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Mrs. Berry erhob sich, hielt ihr Handy ans Ohr, lauschte, nahm es wieder herunter und drückte auf Wahlwiederholung. Sie verließ den Raum, ohne Juniper eines weiteren Blickes zu würdigen.

Während Mrs. Berry durch das Haus eilte und das Personal, den Computer, ihr Handy und den Hund beschimpfte, lief Juniper auf der Suche nach ihrem Vater durch die große, mit zahlreichen Kunstwerken geschmückte Halle. Doch eigentlich brauchte sie ihn gar nicht zu suchen. Sie wusste, wo sie ihn finden würde. Dort, wo er immer war.

Es war ihr Lieblingszimmer im ganzen Haus, genauso wie das ihres Vaters. Sie erinnerte sich genau, wie sie zum ersten Mal in das zweistöckige Arbeitszimmer gekommen war, das einen großen Teil des Ostflügels einnahm. Es war neu gebaut worden und sie trat an einem dunstigen und doch warmen Morgen durch eine schwere, bogenförmige Tür ein. Die hohen Wände waren mit Tausenden von Büchern bedeckt, viele in Leder gebunden. Sie standen in Mahagoni-Regalen, und es gab sogar eine Rollleiter, um an die oberen Reihen herankommen zu können. Die Bücher waren alphabetisch nach Autoren geordnet und in Sachgebiete unterteilt wie in einer öffentlichen Bibliothek oder in einer Buchhandlung. Ein kompliziert gemusterter Teppich bedeckte den größten Teil des Fischgrät-Parketts. Juniper wusste sofort, dass sie es lieben würde, sich auf dem Teppich auszustrecken, wenn die Sonnenstrahlen durch das große, darüberliegende Fenster fielen.

Passend dazu gab es in der einen Ecke ein vornehmes Ledersofa samt Sessel sowie einen unglaublich bequemen Schaukelstuhl und eine gepolsterte Ottomane, einen Kamin mit klassischen Verzierungen, wertvolle moderne und abstrakte Kunstwerke und, in der Mitte des Raumes, einen riesigen Schreibtisch mit zahlreichen Fächern und Schubladen. Es gab einen Globus, den Juniper einfach drehen musste (wohin würde sie ihre erste Lesereise oder Filmpremiere führen?), ein Regal mit Filmpreisen, seltene, handsignierte Bücher, die (aus irgendeinem Grund, den Juniper nicht richtig verstand) hinter Glas eingeschlossen waren, und eine Sammlung alter Schreibmaschinen. Dieses Zimmer war einfach perfekt.

Aber das Allerbeste am Arbeitszimmer war für Juniper sein Geruch. Sie schwelgte in dem herrlichen Duft, der die stickige Luft durchzog. Dieser Duft hatte sie zuerst in den Raum gelockt. Sie war ihrer Nase gefolgt und hatte schnell herausgefunden, dass es die Buchseiten waren, die ihre Fantasie und ihre Nase kitzelten. Sie nahm ein Buch aus dem Regal, öffnete es in der Hoffnung, dass der Buchrücken knacken würde, und atmete tief ein. Dann nahm sie noch ein Buch und noch eins. Sie beschloss, an diesem Tag und an allen folgenden das Buch zu lesen, das am besten roch – meistens waren es die ältesten Bücher. Damals hatte ihr Vater nichts dagegen gehabt. Er hatte sich gefreut, als er sie an diesem Morgen bei seinen Büchern fand.

»Lies, so viel du willst«, sagte er und zog sie an sich. Er sah ihr beim Sprechen gern in die Augen. Er ging in die Hocke und strich ihr liebevoll das Haar aus der Stirn. »Man kann gar nicht genug lesen. Du willst Schriftstellerin werden? Auf eine gewisse Weise ist es damit so ähnlich wie mit der Schauspielerei. Du musst jeden Gedanken deiner Figuren kennen. Eure Welten müssen miteinander verschmelzen. Ich habe Bücher über alle Berufe und Lebensstile, die du dir vorstellen kannst. Jedes Hobby, jede Religion, jeder Geschäftszweig, es ist alles hier. Es hilft mir, meine Figuren zu verstehen: wie sie aufgewachsen sind, welches Getränk sie bevorzugen und wie sie das Glas halten. Du kannst es genauso machen.«

»So bist du berühmt geworden? Das ist das Geheimnis?«

Mr. Berry erhob sich und wandte sich ab. Er rieb sich den Nacken und warf einen Blick aus dem Fenster. »Genau.« Seine Stimme brach und er räusperte sich schnell. »So habe ich es gelernt und so gebe ich es an dich weiter. Nutze alle deine Möglichkeiten. Natürlich gab es auch Zeiten, in der ich nicht einmal eine winzige Rolle in einem Werbespot bekommen habe. Genauso wie deine Mutter. Aber sieh uns jetzt an. Wir haben es geschafft, nicht wahr?«

In gewisser Hinsicht, dachte Juniper. Ihre Eltern hatten ihre große Chance bekommen, ihre Träume wurden plötzlich Wirklichkeit. Sie waren so glücklich und Juniper wurde von ihrer Begeisterung mitgerissen. Aber zu dieser Zeit begannen sich die Dinge auch langsam zu verändern. Juniper war noch sehr jung, als sich ihre Eltern allmählich immer mehr zurückzogen. Je berühmter sie wurden, desto mehr schotteten sie sich ab, jedes Jahr ein bisschen mehr. Irgendwann war Junipers Beziehung zu ihren Eltern wie das unendliche Universum. Es schienen Millionen von Kilometern zwischen ihnen zu liegen, eine Entfernung, die unüberwindlich schien, eine Kluft, die immer größer wurde.

Junipers Vater blieb jetzt meistens für sich, zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, las oder schrieb in ein dickes, abgenutztes Heft voller Zeitungsausschnitte und Bilder. Er hätte genauso gut ein »Bitte nicht stören«-Schild an die Tür hängen können.

Doch an diesem Tag, wie an jedem anderen Tag, hoffte Juniper, den Vater vorzufinden, den sie einst gekannt hatte. Oder wenigstens ein oder zwei Bücher heimlich in ihr Zimmer schmuggeln zu können.

Im Erdgeschoss, ganz am Ende der langen Halle, stieß sie die Tür zum Arbeitszimmer auf. Wie erwartet hielt sich Mr. Berry dort auf. Er ging mit langen Schritten auf und ab. Hin und her, hin und her, ohne Pause. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und sein Kopf zuckte ruckartig von rechts nach links. Während Juniper ihn beobachtete, wurden seine Schritte schneller, genauso wie seine Atmung. Ab und zu schlug er die Fäuste so kräftig gegeneinander, dass das dumpfe Knallen durch den Raum hallte. Seine Lippen bewegten sich, aber es kam kein Ton heraus – vielleicht sprach er mit sich selbst. Er sah aus, als wäre er verrückt geworden.

Juniper stand einige Minuten auf der Türschwelle, ohne dass ihr Vater sie bemerkte. Er muss sich in eine Figur vertieft haben, redete sie sich ein, um nicht weinen zu müssen. Das hatte sie sich in letzter Zeit oft gesagt. Sie hoffte, dass sie sich nicht täuschte.

»Dad?«

Er antwortete nicht. Stattdessen ging er zum Fenster und sah in den Garten hinaus. Seine Finger kratzten an der Glasscheibe.

»Dad?«

Immer noch keine Antwort.

»Dad?!«, rief sie. Ihr Vater zuckte zusammen und fuhr herum. Sein distanzierter Blick schien aus weiter Ferne zu kommen.

»Juniper, was tust du hier? Was habe ich dir gesagt? Das ist mein Zimmer. Mein privater Rückzugsraum.«

Juniper zuckte zusammen und ging einen Schritt zurück. Ihre Hand griff nach der Tür. »Ich wollte nur nachsehen, was du machst. Ich dachte, wir könnten vielleicht gemeinsam einen Text durchgehen oder so was. Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht. Ich habe wieder etwas geschrieben.«

Obwohl ihre Stücke nicht mehr aufgeführt wurden, schrieb sie jeden Tag etwas Neues. Sie verfasste auch Kurzgeschichten, meistens über die Tiere, die sie durch ihr Fernglas beobachtete und in ihren Texten zu den Freunden werden ließ, die sie gerne gehabt hätte. Oder Fantastereien über die Sterne am Himmel und die Regionen, die jenseits ihres erweiterten Blickes lagen, Unterwasser-Welten mit großen Luftblasen, in denen man atmen und leben, mit Fischen sprechen und Meerjungfrauen besuchen konnte.

Mr. Berry schnaubte. »Denkst du etwa, das ist alles nur ein Spiel? Ich habe keine Zeit für so was!«

Er sprach schneller, als sie ihn jemals hatte sprechen hören. Die Worte sprudelten nur so aus seinem Mund.

»Ich … Ich …«

»Hast du nichts zu tun? Such dir doch irgendein Fernrohr, durch das du schauen kannst!« Mr. Berry fuhr herum und schlug mit der Faust gegen die Wand. »Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?«

Er schickte sie mit einem Fuchteln seiner schmerzenden Hand fort und begann, wieder im Raum auf und ab zu gehen. Juniper blieb nichts anderes übrig, als das Zimmer zu verlassen. Ihr Herz war schwer und ein Gedanke zuckte durch ihren Kopf: