Meine Gedanken überschlugen sich, und ich machte mir kurz Sorge um Julian. Ich musste daran denken, wie wir Eichhörnchen und anderes Wild gejagt hatten daheim in Williams Ford, und wie Julian auf diesen Streifzügen seinen Spaß gehabt hatte, aber nicht am Töten. Er war eine von diesen zarten Seelen, die instinktiv vor dem Tod zurückschrecken und besonders davor, ihn herbeizuführen. Das war keine Feigheit, sondern eine bestimmte Art von Unschuld, eine bewundernswerte, wenn nicht angeborene Empfindsamkeit, an der man durchaus sterben konnte.
In diesem Moment kam ein Wind auf und riss einen Teil des Rauchschleiers über dem erlahmten, aber grimmigen Kampfgeschehen mit sich fort. Der nächste Windstoß brachte uns glasklare Sicht auf die vordersten Linien der deutschen Verteidigung — es war, als wäre ein Vorhang weggezogen worden. Aus der aufgeworfenen Brustwehr starrten unzählige Gewehrläufe, die jetzt, da sie ein klares Ziel vor sich hatten, hastig auf uns anlegten und Rauch spuckten.
»Runter!«, brüllte Sam, der einen Moment lang vergaß, dass er nicht Kompaniechef, sondern einfacher Gefreiter war. Nichtsdestoweniger war es ein beherzter Rat, dem wir alle folgten. Wir warfen uns hin; etliche fielen unfreiwillig und rührten sich nicht mehr. Die Kugeln sirrten wie Stechmückenschwärme, die einen Angriff flogen, so heißt es irgendwo bei Mr. Easton, und wo er Recht hat, hat er Recht. Wir umarmten den Boden, als sei die vertraute Metapher von Mutter Erde die lautere Wirklichkeit — trinkende Ferkel hätten nicht intimer mit ihrer Muttersau verbunden sein können.
Das galt für uns alle, nicht aber für Julian. Ich wagte einen Blick und war schockiert. Er stand noch da.
(Dieses Bild von Julian hat einen derart tiefen Eindruck bei mir hinterlassen, dass ich es manchmal noch in meinen Träumen sehe.) Gestern hatte er seine Uniform gewaschen und getrocknet, als wäre die bevorstehende Schlacht eine Soiree, und trotz der Unbilden des Marsches sah er jetzt so sauber und makellos aus wie ein Operettensoldat. Seine Stirn lag in Falten, als habe er es nicht mit einem barbarischen Gegner zu tun, sondern mit einem vertrackten Rätsel, dessen Lösung tiefes Nachdenken erfordere. Er hielt sein Gewehr schussbereit, legte aber nicht an und schoss auch nicht.
»Julian!«, brüllte Sam. »Um Gottes willen! Runter!«
Gott verlieh der Aufforderung nicht das geringste zusätzliche Gewicht. Julian war nicht empfänglich für Gott, war es nie gewesen. Jetzt schien er auch noch unempfänglich für Gewehrkugeln. Die Salven heulten und schlugen Dreckfontänen aus dem Boden, auch vor seinen Füßen, aber keine Kugel traf Julian. Inzwischen hatten Soldaten in der Nähe bemerkt, dass Julian wie ein Wachposten dastand, mitten im heißen Bleiregen; und wir warteten auf den scheinbar unvermeidlichen tödlichen Treffer, der schon viel zu lange ausgeblieben war.
Denn die deutschen Schützen schossen sich zusehends ein, und eine Kugel schnipste wie ein Finger nach Julians Uniformkragen. Eine andere riss ihm die Mütze vom Kopf. Er rührte sich nicht. Das Schauspiel war überwältigend, da und dort erhoben sich dünne Stimmen über den Gefechtslärm und riefen anerkennend oder verzweifelt: »Julian Commongold!« Er stand und blieb stehen — es war, als sei ein Engel in Gestalt eines Fußsoldaten auf die Erde gestiegen —, die grobstoffliche Welt konnte ihm nichts anhaben, und er war so immun gegen Geschosse wie ein Elefant gegen Flohbisse.
Dann streifte eine Kugel sein Ohr. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Das Ohrläppchen verspritzte nur wenig Blut; und Julian drehte den Kopf, als habe ihm ein unsichtbarer Adjutant auf die Schulter geklopft.
Diese Feindberührung brachte ihm mit einem Schlag zu Bewusstsein, in welcher Situation er sich befand. Er warf sich allerdings nicht zu Boden. Aber die krause Stirn, die rätselnde Miene verwandelten sich in einen Ausdruck von Ärger und Verachtung. Er hob das Gewehr und zielte in aller Ruhe auf die gegnerische Brustwehr und feuerte.
Obwohl Julian kein Wort gesagt hatte, reagierten die Männer in seiner Nähe, als habe er den Befehl zum Vorrücken gegeben. Unser Standartenträger, der höchstens zwölf Jahre alt war, sprang auf und rannte mit der Regimentsfahne voran. Alle Übrigen feuerten fast gleichzeitig und stürmten mit Gebrüll hinterher.
Der Gefechtsrauch bot Deckung genug, um ohne große Verluste bis dicht an die feindliche Verschanzung zu gelangen, und unser verwegener Sturmangriff war erfolgreicher als geplant. Im Nu waren wir mit den feindlichen Schützengräben überkreuz, feuerten unsere Pittsburgh-Gewehre leer oder warfen uns hin, um nachzuladen. Die Deutschen sahen aus der Nähe aus wie Amerikaner, abgesehen von ihren merkwürdigen Uniformen, und deshalb feuerte ich auf die Uniformen, halb überzeugt, nicht Menschen umzubringen, sondern ihre Kleidung, die ihren Inhalt aus einem fernen Land hierhergetragen hatte; und sollten ein paar lebendige Männer unter dieser Versklavung durch ihre Uniform leiden oder von Kugeln durchbohrt werden, die ihr gegolten hatten — nun ja, das war unvermeidlich und ging nicht auf meine Kappe.
Dieses private Vexierspiel war nicht mit Mut zu verwechseln, erfüllte aber denselben Zweck: Es stumpfte ab.
In dieser Hölle verlor ich Julian aus den Augen und hätte auch nicht mehr als diesen Gedanken für ihn erübrigen können. (Meine Erinnerung ist nicht viel mehr als eine Collage aus Lärm und Widerwärtigkeiten.) Die Schlacht entwickelte sich rasch oder dauerte ewig — ich weiß es ehrlich nicht —, und dann gewahrten wir ein neues, alarmierendes Geräusch. Artillerie? Nicht die scharfen Salven von Pittsburgh-Gewehren, sondern stakkatoartiges Geschützfeuer, sekundenlang anhaltend — dann aufs Neue.
Sam erklärte später, was geschehen war. General Galligasken hatte seine Kavallerie in einen Flügelangriff auf die feindlichen Stellungen geschickt — im Grunde kein ungewöhnliches Manöver; aber die Kavallerie hatte sich insgeheim im Gebrauch einer neuen Waffe geübt, die unsere Antwort auf das chinesische Geschütz war.
Bei dieser Waffe, die später »Grabenfeger« genannt wurde, handelte es sich um ein schweres Gewehr mit einem enormen Magazin in Größe und Form einer Kuchenplatte, das Kugeln in die Kammer befördert, von wo sie in rascher Folge abgefeuert werden — eine Salve, die so lange anhält, wie der Finger gekrümmt wird, bis das Magazin leer ist. Die Porter&-Earle-Werke hatten nur eine relativ geringe Stückzahl dieser Waffe aufgelegt, doch eine Reihe war Galligaskens Kavalleriedivision zugeteilt worden, für Aufgaben wie diese.
Beim Angriff auf die deutschen Flanken traf unsere Kavallerie auf erbitterten Widerstand; doch der deutsche Kommandant war durch Galligaskens Frontalangriff getäuscht worden und hatte Männer von rechts und links abgezogen, um die Mitte zu verstärken. Unsere Kavallerie erlitt zwar beträchtliche Verluste, bevor sie die deutsche Verteidigung durchbrechen konnte, aber dann kamen die Grabenfeger zum Tragen, und der unerwartete Kugelregen versetzte die gegnerischen Truppen in Panik. Immer mehr Deutsche gaben ihre Stellung auf. Bald darauf flohen sie mit Sack und Pack über den Fluss, an dem sie ihren Brückenkopf gebildet hatten. Viele ertranken und wurden ans Ufer gespült und lagen herum wie die Äste eines vom Blitz getroffenen Baums.
Letzten Endes war es eine vernichtende Niederlage für Mitteleuropa. Mehr als eintausend Deutsche wurden getötet und doppelt so viele gefangen genommen. Ein bisschen mehr als fünfhundert Amerikaner kamen ums Leben.