So verstört wie Sam war, stand er plötzlich auf, nur um puterrot zu werden, weil er keine Hose anhatte. Er klaubte das zerknüllte Kleidungsstück vom Boden und brachte sich in einen schicklichen Zustand, was mit einer Hand nicht ganz einfach war (zumal sie vor Aufregung zitterte). »Hol mich der Teufel! Deklan Comstock abgesetzt, und ich kriege nichts mit davon! Und? Hat man schon einen neuen Präsidenten vereidigt?«
»Ja, Sam, man hat … aber setz dich besser, bevor ich weiterrede.«
Ich half Sam beim Ankleiden und Kämmen, und als er einigermaßen vorzeigbar war, schleppte ich ihn in die nächstbeste Taverne, wo wir Eier mit Toast bestellten. Es war kein Feinschmeckerlokal — die Butter war madig —, aber die Portion machte satt. Sam gab zu, dass er seit seiner Rückkehr nach Manhattan jeden Kontakt gemieden hatte. Nicht nur aus Gram um den totgeglaubten Julian hatte er sich in dieses Loch verkrochen, sondern auch wegen der eingebüßten Hand — oder wegen des Gefühls von Unvollständigkeit und Untauglichkeit, das ihn seit dem Verlust beherrschte. Er verstand sich darauf, mit der rechten Hand zu essen und zu trinken, und ließ den linken Unterarm untätig auf dem Schoß liegen, peinlich bedacht, dass niemand den Stumpf zu sehen bekam. Er hielt das Kinn gesenkt und vermied jeden Blickkontakt. Ich kam nicht auf seinen Zustand zu sprechen und ließ mir auch nichts anmerken, weil ich dachte, ihn so vielleicht zerstreuen zu können.
Beim Essen erzählte ich ihm von meinen Abenteuern in und um Striver und von Julians unerwartetem Aufstieg zum Präsidenten. Sam zeigte großes Interesse und bedankte sich mehr als einmal für die Erleichterung, die ich ihm beschert hatte (so sagt man doch zu Weihnachten). »Nicht dass die Präsidentschaft so etwas wie ein sicherer Hafen wäre«, meinte Sam, »weiß Gott nicht. Aber ich bin froh, dass du gekommen bist, Adam, und ich bedanke mich für das Frühstück, aber du würdest mich jetzt besser ziehen lassen. Nach Lage der Dinge will ich nicht mehr unter Menschen. Ich bin nicht mehr das, was ich einmal war. Julian braucht mich nicht mehr. Ich wäre nur ein nutzloses Anhängsel.«
»Die Lage der Dinge ist komplizierter, als du denkst, Sam. Diakon Hollingshead hat es auf Calyxa abgesehen. Sie und Julians Mutter stehen unter Hausarrest, ein Verfahren ist anhängig.«
Sams Augen, die bis jetzt nur feucht und glasig gewesen waren, verengten sich. »Emily ist in Gefahr?«
»Möglicherweise, ja — auch Calyxa. Es war Mrs. Comstock, die mich auf die Suche geschickt hat.«
»Emily!«, sagte er gequält. »Ich will nicht, dass sie mich so sieht.«
»Kann ich verstehen; aber wir können dir ein warmes Bad verschaffen und einen Haarschnitt — sobald du fertig bist mit Frühstücken.«
»Das meine ich nicht!«
»Schaden kann es jedenfalls nicht. Was Gerüche betrifft, ist Mrs. Comstock ziemlich eigen.«
»Weswegen ich mich schäme, Adam, das kann man nicht abwaschen.«
Er meinte natürlich seinen Armstumpf. »Das ist Emily Comstock egal, Sam.«
»Mir aber nicht.« Er senkte die Stimme, doch der Schmerz darin war unüberhörbar: »Es gab eine Zeit, nachdem ich Striver verlassen hatte, da habe ich inständig um eine tödliche Infektion gebetet, ich wollte so nicht weiterleben.«
»Solche Gebete kommen nicht gut an im Himmel, kein Wunder, dass sie nicht erhört wurden.«
»Ich bin kein ganzer Mensch mehr.«
»Hast du so auch über den Einbeinigen Willy Bass gedacht, als er uns durch die Wildnis von Athabaska gejagt hat? Ich fand, du hattest ganz ordentlich Respekt vor dem Mann, obwohl er mehr von seinem Bein verloren hatte als du von deinem Arm.«
Der Vergleich schien ihn aufzuscheuchen. »Willy Bass war alles andere als ein Krüppel. Aber meinst du im Ernst, ich wollte eine Karriere in der Reserve machen, Adam?«
»Ich habe überhaupt keine Meinung über irgendeine Karriere, die du machen willst, Sam. Es geht einzig und allein darum, ob du jemandem helfen willst, der deine Hilfe braucht. Und dieser Jemand ist Mrs. Comstock.«
»Aber natürlich will ich ihr helfen! Aber was kann ein betrunkener Krüppel schon ausrichten?«
»Nichts — also mach Schluss mit dem Alkohol und vor allem mit dem Krüppel. Zeig mal her.«
Er sträubte sich und hielt den Arm unterm Tisch; er sagte kein Wort.
»Im Lazarett in Striver habe ich Dr. Linch assistiert«, sagte ich. »Ich habe Amputationen und Schlimmeres erlebt. Du warst immer so etwas wie ein zweiter Vater für mich; wie es aussieht, haben wir die Rollen getauscht. Sei nicht kindisch, Sam. Zeig her.«
Seine Wangen glühten, und er blieb lange steif da sitzen. Hoffentlich bekam ich gleich nicht seine rechte Hand zu spüren, denn weder die Amputation noch seine jüngsten Ausschweifungen hatten etwas daran geändert, dass er ein kräftiger Mann war. Doch er lenkte ein. Er wandte den Blick ab und hob den Arm, bis er knapp über die Tischkante lugte.
»Ach geh, das ist doch gar nichts«, sagte ich, obwohl der Anblick alles andere als beruhigend war — der Stumpf des Unterarms mündete in einem schmuddeligen und rostrot gefleckten Verband.
»Die Wunde nässt von Zeit zu Zeit«, sagte er leise.
»Weinen wir nicht alle schon mal? Na ja, Sam, du musst wissen, was dir mehr wert ist — dein verletzter Stolz oder Emily Baines Comstock. In dem einen Fall gehst du am besten wieder auf deine Bude und säufst dich zu Tode, im anderen kommst du mit zum Friseur, nimmst ein Bad und lässt mich den Verband wechseln; und dann befreien wir unsere Frauen aus der Klemme, in der sie stecken, oder sterben wenigstens bei dem aufrechten Versuch.«
Das war jetzt riskant gewesen. Er hätte aufstehen und gehen können. Aber ich hatte noch nie erlebt, dass Sam einem freimütig vorgetragenen Appell ausgewichen war.
»Ich glaube, ein Bad wird mich nicht umbringen«, murrte er und bedachte mich mit einem bösen und undankbaren Blick.
Frisörsalons und Badehäuser machten schon dicht wegen Heiligabend, aber wir konnten noch je ein Etablissement auftreiben, das uns hereinließ. Später besuchten wir noch einen Herrenausstatter und ersetzten Sams abgerissene Militärkluft durch passable Zivilsachen. Diese Ausgaben hätten beinahe meine Barschaft überschritten, und Sam hatte nur Pennys dabei.
Doch er wollte so nicht zu Emily Comstocks Haus gehen; er wollte sich erst noch von seinen Ausschweifungen erholen. Also verbrachten wir die Nacht im Soldiers’ Rest. Er schlief geräuschvoll, während ich eine Reihe von Scharmützeln mit den Wirbellosen focht, die vor Freude durch mein Bett sprangen.
Weihnachtsmorgen. Beim ersten Schimmer wachten wir auf. Das karitative Frühstück schlugen wir aus. »Wir sollten sofort zu Mrs. Comstocks Haus gehen«, sagte ich. »Bist du bereit?«
»Weit entfernt davon«, meinte er, »aber mit Warten wächst meine Bereitschaft auch nicht.«
Vor dem Haus mit der rotbraunen Sandsteinfassade wartete eine Kutsche. Es war eine schöne, stattliche Kutsche mit drei Pferden davor und goldenen Verzierungen, auf den Türen das Wappen des Präsidentenpalasts. Sie wurde von etlichen Männern der Republikanischen Garde begleitet, die den Wachposten (nicht den Mann, dem ich eine Mahlzeit spendiert hatte) überwältigt hatten und soeben Mrs. Comstock und Calyxa zum Fahrzeug eskortierten.
Die Frauen erblickten uns, als wir näher kamen. Sie winkten uns an Bord. Die Republikanische Garde wollte uns abweisen — ihr Auftrag erwähnte nichts dergleichen —, lenkte aber nach einer Standpauke von Julians Mutter ein. Im Handumdrehen wurden wir zusammen mit den Frauen in die Fahrgastkabine gesperrt.
Sam sah Mrs. Comstock an und sie ihn, und niemand sagte etwas.
»Du hast deine linke Hand verloren«, brach sie endlich das Schweigen.
Ich muss wohl erbleicht sein, Calyxa zuckte, und Sam wurde rot.
»Emily …«, sagte er mit belegter Stimme.