»Ohne Prüfsiegel, versteht sich.«
»Na klar, das war schon das halbe Vergnügen. Die Frucht war verboten, aber süß, auch wenn sie meinen Horizont überstieg. Was ich dabei gelernt habe, ist, dass die Weltgeschichte, wie das Dominion sie lehrt, bestenfalls unvollständig ist. Das Fundament, auf dem die Wahrheit des Dominions erbaut ist, hat Sprünge, und in den Sprüngen schlummern ungeheuer interessante und wunderschöne Dinge.«
»Gefährliche Dinge«, sagte ich, obwohl ich fasziniert war von Geschichten über Zeitreisen und derlei Grässlichkeiten.
»Die Wahrheit ist gefährlich«, gab Julian zu, »aber Unwissenheit ist noch gefährlicher, Adam.«
»Sehen wir uns die Ruinen an?«
»Alles, was Wert hat, habe ich längst da rausgeholt. Nein«, sagte Julian, »heute gehen wir fischen.«
Mit diesen Worten ging er los und führte mich noch eine halbe Meile durch einen alten Bestand von Götterbäumen und Birken zu einem See — ein blaues, wie aus Glas geschnittenes Oval mitten im Wald, das Ufer fest im Griff von Klebkraut und Blutweiderich. Julian begann das geheimnisvolle, schmale, lange Segeltuchbündel zu entrollen. Es enthielt vermutlich die Angelruten und die Rollen, die man fürs Angeln mit künstlichen Fliegen brauchte. Aber weit gefehlt.
Statt zwei Angelruten kamen zwei Drachen zum Vorschein.
Solche Drachen hatte ich noch nie gesehen: ein keilförmiges Stück Seide mit »Stummelflügeln« und einem Schlitz im unteren Quadranten, stabilisiert durch drei parallele biegsame Holzstäbe. Der Drachen war aber nicht starr, Julian beschrieb ihn als eine Art Tragsegel. In den Wind geworfen, öffnete er sich wie ein Segel — er tauchte nicht auf und ab wie die primitiven Drachen, die ich als Kind gebastelt hatte, er legte sich auch nicht auf den Rücken oder stürzte ohne Vorwarnung zur Erde — nein, Julians Drachen lag stabil in der Luft. Jetzt war ich an der Reihe, und es klappte auf Anhieb. Sich selbst überlassen, stand mein Drachen wie von der sanften Brise an den Himmel genagelt. Je nachdem, wie Julian an der Leine zog oder sie ablaufen ließ, konnte er seinen Drachen aufsteigen oder sinken lassen und nach links oder rechts lenken.
Aber es sollte noch besser kommen. Am Zaumzeug jedes Drachens war eine zweite Schnur befestigt, die einen Korkschwimmer trug und einen Haken mit Fliege. Der Drachen trug den Köder weiter vom Ufer weg, als ihn der gewiefteste Rutenangler hätte werfen können, und im tiefen und ungestörten Wasser gab es Fische zuhauf.
Ich fand die Erfindung genial, brachte aber zum Ausdruck, ich sei mir nicht ganz sicher, ob die Fische dieser eher ungewöhnlichen Einladung in die Bratpfanne folgen würden. Julian nickte und lächelte. So müsse es sein, meinte er. »Erinnere dich an die Maxime meines Vaters. Damit Spiel und Sport Spaß machen, müssen sie schwierig, unpraktisch und ein bisschen albern sein.«
»Was Punkt für Punkt zutrifft.«
»Es macht dir doch Spaß, oder?« Er setzte sich ans moosbewachsene Ufer des Weihers, den Rücken an einen Baum gelehnt, und streckte die Beine von sich, die Drachenspule in den Schritt geklemmt. Wolken von kleinen Mücken kreisten träge über dem sonnenbeschienenen Wasser, während sich auf einem Stein in der Nähe eine Schildkröte sonnte. »Was nämlich Sinn und Zweck des Ganzen ist.«
»Solche Drachen kenne ich nicht. Woher weißt du, wie man so was baut?«
»Woher schon? Aus einem antiken Buch natürlich.«
»Haben sich die Säkularen wirklich mit so belanglosen Dingen wie Drachen beschäftigt?«
»So komisch es ist, Adam, die Säkularen Alten haben nicht bloß außerehelichen Geschlechtsverkehr getrieben, die Anständigen drangsaliert, Partner vom selben Geschlecht geheiratet und Schulkinder mit der Evolutionstheorie terrorisiert. Sie gingen auch — gerade so wie wir — ganz harmlosen Vergnügungen nach.«
Sie waren Menschen wie Julian und ich — eine Binsenweisheit, die man allzu leicht vergisst. »Sie müssen sehr mächtig gewesen sein und sehr viel von Drachen und Maschinen und solchen Sachen verstanden haben. Wieso um alles in der Welt haben sie während der Falschen Drangsal so rasch aufgegeben?«
»Die Falsche Drangsal — unverfrorenerweise so genannt, weil das Dominion die Katastrophe falsch gedeutet hatte — war nicht ein einziges Ereignis, sondern bestand aus ganz vielen Ereignissen. Das Ende des Öls oder genauer das Ende des billigen Öls lähmte das kopflastige Wirtschaftssystem der Alten. Doch es gab ähnliche Krisen in Bezug auf Trinkwasser und Ackerland. Kriege um lebenswichtige Ressourcen weiteten sich aus, während maschinelle Landwirtschaft teurer und schließlich kontraproduktiv wurde. Hunger stellte die nationalen Haushalte vor eine Zerreißprobe, und Krankheiten und Seuchen überwanden alle hygienischen Barrieren, die man gegen sie errichtet hatte. Städte, die ihre eigene Bevölkerung nicht mehr unterhalten konnten, wurden von hungernden Kleinbauern und Landarbeitern überschwemmt und schließlich vom wütenden Mob geplündert. Mit dem Niedergang der Städte wurden die ersten Landgüter eingerichtet, und alle, die zupacken konnten, verkauften sich für ein karges Dasein lebenslang an die Grundbesitzer. Die Plage der Kinderlosigkeit machte alles noch komplizierter, die Weltbevölkerung schrumpfte drastisch — wir fangen gerade erst an, uns davon zu erholen.«
»Und so wurden die Alten für ihre Arroganz bestraft. Ich weiß — ich kann auch lesen, Julian —, die alte Leier.«
»Bestraft für das Verbrechen, Wohlstand anzustreben. Bestraft für das Verbrechen, die Gedanken für frei zu erklären. So ungefähr möchte uns das Dominion glauben machen.«
»Vielleicht übertreibt das Dominion in seinen Darstellungen; aber fest steht doch, dass die Säkularen nicht ganz unschuldig waren.«
»Natürlich nicht. Wer ist schon unschuldig? Die Alten litten unter einem Wirtschaftssystem, das verdammt viel Ähnlichkeit hatte mit einer komplexeren Version von Langers’ Glückstopf. Sie wurden von gierigen Aristokraten, kriegslüsternen Diktatoren und ignoranten religiösen Eiferern heimgesucht … Leuten wie uns, falls du das noch nicht bemerkt hast.«
»Aber machen wir denn keine Fortschritte? Nach der Blütezeit des Öls waren unsere Städte noch nie so groß und lebendig wie heute.«
»Ja, vielleicht steht unsere traditionelle Gesellschaftsordnung vor einem Wandel. Die Arbeiter sind unzufrieden — selbst unter den Abhängigen können immer mehr lesen und ihrem Zorn Ausdruck verleihen. Im Westen hat das Dominion noch alles fest im Griff, im Osten muss es erbittert gegen die nicht zugelassenen Kirchen kämpfen. Der Präsident sieht sich einem zunehmend aufsässigen Senat aus neureichen Eigentümern gegenüber, die der alten Ordnung misstrauen oder ein größeres Stück vom Kuchen wollen. Die Laurentische und die Kalifornische Armee agieren als unabhängige Kräfte, die nur so tun, als würden sie von der Exekutive kontrolliert. Und so weiter. Das ganze System eiert um seine Achse, Adam. Es braucht nur einen Stoß in die richtige Richtung, damit es auseinanderfliegt.«
»Ob das so gut wäre?«
»Von Tag zu Tag besser, ja!«
»Das würde aber viel Leid mit sich bringen.«
Er winkte ab. »Leid gibt es immer. Leid ist unvermeidlich.«
Vielleicht hatte er ja Recht. Aber seine Lässigkeit machte mir Angst. Sam hatte ihm einmal vorgeworfen, sich wie ein Comstock zu benehmen — vorgeworfen, wohlgemerkt. Das eben kam mir schlimmer vor. Er dachte wie ein Präsident.
Für den restlichen Nachmittag verzichteten wir auf politische Philosophie und widmeten uns ausschließlich dem Angeln. Der Tag war so schön wie der Anblick von zwei Drachen, die über einem sonnigen blauen See tanzten; so unbeeindruckend unsere Fangquote war — Julian fing einen, ich keinen Fisch —, wir würden nicht verhungern wegen unseres Versagens. Als Jungs hätten wir so einen Tag umarmt. Aber wir waren keine Jungs mehr, und die heitere Illusion ließ sich nicht festhalten. Schließlich näherte sich die Sonne den Hügelspitzen des Hudson-Hochlands, es wurde windstill, das späte Licht versilberte das Laub der Birken, und wir packten Drachen und Fang ein und machten uns auf den Heimweg.