Ich drehte mich zu Calyxa, weil ich etwas sagen wollte (was, weiß ich nicht mehr) — ihr Gesicht war nur ein paar Zoll von meinem entfernt —, doch sie legte den Finger an die Lippen. »Deine Pistole?«, flüsterte sie.
Ich holte sie wieder heraus. Eine moderne Porter-&-Earle-Armeepistole; ich war mir so gut wie sicher, dass ihr das Wetter nichts anhaben konnte.
»Ziele damit«, sagte sie,
»Worauf?«
»Zwischen deine Füße!« Wo das Dach aufhörte, meinte sie: auf die Regenrinne, an der wir uns eben hochgezogen hatten. Ich kam ihrer Laune nach, stützte meine Rechte mit der Linken ab und stemmte meine Füße gegen die Ziegel, um nicht abzurutschen. So warm der Tag gewesen war, der Regen schien sich aus irgendeiner eisigen Höhe zu stürzen, und ich musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht zu zittern. »Vielleicht kommen sie gar nicht auf die Idee, mich hier oben zu suchen«, sagte Calyxa. »Wenn doch, dann musst du sofort abdrücken, wenn jemand über den Rand will. Mit anderen Worten, sobald du einen Kopf siehst, puste ein Loch rein. Jetzt sei still!«
Ich hatte kein Problem damit, die Nacht schon eher — sie war entsetzlich laut. Der Regen hatte die Geschwindigkeit von Artilleriefeuer und zerbarst auch so auf dem Dach. Die Dächer dieser Montreal-Gebäude waren unregelmäßig — das war nicht die Handschrift der Säkularen Alten, die einer strengen Symmetrie folgte. Sie waren vielmehr oberflächlich und konzeptlos den skelettierten Resten älterer Gebäude übergestülpt worden. Wasser gurgelte durch ein Labyrinth aus Abzugsrohren und Schrägen, stürzte kaskadenartig in gemauerte Zisternen und Rückhaltebecken und strömte in glitzernden Wellen über die Dachpfannen. Als hätten wir uns vor einer Überschwemmung aufs Dach gerettet, wenn man vom Lärm absah.
Doch Calyxa lauschte angestrengt auf Geräusche aus dem Zimmer, das wir eben erst verlassen hatten. Sie hielt eine Hand ans Ohr, und ich lauschte in dieselbe Richtung, allerdings ohne Erfolg — oder mit zu viel Erfolg, denn ich bildete mir laufend ein, Schläge, splitterndes Holz und dergleichen zu hören, und rechnete jeden Moment mit einem wutschnaubenden Blakebruder. Plötzlich versteifte sich Calyxa und bekam große Augen. »Achtung, Adam!«
Ich konzentrierte mich auf die Dachtraufe, mein Herz hämmerte im Gefechtstempo. Das Regenwasser in meinen Augen verflüssigte die Details. Ich sah das Ende der letzten Dachpfannen und den Rand der Dachrinne und das Hochhaus auf der anderen Seite der Guy Street und einen Abschnitt der Straße tief unten. Es tat ein Geräusch, wie wenn ein Fenster aufschlägt und gegen einen Widerstand knallt. Calyxa holte erschrocken Luft, und ich hätte es fast vergessen.
Sekunden vergingen. Es schüttete; es krachte, und Blitze krakelierten die blinde Glasur der dicht gedrängten Wolken.
Dann rührte sich etwas an der Dachtraufe zu meinen Füßen, ein Paar Fingerknöchel, vier rechts, vier links, packten über den Außenrand der Rinne. Das war der »Dachhorizont«, schoss es mir durch den Kopf, und schon ging ein haariger Mond auf.
Der Mond war ein Blakebruder, der den vermutlichen Fluchtweg seiner Schwester erforschte. Vielleicht hatten die beiden ihre Meinung über Calyxas geistige und körperliche Fähigkeiten inzwischen geändert. Nach dem Kopfhaar zu urteilen, hatte ich es auf jeden Fall mit einem Blake zu tun:
Das Haar auf diesem unwillkommenen Mond war so gekräuselt wie das von Calyxa, aber wild durcheinander und so ölig, dass es die Blitze mit tintenblauen Spitzlichtern belohnte. Dem Kopfhaar folgte eine Stirn, die, so abschüssig und pockennarbig, wie sie war, den Vergleich mit dem Mond nicht zu scheuen brauchte; dann folgten die Augen, gelb umrandet und rot geädert — sie begegneten den meinen und verengten sich, wie bei einer Wildkatze, die ihre nächste Mahlzeit in Sprungweite weiß.
»Schieß!«, schrie Calyxa.
Ich kann mir nicht vorstellen, einer Aufforderung nachgekommen zu sein, die von mir verlangte, einen anscheinend unbewaffneten Mann in einem so verletzlichen Moment zu erschießen (selbst dann nicht, wenn er mein Feind war) — es kann nur sein, dass Calyxas Stimme so in meinen Finger gefahren ist, dass er vor lauter Schreck abgedrückt hat. Ich spürte den Rückstoß. Das Geräusch gesellte sich zu den plärrenden Donnerschlägen. Da wo eben noch der Kopf gewesen war, spritzte ganz kurz eine rot-weiße Fontäne (aus Knochen und Blut vermutlich); ein Schrei zerriss das Unwetter, und unter uns tat es fürchterliche dumpfe Schläge, als der Verletzte (von seinem Bruder wahrscheinlich) ins Zimmer zurückgezogen wurde.
Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen — das war etwas ganz anderes, als auf deutsche Uniformen hinter einer Brustwehr zu schießen, doch Calyxa hatte ihre Geistesgegenwart bewahrt. Sie packte meine freie Hand und riss daran. »Jetzt lauf!«, sagte sie.
Sie machte es mir vor und krabbelte die Dachschräge hinauf, wobei ihre bloßen Füße einen Zoll zurückrutschten, wenn sie zwei gewonnen hatten. Ich schlingerte hinterher. Schließlich erreichten wir den Dachfirst, wo sich eine Reihe primitiver Schornsteine gegenseitig stützten wie arthritische Vorposten auf einem Hügelkamm. Ich warf einen Blick zurück auf die Dachrinne und sah eine Hand, die eine Pistole schwenkte und sie blind abfeuerte. Eine Kugel streifte den Schornsteinziegel direkt neben meinem Kopf, und Calyxa zerrte mich voran, so dass wir auf der anderen Dachschräge hinunterschlitterten — in den sicheren Tod, wie ich dachte; doch die Schräge schloss sich unmittelbar an die nächste an, so dass wir in einer Art Flussbett aus Mönch-und-Nonnen-Ziegeln landeten, durch das wir noch ein paar Meter weiterplantschten. Dann sprang Calyxa ungeachtet der gähnenden Leere über einen schmalen Spalt zwischen zwei Gebäuden, und wieder folgte ich ihrem Beispiel. Mit Mut hatte das wenig zu tun — jeder Regentropfen war wie ein Schuss zwischen die Schulterblätter.
Ich will nicht auf alle die mühseligen Kletterpartien und schwindelerregenden Abstiege, gefährlichen Rutschpartien und schmerzhaften Beinahe-Katastrophen eingehen, die uns in die Quere kamen, als wir in dieser stürmischen Nacht über die finsteren Dächer von Montreal flohen. Nach einiger Zeit wurden wir ruhiger und vorsichtiger. Es sah nicht so aus, als würden wir verfolgt — immerhin hatte ich einen der Blakebrüder, wenn nicht getötet, so doch schwer verletzt, und der andere würde seinen hilflosen Bruder wohl kaum zurücklassen, um uns über die mit Dachpfannen gedeckten Schrägen der Stadt zu jagen, und sicher nicht in einem Unwetter, dass man Trichterwolken den Sankt Lorenz hinuntertreiben sah. Es soll genug sein, wenn ich sage, dass wir zu guter Letzt auf eine eiserne Feuertreppe stießen, mehr als eine Meile vom Thirsty Boot entfernt (die Richtung bleibt mir schleierhaft), und dass meine bloßen Füße beim Abstieg blutige Abdrücke auf den rostigen Leitersprossen hinterließen. »Wohnst du hier irgendwo?«, fragte ich Calyxa atemlos.
Der Regen hatte sie durchnässt — an ihr war alles glatt oder baumelte, nur nicht ihr Haar, das o Wunder seine ganze lockige Tiefe behalten hatte. Das Männerhemd klebte so an ihrem Leib, dass es taktlos gewesen wäre, noch länger hinzusehen. Sie hatte ihre Schuhe mit den Schnürsenkeln zusammengebunden und trug sie wie einen klobig-primitiven Schmuck um den Hals gehängt. Sie zog sie geschickt wieder an und musste sich vornüberbeugen, um sie zu schnüren. Ich hatte diese Möglichkeit nicht, weil meine Stiefel oben im Thirsty Boot lagen.
»Nicht weit von hier«, sagte sie und richtete sich auf.
»Darf ich dich denn diesmal nach Hause bringen?«
Sie brachte trotz der schrecklichen Umstände ein Lächeln zustande. »Ich will dich nicht barfuß im Regen stehen lassen, Adam Hazzard«, sagte sie. »Nicht in so einer Nacht.«