»Komm aufs Podium, Julian«, rief der Präsident, »und trete an meine Seite!«
Das war die Demütigung, mit der sich Deklan Comstock den ganzen Abend getragen hatte. Calyxa als Sängerin zu präsentieren war nur das Vorspiel gewesen. Er schmückte sich mit dem wehrlosen Sohn des Mannes, den er ermordet hatte.
Julian rührte sich erst nicht. Als hätte der Befehl seine Sinne nur flüchtig gestreift. Es war Sam, der ihn anschubste. »Mach einfach, was er sagt«, flüsterte Sam. »Schluck deinen Stolz hinunter, Julian, dieses eine Mal, und tu, was er sagt — geh schon, oder er lässt uns umbringen.«
Julian bedachte Sam mit einem leeren Blick, dann stand er auf. Alle, an denen er vorbeikam, mussten merken, wie widerstrebend er den Weg zum präsidialen Podium zurücklegte. Er stieg die Stufen hinauf, als erwarte ihn oben der Galgen, was vielleicht nicht ganz abwegig war.
»Lieber Julian«, sagte der Präsident und umarmte ihn so, wie ein ehrlicher Onkel seinen geliebten Neffen umarmt.
Julian erwiderte die Umarmung nicht. Er ließ die Hände an der Hosennaht. Ich konnte nachempfinden, wie sehr ihn der körperliche Kontakt mit dem Brudermörder anwiderte.
»Du bist noch so jung und hast mehr vom Krieg gesehen als die meisten von uns. Was hattest du für einen Eindruck vom Saguenay-Feldzug?«
Julian blinzelte.
»Es war eine ziemlich blutige Angelegenheit«, murmelte er in seinen dünnen Bart.
Aber Deklan Comstock hatte nicht vor, ihm Redefreiheit einzuräumen. »Blutig — allerdings«, sagte der Präsident. »Aber wir sind keine Nation, die beim Anblick von Blut zurückschreckt, und kein Volk, das zu zartbesaitet ist, um seinen Mann zu stehen. Wir dürfen alles — sogar grausam, ja, sogar rücksichtslos sein, denn wir waren weltweit die Ersten, die Ihr Schwert nicht erhoben haben, um andere zu versklaven oder zu unterjochen, sondern um sie aus ihrer Knechtschaft zu befreien. Wir dürfen nicht mit Blut geizen! Lasst Blut fließen, wenn Blut allein die alte säkulare Welt ertränken kann. Her mit dem Schmerz, her mit dem Tod, wenn Schmerz und Tod uns vor den tyrannischen Zwillingen namens Atheismus und Europa bewahren können.«
Ein paar Beifallsbekundungen wurden laut, aber nicht in unserem Abschnitt der Tribüne.
»Julian kennt aus erster Hand den Preis und die Kostbarkeit der Freiheit. Er hat bereits sein Leben als anonymer Gefreiter aufs Spiel gesetzt. Opfer genug für einen Mann, werden Sie denken, und in normalen Zeiten würde ich Ihnen zustimmen. Aber wir haben keine normalen Zeiten. Der Feind bedrängt uns. Barbarische Waffen werden gegen unsere Soldaten eingesetzt. In der nordöstlichen Wildnis wimmelt es von fremdländischen Feldlagern. Und die Grenzen von Neufundland sind schon wieder in Gefahr. Deshalb sind wir aufgerufen, Opfer zu bringen.« Bei dieser ominösen Ankündigung hielt er inne. »Wir alle sind aufgerufen, Opfer zu bringen. Ich schließe mich da nicht aus! Ich muss, wie jeder andere Bürger, auf mein Glück verzichten, wenn es dem größeren nationalen Interesse zuwiderläuft. Und so glücklich ich bin, den Sohn meines Bruders wieder im Schoß der Familie zu wissen, so wenig kann die Nation in dieser kritischen Stunde auf einen Soldaten von Julians Erfahrung verzichten. Ich beabsichtige daher, den bereits suspendierten Befehlshaber der Nördlichen Division der Laurentischen Armee, Generalmajor Griffin, durch meinen geliebten Neffen zu ersetzen.«
Man hörte förmlich, wie es den Zuhörern den Atem verschlug. Er wollte uns wirklich glauben machen, dass er Julian ins Herz geschlossen hatte! Erneut brandete Applaus auf. Begeisterte Rufe wie »Julian! Julian Comstock!« stiegen in die brenzlige Nacht.
Julians Mutter beteiligte sich nicht an dem Jubel. Sie schien einer Ohnmacht nahe und legte den Kopf an Calyxas Schulter.
»Erst Bryce«, flüsterte sie. »Jetzt Julian.«
»Das ist die Axt, die ich meinte«, sagte Sam.
VIERTER AKT
Eine Zeit in dem Land, das Gott Kain gab
(Erntedankfest 2174)
»Gott hat sich vielmehr die Einfältigen und Machtlosen ausgesucht, um die Klugen und Mächtigen zu demütigen.«
1
Ich will den Leser nicht mit jeder Lappalie ermüden, die sich nach unserer Abfahrt nach Labrador und vor den triumphalen und tragischen Ereignissen rings um das Erntedankfest 2174 zutrug. Unsere Abfahrt, nicht nur Julians; denn die von Deklan dem Eroberer öffentlich erklärte Wiedereinberufung betraf ebenso Sam Godwin und mich.
Kurz gesagt, ich war gezwungen, meine frisch angetraute Frau sowie meine junge Karriere als New Yorker Schriftsteller im Stich zu lassen und als Teil des persönlichen Stabs von Generalmajor Julian Comstock mit nach Labrador zu segeln — und nicht etwa zu erfreulicheren Bezirken von Labrador, wie beispielsweise dem Saguenay River, sondern zu einer noch unwirtlicheren und feindseligeren Region dieses umstrittenen Staates — betraut mit einer Mission, deren wahrer Zweck es war, aus einem lästigen Erben in spe einen stillen und willkommenen Märtyrer zu machen — beide hießen Julian.
Mitte Oktober verließen wir auf einem schnellen Marinesegler den Hafen von New York und folgten der Kompassnadel. Um diese Jahreszeit war das Wetter auf dem Atlantik ziemlich launisch, und wir überlebten einen wütenden Sturm, der mit unserem Klipper verfuhr wie der Hengst mit dem buchstäblichen Floh am Po. Schließlich stießen wir zu einem Flottenverband unter Admiral Fairfield außerhalb des Hafens Belle Isle (jetzt in amerikanischer Hand).
Unsere Marine hatte nicht das politische Gewicht der beiden großen Armeen, sie war eigentlich nur ihr Ableger zur See; doch in letzter Zeit waren ihre Störmanöver wirkungsvoller gewesen als die der landgestützten Kräfte. Diesmal hatte Deklan Comstock, was selten genug vorkam, eine wirklich brauchbare Entscheidung getroffen und eine Blockade des gesamten mitteleuropäischen Schiffsverkehrs in den Gewässern vor Neufundland und Labrador befohlen. Das war schon einmal versucht worden, allerdings mit enttäuschendem Ergebnis. Aber heute schien die Marine nach Größe und Ausrüstung einem so ehrgeizigen Projekt gewachsen zu sein.
Während der berühmten »Schlacht am Hamilton Inlet« war ich an Bord der Basilisk, des Flaggschiffs der Armada. Da sich eine große Kriegsflotte nicht verstecken kann, konnten die Deutschen unsere Manöver verfolgen; aber sie hatten fälschlicherweise angenommen, wir würden sie in der Nähe der Voisey Bay angreifen, von wo sie Nickel, Kupfer und Kobalt ausführten, Erze, die in Labrador zuhauf abgebaut wurden. (Die vielen kleinen Inseln und Wasserwege in dieser Region machen die Voisey Bay praktisch unkontrollierbar und folglich zu einem sicheren Hafen für Blockadebrecher.) Doch wir hatten einen kühneren Einsatzbefehl. Wir erzwangen uns Zugang zum Hamilton Inlet; und während uns die Deutschen weiter nördlich auflauerten, brachten unsere Geschütze ihre Festung an den Narrows zum Schweigen und rollten rasch ihre Artilleriestellungen auf Eskimo Island und bei Rigolet auf. Und da die deutsche Abwehr nicht mit uns gerechnet hatte, hielten sich unsere Verluste in Grenzen. Von den zwanzig Kanonenbooten in unserer Flottille ging nur eines, die Griffin, verloren. Fünf andere erlitten Schäden, die von den Schiffszimmerleuten behoben werden konnten; und unsere Basilisk war völlig unversehrt geblieben, obwohl sie vorneweg gefahren war.
Ein Kommando der Ersten Nördlichen Division wurde an Land geschickt, um die eroberten Stellungen zu besetzen und wieder herzurichten. Es war ein großer (sonniger und kalter) Moment, als wir zusahen, wie die Sechzig Sterne und Dreizehn Streifen über den Narrows hochgezogen wurden — ab jetzt kontrollierten wir den gesamten Schiffsverkehr, der diesen knapp eine Meile breiten Flaschenhals passieren würde.