Mehrere Kameraden sprangen aus dem Zug und halfen Julian. Bald war der Major an Bord; es hatte ihn schlimm erwischt — die Kugel des Artilleristen hatte die Schulter durchschlagen und vorne und hinten hässliche Wunden hinterlassen —, aber er konnte frei atmen, und wenn er rasch in ärztliche Obhut kam, hatte er vermutlich gute Chancen, wieder gesund zu werden.
Falls es Major Lampret darum gegangen war, seinen Mut zu beweisen, hatte er Pech gehabt. Ich fand, es war tapfer von ihm, dem deutschen Soldaten nachzusetzen. Aber Julians Tapferkeit war von einem anderen Kaliber, zumal es ihm darum gegangen war, das Leben eines Menschen zu retten, den er verachtete; und das brachte ihm die Bewunderung der anderen Männer ein, während man für den schwer verwundeten Lampret nur das übliche Mitleid empfand.
Lampret blieb bewusstlos, zum Glück, denn Neid und Missgunst hätten ihn auf der Stelle umgebracht.
Die Schießerei und die Verletzung von Major Lampret verlieh unserer Talfahrt, die so glorreich hätte sein können, etwas Düsteres, ein Gefühl, das noch verstärkt wurde durch die Landschaft ringsum; unser Zug rollte aus dem Winterwald in wahrhaft höllische Gefilde hinaus: aufgewühlte und gefrorene Krater; Stacheldrahtverhaue, in denen Leichen hingen, und verkohltes Fachwerk ausgebrannter Bauernhäuser. Während unserer Abwesenheit hatte hier ein fürchterlicher Kampf getobt.
Wir begannen unsere Möglichkeiten durchzuspielen. Von hier lief die Eisenbahntrasse geradewegs zu dem befestigten Städtchen Chicoutimi, das, soweit wir wussten, noch in Feindeshand war. Aber Julian fand unter den Dingen, die im Führerstand der Lokomotive zurückgeblieben waren, ein kleines Schweizer Perspektiv, hob es ans Auge und blickte in Fahrtrichtung — ich fand, er sah heroisch aus, wie er so dastand mit dem kleinen Fernrohr am Auge, in seiner kampfgeprüften Uniform, das lange Haar im Fahrtwind flatternd. Nach einer Weile begann er zu lächeln. Das Lächeln wurde breiter. Dann gab er das Perspektiv an Sam weiter. »Geradeaus, Sam — der Kirchturm auf dem Hügel.«
»Schwer auszumachen bei dem Dunst.« Das Tal, durch das wir ratterten, war stellenweise neblig, und eine bleierne Bewölkung hatte den blauen Himmel vergrault. »Aber das muss der Kirchturm sein, lauter Löcher, lauter Einschläge — ist so verschwommen.«
»Das Rändelrad an der Seite«, sagte Julian, »stell mit dem Daumen scharf.«
Sam fummelte und fluchte. »Die Schweizer sind so schlau, dass sie über ihre eigenen Füße stolpern. Ich glaube nicht … ah! Da.«
Dann lächelte auch Sam.
»Was siehst du?«, fragte ich ungeduldig. »Nun mach kein Geheimnis daraus!«
»Nur eine Fahne auf dem Kirchturm.«
»Und was ist so Besonderes daran?«
»Gar nichts. Bloß dass sie dreizehn Streifen und sechzig Sterne hat.« Er setzte das Perspektiv ab, strich versöhnlich darüber und sagte: »Unsere Truppen haben Chicoutimi eingenommen.«
Wir mussten nur noch das Tempo verringern und mit unserer stolzen Prise nach Chicoutimi hineindampfen.
Amerikanische Truppen würden aber einen deutschen Militärzug aus östlicher Richtung nicht gerade bejubeln, gab Sam zu bedenken. Zwei vorgeschobene Posten hatten bereits verstört reagiert und auf uns geschossen. Was wir dringend brauchten, war ein überzeugendes Signal unserer Freundschaft.
»Major Lampret ist ein Dominion-Offizier«, sagte Julian. »Haben die nicht immer eine amerikanische Fahne dabei, für Begräbnisse und Andachten?«
Wir hielten an einem abgeschiedenen Ort, damit Julian die Fahne holen konnte, die Major Lampret gefaltet in einer eigens dafür vorgesehenen Hemdtasche trug (wir hörten das Hurra, als die Männer in den Güterwaggons erfuhren, dass Chicoutimi gefallen war).
Julian kam zurück, stieg aber nicht wieder in den Führerstand. Er fischte einen verkohlten Ast vom Boden, band die Fahne daran, kletterte vorne auf die Lokomotive und setzte sich auf einen Eisensockel direkt unter der Laternenlinse.
»Langsam anfahren!«, rief er über die Schulter.
Die Lokomotive tat einen kleinen Satz, als Penniman die Bremse löste, und Julian wäre fast aufs Gleis gestürzt; dann nahm der Zug wieder Fahrt auf.
Und so rollten wir ins frisch eroberte Chicoutimi hinein. Seit eben fiel wieder feiner Schnee; der Nachmittag war bühnenreif, so wie er die Kulissen von Sonne und Wolken wechselte. Den ganzen Weg bis in den Bahnhof hinein blieb Julian unsere patriotische Galionsfigur. Seine Uniform war zerrissen und schmutzig und sein Gesicht alabasterweiß vor Kälte, aber er konnte das Grinsen nicht lassen und schwenkte die Sechzig Sterne und Dreizehn Streifen vor Hunderten von Infanteristen und Kavalleristen, die von allen Seiten herbeiströmten. Die Lokomotive passierte den Korridor aus staunenden Soldaten, ehe sie endlich mit einem Zischen zum Stehen kam. Dann rumsten die Türen der beiden Güterwaggons zurück, und es brandete ein Jubel auf, denn wer nicht sehen konnte, was wir erbeutet hatten, bekam es im selben Augenblick zu hören …
8
Im Laufe des Monats sollte uns die Geißel der Cholera einholen. Viele tapfere Männer, die den ganzen verdammten Saguenay hinauf Verletzungen und Entbehrungen überlebt hatten, wurden nun dahingerafft. Der Gestank, die Unannehmlichkeiten und der oft tragische Verlauf dieser Krankheit vergällte uns allen, ob krank oder nicht krank, das Leben, und irgendwann erwischte es die meisten von uns, obwohl man nicht daran sterben musste. Ich bin zum Beispiel auch nicht gestorben — und ich war so krank wie alle anderen Kranken.
Das menschliche Hirn löscht die Perioden hohen Fiebers aus dem Gedächtnis, und ich kann mich kaum an den Januar oder Februar 2174 erinnern. Als ich wieder zu mir kam, wunderte ich mich natürlich, wie ausgezehrt und schwach ich war, aber vor allem darüber, dass ich ohne mein Wissen von Chicoutimi nach Tadoussak und von da nach Montreal ins Soldiers’ Rest verlegt worden war. Ich erfuhr, dass viele Männer, die ich kannte und gemocht hatte, an der Cholera gestorben waren, und das machte mich traurig. Doch es gab auch gute Nachrichten. Auch Sam, Julian und Lymon Pugh hatten die Krankheit überstanden und befanden sich im selben Hospital wie ich. Von uns vieren hatte Julian es am schwersten gehabt; die Ärzte meinten, sein Leben habe an einem seidenen Faden gehangen; doch inzwischen konnte er wieder aufrecht sitzen und sein Genesungssüppchen löffeln. Sam und Lymon waren dagegen so gut drauf, dass man sie schon in wenigen Tagen entlassen wollte.
Und es strahlte noch ein Licht am Horizont, das geeignet war, meine Stimmung zu heben. Die Aussicht, aus der Laurentischen Armee entlassen zu werden. Nach der Rekrutierungsnovelle von 2172 war der unfreiwillige Kriegsdienst auf ein Jahr beschränkt (obwohl ein Aristokrat einen Abhängigen für die Dauer des Krieges zur Verfügung stellen konnte); nun wurden wir zwar eifrig umworben, uns freiwillig zu melden, widerstanden aber mannhaft dieser Versuchung (mit Ausnahme von Lymon Pugh, der sich trotz Krieg in der Armee wohler fühlte als in einem Abpackbetrieb für Rindfleisch). Das bedeutete, Sam, Julian und ich konnten dieser ganzen Region schon Ostern den Rücken kehren und uns auf den Weg nach New York City machen — als Zivilisten! —, so wie wir es vorgehabt hatten, als wir aus Williams Ford geflohen waren.
Während meiner unfreiwilligen Muße las und schrieb ich viel. Ich schrieb meiner Mutter in Williams Ford, wie schon etliche Male zuvor, jedes Mal peinlich bedacht, Julian oder Sam oder unseren genauen Aufenthaltsort auszusparen; es war gut möglich, dass die Post irgendwann einmal von einem verbissenen Dominion- oder Regierungsspitzel abgefangen wurde, der immer noch Jagd auf den Neffen des Präsidenten machte. Die schmerzliche Kehrseite der Medaille war, dass ich nie eine Antwort von meiner Mutter bekam; aber ich gab mir alle Mühe, ihr so regelmäßig wie möglich zu schreiben und ihr zu versichern, dass ich gesund und wohlauf sei.