Jetzt bestieg ein lokaler Geistlicher — ich glaube, die Katholiken sagen »Priester« — das Podium und verlas die Predigt, die ihm die Gelehrten des Dominions geschrieben hatten. Die Lektion versprach lange zu dauern — sie begann mit Palmwedeln und schlug eine entsprechend gemächliche Gangart auf dem Weg zur Auferstehung ein (die für mich der Höhepunkt der Geschichte war, denn ich malte mir immer aus, was die Leute für Gesichter gemacht hatten, als sie entdecken mussten, dass das Grab leer war) —, und der Geistliche war ein Meister jenes eigentümlichen ekklesiastischen Singsangs, der in Verbindung mit Wärme und Müdigkeit und verpesteter Luft nicht wenige seiner fremden Schäfchen hatte einnicken lassen. Julian, der gleich neben mir saß, schien der Predigt hellwach zu folgen, doch ich wusste, dass der Schein trog, denn Julian hatte mir einmal gebeichtet, was er wirklich während eines Gottesdienstes tat (in einer christlichen Kirche ist der Atheist genauso ein Fremder wie der Jude): Er verbringe, hatte er gesagt, die Zeit damit, sich den Film vorzustellen, den er eines Tages drehen werde — The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin — und die einzelnen Szenen und die Dialoge in seinem Kopf durchzuspielen und sich den Szenenaufbau zu überlegen oder daran zu arbeiten, die Handlung noch dramatischer zu gestalten.
Ich kämpfte gegen meine eigene Müdigkeit an, indem ich mich ab und zu nach dem Chor umsah, wo diese bestrickende Frau stand und geduldig wartete. Sie zeigte keine Anzeichen von Langeweile, obwohl sie ab und zu himmelwärts blickte, wohl eher aus Wut als aus Frömmigkeit, und sich zweimal mit dem linken Schuh an der rechten Wade kratzte. Da es draußen wärmer wurde, wurde es drinnen auch wärmer, und auf ihrer Stirn hatte sich ein Schweißtropfen gebildet und kullerte ihr über die Wange und spielte Fangen mit dem bunten Licht. Ich war hin und weg.
Eine Stunde verstrich. Der Geistliche war halbwegs durch mit seiner Lesung (vermute ich mal, denn wir hatten Judas hinter uns und ließen uns eben auf die schmutzige Sache mit Pontius Pilatus ein), als es einen fernen Donnerschlag tat, gefolgt von einem leisen Grummeln, das in die hölzernen Bänke und von da in unser Rückgrat fuhr. Ein Murmeln lief durch die Reihen, doch der Priester fuhr unbekümmert fort, und Sam wisperte: »Artilleriefeuer — keine Gefahr für uns; die Deutschen haben kein Geschütz, das von ihren Schützengräben bis nach Montreal reicht.«
Das beruhigte mich. Ein paar weitere Minuten vergingen — den Kreuzwegstationen wurde gewissenhaft nachgegangen —, als es wieder einen Donnerschlag tat, näher diesmal, so dass der Geistliche zögerte und Staub aus dem Deckengewölbe rieselte. »Das war nahe!«, rief ich aus.
Sam zog die Stirn kraus. »Ich kann mir das …«
»Pst!«, machte Major Lampret. Aber es passierte wieder: eine scharfe Explosion und ein Grollen, so laut, als wäre es direkt nebenan gewesen — oder war es das? Ich hörte fernes Gebimmel, und jemand in der Stadt kurbelte eine Sirene an — ein qualvoller, schauriger Ton, den ich noch nie gehört hatte.
Jetzt war das Regiment auf den Füßen, und der Geistliche am Pult fuchtelte mit den Händen, eine dringliche, aber unverständliche Geste, und Major Lampret brüllte: »Formiert euch! Formiert euch und raus mit euch, Jungs, wir werden gebraucht, aber nicht laufen, sonst verstopft ihr den Ausgang …«
Dann wurde die Kathedrale getroffen — die Granate explodierte mit einem ohrenbetäubenden Knall, und die hohen Buntglasfenster zerplatzten und flogen nach innen. Um uns herum prasselten grellbunte und rasiermesserscharfe Scherben. Ich sah, wie ein Mann in der Nähe des Pults vom Splitter eines Glasheiligen durchbohrt wurde — tödlich, wie es aussah —, und dann brach Panik aus, ungeachtet der gebrüllten Befehle eines Major Lampret. Erst stürzte ich auch zur Tür, dann drehte ich mich um, weil ich sehen wollte, was aus der bestrickenden Chorsängerin geworden war. Doch sie war fort — nur noch ein weißes Huschen mitten in einem Schwarm sich bauschender Chorhemden, als man in ein angrenzendes Zimmer floh.
Ich stolperte hinter Sam und Julian her und hatte den Ausgang fast erreicht, als mich ein Stoß von hinten (wahrscheinlich ein übereifriger Infanterist) zu Fall brachte, so dass ich mit dem Kopf an die herrlich geschnitzte Rückenlehne einer Bank prallte und das Bewusstsein verlor.
Ich war nicht lange besinnungslos — gerade lange genug, um von meinem Regiment getrennt zu werden.
Ich hob verwirrt den Kopf und spürte den Schmerz in der Schläfe. Abgesehen von den zertrümmerten Fenstern war die Kathedrale noch intakt; die Panik hatte das Gotteshaus so gut wie leergefegt — vorne kümmerten sich der Priester und ein paar andere Geistliche um den Verwundeten. Ich befingerte meinen Kopf da, wo er Bekanntschaft mit der Sitzbank gemacht hatte: Blut — nicht viel, aber Blut. Ich sah mich nach Sam um und nach Julian und sogar nach Lymon Pugh, doch sie waren fort, vermutlich mit allen anderen zum Lager zurück, um eine Antwort gegen diese jüngsten deutschen Gräuel vorzubereiten. Sie hätten mich natürlich mitgenommen, nur dass ich zwischen zwei Sitzbänken gelegen hatte und in der allgemeinen Aufregung leicht zu übersehen gewesen war. Ich überlegte und kam zu dem Schluss, unverzüglich Anschluss an mein Regiment zu suchen, um nicht wegen unerlaubten Entfernens von der Truppe oder als Deserteur bestraft zu werden.
Als ich aus der Kathedrale torkelte, verlor ich sofort die Orientierung. Der Artilleriebeschuss hatte schwere Schäden nebenan verursacht: Die Straße, auf der wir gekommen waren, war durch Trümmer blockiert und stand teilweise in Flammen. Stadtbewohner rannten planlos hin und her, manche mit blutigen Wunden oder Verbrennungen, und rot gestrichene Löschfahrzeuge, die von schnaubenden Pferden gezogen wurden, rasselten mit wild bimmelnden Messingglocken die offenen Straßen hinunter. Aber nur bestimmte Bereiche dieser riesigen Stadt waren betroffen — sie war so riesig, dass sie unberührt schien —, und nach kurzem Überlegen beschloss ich, mich nach Osten vorzuarbeiten, bis in Sichtweite der Eisenbrücke, auf der wir hermarschiert waren. In dieser Absicht folgte ich also einer Seitenstraße, die nicht unter dem Angriff gelitten hatte, wo die vier- und fünfstöckigen Betongebäude im Parterre in Läden aufgeteilt waren und die Geschosse darüber Balkone und Eisengitter hatten und mit Frühlingsblumen geschmückt waren. Die malerische Gasse verlief allerdings nicht gerade; sie wand sich wie eine Schlange, und als ich zur nächsten Kreuzung kam, wusste ich nicht, in welche Richtung ich gehen sollte.
Inzwischen eilten unausgesetzt Einwohner an mir vorbei. Nicht einer floh vor dem Artilleriebeschuss im Viertel der Kathedrale, und alle waren zu sehr mit ihren Problemen beschäftigt, als dass sie einen einzelnen versprengten Infanteristen bemerkt hätten. Hilflos und durcheinander stand ich da, als ein weißer Schlenker auf der anderen Straßenseite meinen Blick auf sich zog — ein Chorhemd, wie Sie sicher schon erraten haben, und anhatte es niemand anderes als die Frau mit dem Spirallockenkopf und den strahlenden Augen. Ohne auf die Kutschen und Fuhrwerke zu achten, stürmte ich über die Straße.
»Sie waren in der Kirche!«, sagte ich, als ich drüben war; und sie drehte sich um und blinzelte mich an, die kleinen Hände zu Fäusten geballt für den Fall, dass ich zum Problem wurde.
»Ja?«, sagte sie brüsk.
»Sind Sie … ähm … sind Sie verletzt?«