»Den der eine Gefreite dem anderen erteilt?«
»Aber ich bin doch kein Gefreiter mehr — hat Sam dir das nicht erzählt? Sam und ich sind in Abwesenheit unserer fünf Sinne befördert worden.«
Das konnte man als Versuch des Führungsstabs sehen, Sam und Julian zum Bleiben zu bewegen — oder einfach auf die schrecklichen Verluste zurückführen, die die Laurentische Armee während des Saguenay-Feldzugs erlitten hatte; wie dem auch sei, Sam war jetzt Colonel und Julian war Captain — Captain Commongold —, gerade so, wie Theodore Dornwood ihn erfunden hatte.
Ich stand auf und wollte salutieren, doch Julian winkte ab: »Lass das, Adam — ich brauche einen Freund und keinen Untergebenen. Außerdem scheiden wir bald aus der Armee aus und sind wieder, was wir vorher waren.«
So wie er das meinte, hatte er Recht; in anderer Hinsicht würden wir beide aber nie wieder das sein, was wir vorher waren: Wir waren keine Jungs mehr — wir hatten einen Krieg überlebt und waren jetzt Männer.
Am nächsten Morgen kehrten Sam und Lymon von ihrem Erkundungsgang zurück.
Die gute Nachricht war, dass man Calyxa in ein Militärgefängnis gesperrt hatte. Das war ein Segen, denn die militärische Gerichtsbarkeit war flexibler als die zivile. Sie war keiner Straftat überführt und hatte keine bestimmte Freiheitsstrafe zu verbüßen — sie befand sich lediglich in »Untersuchungshaft«, was bedeutete, dass es nur einer offiziellen Anweisung bedurfte, sie wieder auf freien Fuß zu setzen.
»Was soll sie denn verbrochen haben?«, fragte ich.
»Sie wurde zusammen mit anderen Unruhestiftern festgenommen«, sagte Sam, »als sie durch die Straßen marschiert sind mit Spruchbändern wie Alle Soldaten raus aus Montreal. Sie nennen sich Parmentieristen nach irgendeinem europäischen Philosophen.«
»Es kann doch nicht verboten sein, ein Spruchband zu tragen, nicht mal unter Besatzungsrecht.«
»Sie sind nicht wegen der Parolen verhaftet worden. Der Mob stieß auf zwei skrupellose Hinterwäldler, die irgendeinen Groll auf die Typen hatten, und es kam zu einer Schießerei. Und bei deiner Calyxa fand man eine kleine Pistole, die wahrscheinlich noch gequalmt hat.«
Die Hinterwäldler hießen vermutlich Job und Utty Blake, was Sam aber nicht bestätigen konnte, da er seine Nachforschungen auf Calyxa beschränkt hatte. »Lässt man sie denn frei?«, wollte ich wissen.
»Nur auf Befehl aus dem Hauptquartier … und da liegt das Problem, denn die Führung der Laurentischen Armee wird zurzeit umgestellt, und da bleiben Bagatellfälle schon mal liegen. Es kann Monate dauern, bis wieder Normalität einkehrt.«
»Monate!«
»Wir werden sie da rausholen, keine Frage. Das aber könnte ein paar heikle Manöver erfordern und vielleicht ein paar verzeihliche Winkelzüge. Was haltet ihr von folgendem Plan?«
Es war ein fabelhafter Plan, den ich nicht vorab, sondern im Zuge seiner Ausführung schildern will. Er erforderte allerdings, dass wir zusammenarbeiteten, wobei Julians Gesundheitszustand noch ein Unsicherheitsfaktor war. Die Krankenschwestern weigerten sich, ihn vorzeitig zu entlassen, konnten ihn aber nicht mit Gewalt daran hindern, das Hospital zu verlassen … Also stand er aus dem Bett auf und verlangte — noch ein bisschen wackelig — nach seiner Uniform, die ihm gleich darauf ausgehändigt wurde. Er war blass und gefährlich dünn, doch mit jedem Schritt in der Sonne schien es ihm besser zu gehen. Der Frühling war noch jung, Ostern erst in einer Woche, doch in Montreal war es erfreulich warm, es wehte ein leichter Wind, und der Himmel war wolkenlos. Wir suchten eine Taverne auf und mieteten ein Zimmer, in dem wir unsere Siebensachen unterbrachten und auf Lymon Pugh warteten, der noch einmal Theodore Dornwood aufsuchte.
Nicht um Dornwood ging es uns, sondern um seine Schreibmaschine. Mr. Dornwood sei nicht gerade erbaut gewesen, sagte Lymon nach seiner Rückkehr; doch er, Lymon, habe sich sozusagen auf den Notstand berufen und seine Muskeln spielen lassen, bis der Journalist schließlich eingelenkt habe.
»Es war pures Glück, dass ich ihn noch erwischt habe«, sagte Lymon. »Er war beim Packen. Meinte, die Zeitung hätte ihn nach Manhattan zurückgerufen.«
»Hast du bekommen, was du wolltest?«, fragte Sam.
»Hier.«
Lymon Pugh faltete ein Blatt Papier auseinander und strich es auf dem Tisch glatt.
»Das ist nicht genau der Text, den ich haben wollte«, sagte Sam.
»Dornwood wollte ihn nicht schreiben — ich musste mir jeden Buchstaben suchen. Und so genau konnte ich mich auch nicht mehr erinnern.«
Die getippte Nachricht sah ungefähr so aus:
HAUPTquaRTIR der LAURENSCHEN ARMEE
aN DAS ARMEE GEFÄNGNIS MONTReALL
BitTE ÜBERGEBEN sIE dem ÜBERBRINGER dieser
NACHRICHT
die GEFANGENE
naMENS Calixa BLAKE
eine Atletische frau
Mit Krausen Schwarzem haar &
DiKEN KNÖsCHELN
Auf befel fon Colonel SAM SAmSON
gezeichnet
»Geht das denn so?«, fragte Lymon besorgt. »Ich hätte ›Colonel‹ anders geschrieben, habe es aber genauso getippt, wie du gesagt hast, Sam. Diese Maschine ist eine Nervensäge, Adam, ich weiß nicht, warum du so verrückt danach bist. Ich habe mehr als eine halbe Stunde gebraucht, um mir die Buchstaben rauszupicken. Schriftsteller sind genauso arme Schweine wie Rindfleischentbeiner, wenn sie den ganzen Tag vor so einem Ding hocken.«
»Schreibfehler sind nicht wichtig«, sagte Sam. »Die Nachtschicht im Gefängnis besteht höchstwahrscheinlich aus Analphabeten. Gedruckte Buchstaben und mein Rang sind die halbe Miete.« Um sie noch mehr zu beeindrucken, hatte Sam blaue Tinte gekauft, die er jetzt auf eine Stoffserviette kippte; dann nahm er einen Comstock-Dollar und drückte ihn mit dem Konterfei von Julians Onkel in die Tinte und benutzte die Münze als eine Art Stempel oder Siegel. Jetzt sah das Schreiben tatsächlich sehr amtlich aus; hätte ich nicht lesen können, hätte ich mich davon täuschen lassen.
Jetzt mussten wir nur noch abwarten. Wir bestellten vier Portionen Schweinebraten mit Feuerbohnen, um uns für den Abend zu stärken und Julians weiterer Genesung Vorschub zu leisten. Wer Alkohol wollte, trank Bier oder Wein. Ich trank wie üblich gewöhnliches Wasser, kippte aber auf Sams dringenden Rat ein klein wenig Rotwein hinein, um den mikroskopischen Krankheitserregern, die sich darin tummelten, »in die Suppe zu spucken« (denn die Cholera hatte Montreal nicht ausgespart). Es war eine medizinisch hygienische Vorsichtsmaßnahme, die auch dann keine Sünde gewesen wäre, wenn sie mich, was nicht der Fall war, ein bisschen beschwipst gemacht hätte — falls die Engel meine Sicht der Dinge teilten.
Lange nach Sonnenuntergang, als die Straßen verwaist waren und nur noch die Nachtfackeln brannten, verließen wir die Taverne und gingen geschlossen zu dem Gefängnis, in dem Calyxa zu Unrecht eingesperrt war.
Es war ein Gebäude mit dicken, uralten Mauern. Im Obergeschoss wohnten Personal und Leitung, im Parterre und im Kellergeschoss befanden sich die Zellen. Vielleicht hatte das Gebäude früher zivilen Zwecken gedient; die Laurentische Armee hatte es jedenfalls beschlagnahmt und mit ihren Fahnen geschmückt und vor der rostigen Eisentür Wachen aufgestellt. Unser einziger Vorteil, meinte Sam, liege im sicheren Auftreten. Wir sollten uns wie Männer benehmen, die einen notwendigen, aber unspektakulären Auftrag zu erledigen hatten. Also kein Flüstern, keine Worte hinter vorgehaltener Hand, keine verstohlenen Blicke, sondern die Rolle »voll ausspielen«. Colonel Sam ging selbstverständlich voran, das Rangabzeichen frisch aufs Schulterstück des Uniformmantels genäht (der sich jetzt, da die Wärme des Tages verflogen war, als sehr nützlich erwies), während »Captain Commongold« als sein Adjutant und Lymon und ich als einfache Soldaten auftraten.