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Es gibt eine Form des städtischen Lebens, habe ich entdeckt, in der sich Armut und Luxus vermischen und das eine nicht mehr vom anderen zu unterscheiden ist. Das galt für die Wohnung von Calyxa Blake. Sie bewohnte etliche Zimmer in einem Gebäude, das sein anonymer Eigentümer in dunkle, aber bezahlbare Einheiten aufgeteilt hatte. Die Zimmer waren klein, die Fenster winzig, die Decke gefährlich niedrig. Sie konnte nicht viel ausgegeben haben für die Einrichtung, sie war schäbig, fadenscheinig, mit Kerben und gesplitterten Kanten — am Bordstein von Montreal hatte ich bessere Möbel stehen sehen.

Aber so bescheiden die Bücherregale waren, die Bretter bogen sich unter der Last — hier standen fast so viele Bücher wie im Duncan-und-Crowley-Landgut daheim in Williams Ford. Das schien mir ein Schatz, der respektabler war als irgendein schönes Sofa oder ein Plüschbänkchen für die Füße — der so viel wert war wie alles, was Calyxa sich ringsherum versagt hatte.

Wir hinterließen kleine Pfützen, wenn wir stehen blieben, und der Sturm schlug unverdrossen mit seinen Schwingen gegen die Fenster dieser gemütlichen, wenn auch dürftigen Zuflucht. Sowie Calyxa die verschiedenen Riegel vorgeschoben und die nächstbeste Lampe entzündet hatte, fing sie an, sich unbefangen ihrer triefnassen Kleidung zu entledigen. Meine Ohren brannten, und ich sah beiseite. »Du auch«, sagte sie. »Keine Ausnahmen für Jungs aus dem prüden Westen — du machst noch alles nass hier.«

»Ich habe nichts anderes dabei!«

»Ich suche dir was raus. Zieh dich schon mal aus — wenn du sie anlässt, trocknet die Hose nicht.«

Diese außergewöhnliche Feststellung war unbestreitbar richtig; und ich machte, was sie vorschlug, während sie in ein anderes Zimmer ging. Als sie zurückkam, trug sie ein chinesisches Kostüm, das mit lauter fantastischen Drachen bestickt war, und brachte für mich ein ähnliches Kostüm und ein Handtuch mit.

Ich trocknete mich bereitwillig ab, scheute aber vor dem Kostüm zurück. »Ich glaube, das ist nur für Frauen.«

»Das ist Seide. Alle Chinesen, die etwas auf sich halten, tragen einen Kimono, auch die Männer. Man kann sie unten an den Docks kaufen — billig, wenn die Boote kommen und wenn du den richtigen Verkäufer kennst. Zieh das bitte an.«

Ich gehorchte, kam mir aber doch ein bisschen lächerlich vor. Dabei bot der Kimono, wie Calyxa das Kostüm nannte, ausreichend Bedeckung und war bequem und warm. Solange kein Blakebruder die Tür eintrat und mich erschoss, wollte ich zufrieden sein, denn in so einem Kostüm zu sterben konnte unangenehme Fragen aufwerfen.

Calyxa machte Feuer im Herd und setzte einen Kessel auf. Während sie in der Küche werkelte, besah ich mir ihre Bibliothek. Ich hielt nach einem Titel von Mr. Charles Curtis Easton Ausschau, den ich noch nicht kannte. Doch Calyxa hatte einen anderen Geschmack. Nur wenige Bücher waren Romane, und noch weniger trugen das Prüfsiegel des Dominions. Die Autorität des Dominions schien im Westen gefestigter als im Grenzland, das so oft den Besitzer gewechselt hatte. Titel und Autoren waren mir völlig fremd. Französisch konnte ich sowieso nicht entziffern, und von den englischen Titeln griff ich mir American History Since the Fall of the Cities von Arwal Parmentier heraus. Das Buch war in England erschienen — ein Land, das zwar nur dünn besiedelt war, aber auf eine lange Geschichte zurückblicken konnte und dessen Bündnis mit Mitteleuropa eher von Formalien denn von Überzeugung geprägt war. Ich ging mit dem Band näher ans Licht, schlug ihn irgendwo auf und las diesen Abschnitt:

Der Aufstieg der Aristokratie sollte nicht allein als Folge der natürlichen Verknappung von Öl, Platin, Iridium und anderen Ressourcen der Technologischen Blütezeit verstanden werden. Der Trend zur Oligarchie zeichnete sich bereits vor der Krise ab und trug mit zu ihr bei. Noch vor dem »Niedergang der Städte« war die Weltwirtschaft zu dem geworden, was unsere Bauern eine »Monokultur« nennen, stromlinienförmig und vergleichsweise effizient, jedoch ohne die Vielfalt, die früher durch Staatsgrenzen und lokale Bewirtschaftung gefördert wurde. Lange bevor Seuchen, Hungersnot und Kinderlosigkeit die Bevölkerungszahl so drastisch reduzierte, begann sich der Reichtum bereits in den Händen einer Minderheit von einflussreichen Eigentümern zu konzentrieren. Als die Verknappung kritisch wurde, begegnete man ihr folglich nicht mit bedächtigen oder wohlüberlegten Maßnahmen, sondern mit einer entschlossenen Machtergreifung seitens der Oligarchen und einem Rückzug in religiösen Dogmatismus und klerikale Autorität seitens einer verängstigten und entrechteten Masse.

Mir war sofort klar, warum dieses Buch nicht das Prüfsiegel bekommen hatte, und ich wollte es eben zurückstellen, als Calyxa hereinkam, in jeder Hand eine Tasse Tee. »Du liest, Adam Hazzard?« Sie schien überrascht.

»Und ob — so oft ich kann.«

»Tatsächlich! Hast du Parmentier gelesen?«

Ich gab zu, nicht das Vergnügen gehabt zu haben. Mit politischer Philosophie hätte ich mich noch nie beschäftigt, erklärte ich.

»Schade. Parmentier nimmt kein Blatt vor den Mund. Alle meine Freunde haben ihn gelesen. Wen liest du denn?«

»Ich bewundere die Bücher von Mr. Charles Curtis Easton.«

»Noch nie gehört.«

»Er schreibt Romane. Vielleicht kann ich dich eines Tages mit seinem Werk bekanntmachen.«

»Vielleicht«, sagte Calyxa, und wir setzten uns aufs Sofa. Sie nippte an ihrem Tee und kam mir recht entspannt vor — immerhin hatte sie zugesehen, wie ich ihrem mordlustigen Bruder ein Loch in den Kopf geschossen hatte, und war den lieben langen Abend auf den Dächern von Montreal herumgesprungen. Dann setzte sie ihre Tasse ab und sagte: »Schau mal auf deine Füße — der ganze Teppich ist voll Blut.«

Ich bat um Entschuldigung.

»Es geht mir nicht um den Teppich! Komm, lehn dich zurück und leg die Füße aufs Handtuch.«

Ich tat, was sie wollte, und sie ging etwas holen — sie kam mit einer Salbe zurück, die nach Alkohol und Kampfer roch und erst brannte und dann Linderung brachte. Sie untersuchte meine Füße gründlich und umwickelte jeden mit einer fusseligen Binde. »Und du hast deine Stiefel zurückgelassen?«, sagte sie.

»Ja.«

»Das war nicht klug. Armeestiefel. Job kann sich denken, dass ich mit einem amerikanischen Soldaten zusammen war, und das macht alles nur noch schlimmer.«

Dass man dem einen Bruder in den Kopf geschossen hatte, musste den anderen so wütend gemacht haben, dass die Armeestiefel ein Fliegendreck dagegen waren; trotzdem nahm ich Calyxas Sorge ernst. »Nichts gegen deine Familie, Calyxa, aber ich wünschte allmählich, ich hätte sie beide erschossen.«

»Das wünschte ich auch, aber wir hatten keine Gelegenheit. Deine armen Füße! Morgen früh wirst du noch einmal verarztet, und dann besorge ich dir anderes Schuhwerk; du musst ja noch zu deinem Regiment zurück.«

So weit hatte ich noch gar nicht gedacht; die Aussicht war entmutigend, aber Calyxa wechselte das Thema. »Adam Hazzard, vielen Dank für alles, was du heute für mich getan hast. Zuerst habe ich an deinen Beweggründen gezweifelt, aber Evangelica hatte Recht — du bist genau so einfach, wie du ausschaust. Ich möchte dich belohnen«, und sie legte mir den Arm um die Schulter und zog meinen Kopf zu sich heran und küsste mich leise auf die Wange, »und zwar auf die bestmögliche Weise, aber das geht im Moment leider nicht …«

Meine Haut prickelte noch, wo Calyxas Lippen sie berührt hatten. »Du brauchst mir nichts zu erklären! Ich würde nie versuchen, dich vom Weg der Tugend abzubringen, nur weil ich dir geholfen habe!« (Und ich zupfte meinen Kimono zurecht, um den Beweis des Gegenteils zu kaschieren, den meine männliche Natur soeben antrat.)

»Das ist es nicht. Ich will mich wirklich bedanken, Adam. Es würde mir genauso viel Spaß machen wie dir. Verstehst du? Aber der Zeitpunkt ist nicht günstig.« »Natürlich nicht, die Schießerei und alles.«