie Catherine aus der Hand. Sie starrte lange Zeit in die Tasse hinein, ohne etwas zu sagen. Catherine kam sich albern vor. Was hat eine nette, intelligente Frau wie ich in einem solchen Lokal zu suchen und eine verrückte alte, in eine leere Kaffeetasse starrende Griechin zu beobachten?
»Sie kommen aus weiter Ferne«, sagte die alte Frau plötzlich.
»Genau«, sagte Catherine schnippisch.
Madame Piris sah ihr in die Augen, und in dem Blick der alten Frau lag etwas, was Catherine schaudern ließ.
»Gehen Sie nach Hause.«
Catherine schluckte: »Ich bin zu Hause.«
»Gehen Sie zurück, wo Sie hergekommen sind.«
»Meinen Sie nach Amerika?«
»Irgendwohin. Gehen Sie von hier fort – schnell!«
»Warum?« fragte sie. Entsetzen überkam sie. »Was ist denn hier?«
Die alte Frau schüttelte den Kopf. Ihre Stimme war rau, und es fiel ihr schwer, die Worte herauszubringen. »Es ist überall um Sie herum.«
»Was denn?«
»Gehen Sie fort!« Eine unwiderstehliche Eindringlichkeit lag in der Stimme der alten Frau, wie der hohe, gellende Schrei eines Tieres, das Schmerzen leidet. Catherine spürte, wie sich ihr die Haare sträubten.
»Sie machen mir Angst«, stöhnte sie. »Bitte sagen Sie mir, was es ist!«
Die alte Frau schüttelte mit wilden Blicken langsam den Kopf. »Gehen Sie, ehe es Sie trifft.«
Catherine spürte, wie die Panik in ihr wuchs. Das Atmen fiel ihr schwer. »Ehe mich was trifft?«
Das Gesicht der alten Frau war von Schmerz und Entsetzen verzerrt. »Der Tod. Er kommt auf Sie zu.« Und damit stand sie auf und verschwand ins Hinterzimmer.
Mit klopfendem Herzen saß Catherine da. Ihre Hände zitterten, sie schlang sie fest ineinander, um das Zittern zu unterdrücken. Ihr Blick fiel auf den Kellner, und sie wollte sich etwas zu trinken bestellen, aber sie hielt sich zurück. Sie wollte sich nicht durch eine verrückte alte Frau ihre strahlende Zukunft zerstören lassen. Tief atmend saß sie da, bis sie ihre Selbstbeherrschung wieder gewonnen hatte, und nach langer Zeit erhob sie sich, griff nach ihrer Tasche und ihren Handschuhen und verließ die Taverne.
In dem strahlend hellen Sonnenlicht fühlte Catherine sich gleich wohler. Es war albern gewesen, sich von einer alten Frau Angst einjagen zu lassen. Eine Hexe wie sie sollte eingesperrt werden, statt dass man ihr erlaubte, anderen Leuten Schrecken einzujagen. Von jetzt an, gelobte Catherine sich, würde sie sich nur noch an Weissagungen in Knallbonbons halten.
Als sie in ihre Wohnung zurückkam, sah sie sich im Wohnzimmer um, und es war, als ob sie es zum ersten Mal erblickte. Es bot einen bedrückenden Anblick. Überall dicker Staub, und Kleidungsstücke lagen im Zimmer verstreut. Catherine fand es unglaublich, dass sie die Unordnung in ihrem trunkenen Zustand nicht wahrgenommen haben sollte. Nun, als erstes würde sie die Wohnung tadellos in Ordnung bringen. Sie wendete sich der Küche zu, als sie hörte, wie im Schlafzimmer eine Schublade zugeschoben wurde. Ihr Herz klopfte plötzlich erschrocken, und sie näherte sich vorsichtig der Schlafzimmertür.
Larry war im Schlafzimmer. Ein geschlossener Koffer lag auf seinem Bett, und mit dem Packen eines zweiten war er gerade fertig geworden. Catherine blieb stehen und sah ihm einen Augenblick lang zu. »Falls das für das Rote Kreuz sein sollte«, sagte sie, »ich habe schon eine Spende gegeben.«
Larry blickte auf. »Ich gehe.«
»Wieder ein Flug für Demiris?«
»Nein«, antwortete er, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen. »Diesmal für mich. Ich gehe fort.«
»Larry ...«
»Darüber gibt es keine Diskussion mehr.«
Sie trat in das Schlafzimmer, kämpfte um ihre Selbstbeherrschung. »Doch, doch. Wir haben eine Menge zu bereden. Ich war heute beim Arzt, und er versprach mir, ich würde völlig geheilt werden.« Ihre Worte überstürzten sich. »Ich werde das Trinken aufgeben und ...«
»Cathy, es ist vorbei. Ich will die Scheidung.«
Diese Worte trafen sie wie eine Serie von Schlägen in die Magengrube. Sie presste fest den Mund zusammen, damit sie sich nicht übergeben musste, versuchte, die Galle hinunterzu-würgen, die ihr in die Kehle stieg. »Larry«, begann sie. Sie sprach langsam, damit ihre Stimme nicht zitterte. »Ich mache dir keine Vorwürfe. Ein großer Teil ist meine Schuld – vielleicht der größte -, aber es wird anders werden. Ich werde mich ändern – ich meine es aufrichtig.« Sie streckte flehend die Hand aus. »Ich bitte dich, gib mir eine Chance.«
Larry drehte sich um. Seine dunklen Augen waren kalt und voller Verachtung. »Ich liebe eine andere. Alles, was ich von dir erwarte, ist die Scheidung.«
Catherine stand einen Augenblick reglos vor ihm, drehte sich dann um und ging ins Wohnzimmer zurück. Sie setzte sich auf die Couch und starrte auf eine griechische Modezeitschrift, während er fertig packte. Sie hörte Larrys Stimme sagen: »Mein Anwalt wird sich mit dir in Verbindung setzen« und danach das Zuschlagen der Wohnungstür. Catherine saß auf der Couch und blätterte Seite für Seite der Zeitschrift um. Als sie damit fertig war, legte sie sie ordentlich in die Mitte des Tisches. Dann stand sie auf, ging ins Badezimmer und öffnete das Apothekenschränkchen. Sie nahm eine Rasierklinge heraus und schnitt sich die Pulsadern auf.
Noelle und Catherine
Athen 1946
Gespenster in Weiß umgaben sie, und sie schwebten umher und trieben dann ins Nichts davon, mit leisem Flüstern in einer Sprache, die Catherine nicht verstand; aber sie verstand, dass es die Hölle war und dass sie für ihre Sünden büßen musste. Man hatte sie auf das Bett geschnallt, und sie vermutete, das sei ein Teil ihrer Strafe, und sie war froh über die Riemen, denn sie spürte, wie die Erde im Raum rotierte, und fürchtete, von dem Planeten abzustürzen. Das Teuflischste, was man ihr angetan hatte, war, dass man ihre Nerven an die Außenseite ihres Körpers gezerrt hatte, so dass sie alles tausendfach spürte, und es war unerträglich. Ihr Körper war voll von schrecklichen und ihr unbekannten Geräuschen. Sie konnte hören, wie ihr Blut durch die Adern rann, und es war wie ein rauschender roter Fluss, der sie durchströmte. Sie hörte das Pochen ihres Herzens, und es klang wie eine ungeheure Trommel, die von einem Riesen geschlagen wurde. Sie hatte keine Augenlider, und das weiße Licht drang ihr ins Gehirn und blendete sie mit seiner Helligkeit. Alle Muskeln ihres Körpers lebten, waren in ständiger ruheloser Bewegung, wie ein Nest von Schlangen unter ihrer Haut, die bereit waren zuzustoßen.
Fünf Tage nachdem Catherine in das Evangelismos Hospital eingeliefert worden war, schlug sie die Augen auf und fand sich in einem kleinen weißen Krankenzimmer wieder. Eine Schwester in einem gestärkten weißen Kittel zog ihr die Bettdecke zurecht, und Dr. Nikodes drückte ihr ein Stethoskop auf die Brust.
»He, das ist kalt«, protestierte sie schwach.
Er sah sie an und sagte: »Sieh da, wer ist denn hier wach?«
Catherine ließ ihre Blicke langsam durch den Raum wandern. Das Licht schien normal zu sein, und sie konnte nicht länger das Rauschen ihres Blutes oder das Dröhnen ihres Herzens oder das Sterben ihres Körpers wahrnehmen.
»Ich dachte, ich wäre in der Hölle.« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
»Waren Sie auch.«
Sie blickte auf ihre Handgelenke. Aus irgendeinem Grund waren sie verbunden. »Wie lange bin ich schon hier?«
»Fünf Tage.«
Plötzlich erinnerte sie sich an den Grund für die Verbände. »Wahrscheinlich habe ich etwas sehr Dummes getan«, sagte sie.
»Ja.«
Sie presste die Augen zu und sagte: »Es tut mir leid.« Dann öffnete sie die Augen wieder, und es war Abend, und Bill Fräser saß auf dem Stuhl neben ihrem Bett und betrachtete sie. Auf dem Nachttisch standen Blumen und lagen Süßigkeiten.