Ins Ohr. Mein Gott! Ich schauderte bei dem Gedanken, als wäre alles, was ich heute erlebt hatte, weniger schlimm gewesen. »Ich habe aber kein Gewehrfeuer gehört.«
»Es muss schon im Gefecht passiert sein oder direkt danach. Vielleicht hat ihn einer von diesen Scharfschützen erwischt.«
»Vor so langer Zeit? Das muss er doch gemerkt haben.«
»Die Wunde hat nicht stark geblutet, ich meine, äußerlich. Und die Kugel sitzt im Gehirn, Adam. Leute mit einer Kugel im Gehirn verlieren alle möglichen Empfindungen, und manchmal wissen sie nicht mal, dass sie getroffen wurden. Er zum Beispiel, ich glaube, er weiß es noch gar nicht. Und daran wird sich auch nichts mehr ändern, Adam. Er liegt nämlich im Sterben.«
Ich hatte Angst, Captain Glasswood könne etwas von dieser unseligen Diagnose mitbekommen und sich aufregen, doch Sam hatte Recht; falls er etwas verstanden hatte, berührte es ihn nicht. Der Captain schloss lediglich die Augen und rollte sich seitlich zusammen wie jemand, der es sich auf einer weichen Matratze bequem macht. »Kannst du mir nicht eine Decke aus der Truhe holen?«, fragte er sehnsüchtig. »Mir ist kalt, Lucille.«
Dann stieß er einen einzigen Schrei aus und hörte auf zu atmen.
Von unserer Kompanie waren keine zwanzig Männer übrig, und wir hatten soeben unseren einzigen Kommandeur verloren. Es gab selbstverständlich noch Lampret, aber Lampret war ein Dominion-Mann ohne Kampferfahrung. Und momentan war Lampret nicht hilfreicher als ein Holzstöckchen, wie er dastand und auf Captain Glasswoods Leiche starrte, als sei sie wie ein giftiger Pilz aus dem Boden geschossen. Die Männer der Kompanie richteten in stummer, intuitiver Einhelligkeit ihren Blick auf Julian. Und Julian blickte auf Sam, womit er ihm Respekt und Gefolgschaft der einfachen Soldaten sicherte.
»Stellt eine Wache auf«, sagte Sam, als er begriffen hatte, wer jetzt die Bürde der Verantwortung trug. »Ich denke aber, wir sind so weitab vom Schuss, dass wir Captain Glasswood begraben können, ohne feindliches Feuer auf uns zu ziehen. Zurückbringen können wir ihn jedenfalls nicht, und einfach liegen lassen sollten wir ihn nicht.«
Der Boden war allerdings steinhart gefroren, so dass es unmöglich war, den Captain richtig zu begraben; also scharrten wir einen flachen Graben aus dem dicken fauligen Teppich aus Kiefernnadeln, wälzten den Captain hinein und schaufelten ihn zu. Sehr lange würde ihn das nicht vor wilden Tieren schützen, aber es war immerhin eine christliche Geste. Wir mussten nachhelfen, damit Major Lampret in die Gänge kam und mit brüchiger, zittriger Stimme ein passendes Gebet sprach. Julian schien vom Tod berührt und machte nicht eine einzige despektierliche Bemerkung über Gott. Der Tod des Captains hatte uns allen zugesetzt — seltsam genug in Anbetracht der vielen Tode, die wir heute mitbekommen und geschluckt hatten. War die Einsamkeit des Waldes schuld? Oder lag es an den Wolken, aus denen eisige Schneekörnchen rieselten? Oder daran, dass es weit und breit keine Banner und Hornsignale gab?
Wir hatten jetzt ein gewaltiges Problem — obwohl Sam das so nicht sagte —, weil wir nämlich Captain Glasswood eine kluge Strategie unterstellt hatten, als er uns weg vom Schlachtfeld und tief in die Wildnis geführt hatte. Und weil diese Strategie, falls sie jemals existiert hatte, einem zerstörten Hirn entsprungen und mit ihm dahingeschieden war.
Mit anderen Worten — Worte, die ich nur ungern aussprach, selbst in der Abgeschiedenheit meiner Gedanken —, wir steckten rat- und orientierungslos irgendwo in der Wildnis des oberen Saguenay.
An Gefechtslärm konnten wir uns kaum noch erinnern. Entweder waren die Deutschen aus ihren Gräben verjagt worden, verjagt auch alle Versprengten, und der Krieg hatte wieder einmal Pause, oder wir waren schlicht und einfach außer Hörweite geraten. Letzteres war am wahrscheinlichsten, denn wir hatten viele bewaldete Hügelkämme überquert, die Geräusche auf unvorhersehbare Weise dämpfen oder verstärken konnten. Es sei das Beste, erklärte Sam der Kompanie kurz nach dem letzten Gebet für Captain Glasswoods Seele, zu unseren Linien zurückzukehren. Nur dass wir vielleicht nicht auf dem kürzesten Weg zurückkehren würden, solange wir »keine festen Orientierungshilfen« hätten, und dass wir uns in der Zwischenzeit wie ein Spähtrupp zu verhalten und uns Stellungen und Verteidigungsanlagen der Deutschen zu merken hätten, sofern wir über die eine oder andere stolpern würden. Sam wollte versuchen, uns auf demselben Weg zurückführen. Ob er wirklich so erfahren war oder uns nur bei Laune halten wollte, war schwer zu sagen.
Wir marschierten noch stundenlang, und bei Einbruch der Dunkelheit schienen wir unseren Linien um keinen Deut näher zu sein. Sam äußerte sich nicht dazu. Feuer zu machen wagten wir nicht. Nach einer Notration — unser Proviant ging zur Neige — suchten und improvisierten wir Schutz vor der Witterung und wickelten uns in unsere Decken, um zu schlafen … was einige wohl auch konnten, obwohl die kahlen Äste der Bäume knarrten wie das Spantenwerk eines Geisterschiffes und der Wind wie Meeresrauschen klang.
»Ich habe das Gefühl«, sagte Lymon Pugh, »dass wir ziemlich tief in der Tinte sitzen.« Niemand widersprach ihm.
Lymon Pugh war so ausgezehrt wie wir alle (wir hatten einfach zu lange in den Gräben gehockt), nur seine muskulösen, von Messern zernarbten und mit Rinderblut tätowierten Unterarme machten noch was her, auch wenn sie fast in den dicken Ärmeln seiner Wolljacke verschwanden. Ihn zur Seite zu haben beruhigte ungemein. Wir pilgerten hinter Sam her, der den Pfadfinder spielte. Im Wald ging es schon eine Weile bergan, und wir schwitzten trotz der frostigen Kälte.
Der Tag war kalt, aber der Himmel zum Glück nicht bedeckt, und so konnte uns die Position der Sonne helfen, die Himmelsrichtungen zu bestimmen. Wir wussten, wir waren östlich des Saguenay und wahrscheinlich ein gutes Stück nördlich von unseren Linien. Dass wir noch frei herumliefen, hatten wir der Tatsache zu verdanken, dass dieser Teil des Landes unbewohnt war. Doch lange ließ sich die Zivilisation nicht mehr meiden, es sei denn, wir würden uns hier niederlassen, doch leider gab es hier so gut wie nichts mehr zu futtern — selbst Kleinwild war vom Krieg vertrieben oder von hungrigen deutschen Soldaten verputzt worden. Der Wald wurde immer steiler. Oben angekommen, hob Sam die Hand und gab uns flüsternd zu verstehen, jedes Geräusch zu vermeiden.
Einzeln oder zu zweit duckten wir uns an den Scheitel des Hügels und sahen einen langen, sanft abfallenden Hang hinunter, an dem eine Eisenbahntrasse (die deutsche Schmalspur) schräg heraufführte, um uns nur knapp zu verfehlen. Es sprach viel dafür, dass wir es mit der Trasse zwischen Chicoutimi und den mitteleuropäischen Besitzungen am Lake St. John zu tun hatten. Oder die Trasse hatte die felsige Atlantikküste im Visier — die deutschen Besatzer hatten Jahrzehnte Zeit gehabt, Scharen von Schienensträngen quer über Labrador zu verlegen.
Für uns war es wichtig, dass die Trasse mit Chicoutimi verbunden war; wir konnten das Städtchen erkennen, es lag jenseits einer verschleierten Winterwildnis, nicht mehr als ein verschwommener, schmutziger Fleck am blauen Band des Saguenay. Und das bedeutete, wir hatten die Orientierung zurückgewonnen — auch wenn wir noch sehr weit von unserem ersehnten Ziel entfernt waren. Der Weg, der vor uns lag, war nicht zu verfehlen: Wir brauchten lediglich dem Schienenstrang zu folgen, bis wir auf freundlicheres Territorium wechseln konnten. Uns fielen gleich mehrere Steine vom Herzen, denn das, was jetzt noch vor uns lag, war keine allzu große Strapaze mehr. In Gedanken waren wir schon bei unserem alten Regiment und machten uns über das warme Abendessen her.
Doch die Heimkehr musste noch ein paar Augenblicke warten. Sam bat sich strikte Ruhe aus. Er nickte gen Osten und machte uns auf die Dampfspur aufmerksam, die über den verschneiten Pässen hing — ein Zug näherte sich. »Bleibt in Deckung, bis er vorüber ist, ich meine jeden einzelnen von euch, kapiert?«