Wir waren nur ein paar Meter von der Stelle entfernt, wo die Trasse ihren Scheitelpunkt erreichte, um sich dann allmählich in Richtung Chicoutimi abzusenken; gleich würde der Zug dicht an uns vorüberrattern. »Sollten wir nicht schießen, wir sind schließlich Soldaten?«, fragte Lymon Pugh.
»Und wenn es kein militärischer Zug ist?«, sagte Sam. »Was bringt es, auf unbewaffnete Zivilisten zu schießen, selbst wenn es Deutsche sind? Außerdem kann der Schuss nach hinten losgehen; das Gewehrfeuer würde uns ein für alle Mal verraten.«
Niemand protestierte. Wir hatten ohnehin nicht mehr viel Munition, auch weil wir zu oft auf (leere) Eichhörnchennester geschossen hatten in der vergeblichen Hoffnung, wir könnten uns ein bisschen Frischfleisch vom Baum holen. Wir kauerten dicht beisammen zwischen Felsblöcken und dürren Winterbüschen, bis wir hören konnten, wie der deutsche Zug ratternd bergan keuchte. Ich war gespannt, wie so ein mitteleuropäischer Zug aussah, gesehen hatte ich nämlich noch keinen.
Endlich keuchte er in Sicht — insoweit die Funktion die Form diktiert, unterschied er sich nur wenig von einem amerikanischen Zug, ansonsten sah er dagegen ausgesprochen wohlgestaltet, ja beinah edel aus, und die Lokomotive war in einem ungewöhnlichen Blaugrau gestrichen. Wenn der Zug etwas Beängstigendes hatte, dann war es nicht sein Äußeres, sondern sein Tempo, er fuhr langsam, schlimmer noch, immer langsamer. Es sah wahrhaftig so aus, als wolle er jeden Moment stehen bleiben.
Wir hoben die Köpfe, obwohl Sam uns gewarnt hatte. Es war ein Militärzug, so viel stand fest. Die Lokomotive zog nur zwei Waggons, auf beiden prangte das Kreuz-und-Lorbeer-Emblem der westeuropäischen Streitkräfte. »Wir hätten die Schienen rausreißen sollen«, flüsterte mir Lymon Pugh zu, »damit das Ding — ich meine, was in den Waggons ist — nicht nach Chicoutimi kommt.«
»So viel Zeit war nicht«, sagte ich, »auch wenn wir dran gedacht hätten. Vielleicht können wir das Gleis später noch kaputt machen; jetzt pass auf, Lymon, ich glaube, der Zug fährt nur bis hier.«
Auf so eine Situation waren wir nicht vorbereitet. Sam winkte, uns von diesem rätselhaften Zug zu entfernen, ohne ihn aus den Augen zu verlieren. Also duckten wir uns am Hügelkamm entlang … Warum waren die Deutschen auf diesen Hügel unweit von Chicoutimi gekommen und hielten ausgerechnet da, wo wir gerade waren? Uns fiel keine plausible Erklärung ein.
In einem kahlen Birkengehölz gebot Sam uns Einhalt; der mulchige Boden war bestens geeignet, uns gegen zufällige Entdeckung zu tarnen. Wir beobachteten den Zug in atemloser Erwartung. Jemand äußerte allen Ernstes die Vermutung, die Deutschen seien vielleicht unseretwegen hier; doch Sam hielt dagegen, ein versprengter Haufen amerikanischer Fußsoldaten sei den Deutschen nie und nimmer so viel Aufhebens wert.
Major Lampret befreite sich aus seiner lähmenden Angst und sagte: »Wir sollten uns so weit wie möglich von diesem Ding entfernen. Wir bringen uns unnötig in Gefahr — warum ziehen wir uns nicht zurück?«
»Wir sind hier so sicher wie sonst wo«, sagte Sam gelassen. »Hauptsache, man sieht uns nicht. Rühren Sie sich nicht vom Fleck.«
»Erdreisten Sie sich nicht, mir Befehle zu erteilen«, sagte Lampret.
Offensichtlich war Major Lamprets Rückgrat nachgewachsen; aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, um über die Befehlsstruktur im amerikanischen Militär zu diskutieren, dachte ich. Die anderen mussten auch so denken, denn sie gaben ihm durch kurze Zischlaute zu verstehen, er solle still sein. »Wahrscheinlich könnten wir alle nach Hause fliegen, wenn wir Engelsflügel hätten«, murrte jemand.
Lampret gab nach, weil er keine Meuterei wollte; zu Sam sagte er leise: »Im Lager werden wir uns über Insubordination unterhalten.«
»Guter Zeitpunkt«, sagte Sam, und Lampret überließ sich wieder seiner Angst.
Inzwischen stand der deutsche Zug, und die Ventile der Lokomotive ließen geräuschvoll Dampf entweichen; aus dem letzten Waggon kletterten ein paar mitteleuropäische Soldaten. Sie waren augenscheinlich interessiert an einer kleinen Lichtung auf der Westseite der Trasse — eine Granitflanke, die mit Kieselsteinen und spröden Krautbüscheln bedeckt war. Die Deutschen nahmen diesen flachen Bereich peinlich genau unter die Lupe, beschatteten die Augen und spähten in Richtung des fernen Saguenay und besprachen sich in ihrem Kauderwelsch. Dann kehrten sie zum Zug zurück und rollten die Tür eines der beiden Güterwaggons auf.
Die Öffnung ließ einen Sonnenstrahl ins Innere — die Ladung des Waggons verschlug uns den Atem: ein chinesisches Geschütz.
Sam teilte zwei Männer ein, die feindlichen Soldaten zu zählen, die aus dem Zug stiegen und Vorbereitungen trafen, das Geschütz zusammenzubauen. Was die Deutschen vorhätten, fragte ich Julian.
»Das liegt doch auf der Hand, Adam. Sie richten eine Artilleriestellung ein.«
»Was — hier? So weit vom Kampfgeschehen?«
»Du vergisst die enorme Reichweite. Darin liegt ja der Vorteiclass="underline" Das chinesische Geschütz kann weit weg von den kämpfenden Linien stationiert werden und trotzdem eine äußerst wirksame Waffe sein. Der Nachteil ist, dass es so wuchtig und unhandlich ist, dass es von einem ganzen Konvoi an Pferdewagen oder eben mit dem Zug transportiert werden muss.«
Beide Güterwagen waren jetzt offen; nach dem, was wir zu sehen bekamen, würden Montage und Inbetriebnahme des Geschützes keine leichte Aufgabe für die deutschen Soldaten sein. Die Basis mit Schwenk- und Kippvorrichtung nahm einen Waggon und der teleskopartig zerlegte Lauf den anderen in Beschlag. Der Zug hatte außerdem zwei Maultiere mitgebracht, deren Kräfte wohl unverzichtbar waren, sowie Winden und Hebebäume und anderes Gerät. Es gab außerdem noch eine Reihe von Kisten, auf denen BOMBE stand, ein Wort, das selbst Lymon Pugh aus dem Deutschen übersetzen konnte.
Wir zählten etwa fünfzehn Artilleristen, wie viele Männer sich noch an Bord der Lokomotive befanden, entzog sich unserer Kenntnis.
»Zahlenmäßig sind wir ihnen überlegen«, bemerkte Julian.
»Vielleicht«, sagte Sam. »Aber sie sind deutlich besser bewaffnet.«
»Aber das Überraschungsmoment ist auf unserer Seite.«
»Willst du damit sagen, wir sollen die deutsche Artillerie angreifen?«
»Ich will damit sagen, dass wir — wenn irgend möglich — verhindern müssen, dass solche Granaten auf amerikanische Soldaten abgefeuert werden.«
Das war eine kühne, aber aufrüttelnde Erklärung, und sie gefiel einigen in unserer Kompanie, die es den Deutschen nur zu gerne heimzahlen wollten, dass sie uns mit ihrem Krieg belästigten und Captain Glasswood feige durchs Ohr in den Kopf geschossen hatten. Sam lächelte. »Gut gesagt. Aber wir müssen einen klaren Kopf bewahren. Was würdest du tun, wenn du das Kommando hättest?«
»Den Zug kapern«, sagte Julian.
Die Kompanie drängte sich im Kreis, manche mit einem Grinsen im Gesicht, nur Major Lampret sah düster drein und schüttelte den Kopf.
»Das ist ein Ziel«, sagte Sam geduldig, »noch kein Plan. Wie sieht dein Plan aus?«
Julian überlegte kurz, besah sich den Zug und die Gegend ringsum. »Auf diesem Vorsprung gehen die meisten von uns in Stellung; von da aus kann man den Kamm des Hügels überblicken — wo die hohen Bäume stehen, siehst du? Da haben wir gute Deckung und freie Schusslinie, was wichtig ist, denn wir dürfen keine Munition verschwenden; von da aus können wir jeden treffen, solange er nicht in Deckung geht.«
»Hier kommt das Überraschungsmoment ins Spiel«, sagte Sam.
»Und ein Ablenkungsmanöver! Wir könnten zwei Leute hierlassen, die irgendetwas veranstalten, was die Aufmerksamkeit der Deutschen in genau die falsche Richtung lenkt.«
Die beiden diskutierten die Idee ausführlich, und andere Männer steuerten Bemerkungen bei. Dann sagte Sam: »Es könnte funktionieren. Ja, ich denke, es klappt, wenn wir exakt so vorgehen. Aber dann hätten wir einen Zug mit einem chinesischen Geschütz an Bord — was dann?«