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Irgendetwas stimmt in letzter Zeit nicht mit Mom und Dad.

Juniper konnte sich an eine Zeit erinnern, in der ihre Eltern ihr niemals erlaubt hätten, im Regen zu spielen. Doch das schien eine andere Zeit gewesen zu sein – und auch andere Eltern. Es war, als würde Juniper jedes Jahr neue Eltern bekommen, als würde ein Paar ständig gegen das nächste ausgetauscht. Also ging sie am nächsten Tag hinaus in den Regen.

Zum Glück war die Gegend rund um die Villa unendlich spannend. Fast jeden Tag studierte Juniper die Tiere, die aus dem Wald hinaus oder in den Wald hinein liefen: Waschbären, Eichhörnchen, Kaninchen, Rehe, Mäuse, Füchse, Streifenhörnchen und Stinktiere. Sie beobachtete die Vögel, die über den Himmel flogen, so wie sie es oft auch gern getan hätte. Mithilfe eines Vogelführers trug sie jede ihrer geflügelten Entdeckungen in ein Notizbuch ein: Weidenschnäppertyrann, Schwarzkopf-Phoebetyrann, Arkansaskönigstyrann, Hutton’s Vireo, Elster, Sumpfschwalbe, Schlichtmeise, Blaukehl-Hüttensänger, Kalifornienspottdrossel, Gold-Waldsänger, Rainammer, Rotschulterstärling und viele andere. Aber ihr Lieblingsvogel war ein bestimmter Rabe, der schwärzeste aller Vögel, der aussah, als wäre er in Teer getaucht. Er hatte einen dicken, gekrümmten, mitternachtsblauen Schnabel und konnte eine Menge verschiedener Krächzlaute ausstoßen. Normalerweise fand sie ihn auf einem ganz bestimmten Ast eines bestimmten Baumes in einer bestimmten Ecke des Waldes, kurz hinter der Grundstücksgrenze, einige Dutzend Schritte in den ausgedehnten Wald hinein.

Die nächsten Nachbarn wohnten auf beiden Seiten in mehreren Kilometern Entfernung, sodass Juniper ungestört die Gegend erkunden konnte. Allerdings machte es ihr dieser Umstand auch sehr schwer, Freunde zu finden. Es war einfach niemand da. Sie war sehr einsam.

Juniper wusste, dass Kitty das Rascheln des Stoffes hören würde, als sie in ihren Regenmantel und die roten Gummistiefel schlüpfte. Und schon sprang Kitty in vollem Tempo aus dem Flur herein. Der beste Freund des Menschen, sogar bei Regen. Wenigstens habe ich dich, dachte Juniper.

Kitty war sofort an ihrer Seite und wedelte begeistert mit dem Schwanz. Es war Junipers Idee gewesen, dem Hund diesen merkwürdigen Namen zu geben, der eher an eine Katze erinnerte. Kaum hatte Mr. Berry den Jack Russell Terrier abgesetzt, hatte Juniper vor Freude gequietscht, mit den Armen gewedelt und gerufen: »Kitty!«

Kitty hatte tatsächlich eher wie ein junges Kätzchen ausgesehen. Sie war sehr klein, und ihre Ohren stellten sich seltsamerweise auf, wenn sie etwas entdeckt hatte. Aus irgendeinem Grund klappten sie nicht wieder zurück, wie es normal gewesen wäre. Ihr geschmeidiger Körper krümmte sich zu einem Buckel und sie näherte sich ihrer neuen Besitzerin nur sehr vorsichtig. Ihre Augen waren groß und frech und ihre Schnauze war viel zu kurz. Kitty sah einfach nicht wie ein Hund aus. Darum dauerte es auch eine ganze Weile, bis Juniper endgültig davon überzeugt war, dass sie wirklich einer war.

»Bist du bereit?«, fragte Juniper und legte die Hand auf die Türklinke. »Mach’s mir diesmal nicht zu leicht.« Kaum hatte sie die Hintertür geöffnet, rannte Kitty hinaus. In wenigen Sekunden war der Hund im Wald verschwunden.

Das Spiel hieß »Hierher, Kitty!« und sie spielten es oft. Juniper gab Kitty einen Vorsprung von mehreren Minuten und spürte sie dann mithilfe ihrer unterschiedlichen Ferngläser auf. Von Mal zu Mal war Juniper besser und schneller geworden. Sie benutzte ihr Monokular, um auffällige Bewegungen im Dickicht zu beobachten, eine Lupe, um im Schlamm nach Spuren zu suchen, und ihr Fernglas, um am Himmel nach aufgescheuchten Vögeln Ausschau zu halten. Normalerweise hatte sie Kitty im Handumdrehen gefunden.

Doch an diesem Tag spielten sie das Spiel zum ersten Mal im strömenden Regen. Das stellte Juniper vor zahlreiche Probleme. Alle Blätter, Büsche und Bäume zitterten und schwankten bereits, Kittys Spuren wurden schnell vom Regen verwischt und am Himmel befand sich kein einziger Vogel. Doch sie wollte nicht aufgeben und nach Kitty rufen. Genauso wenig wollte sie pfeifen oder in die Hände klatschen, damit Kitty zu ihr kam. Nein, sie würde sie finden, und wenn es den ganzen Tag dauerte. Juniper Berry war kein Feigling. Außerdem hatte sie sowieso nichts anderes vor.

Sie wagte sich tiefer in den Wald, als sie es jemals getan hatte. Ihre Stiefel sanken im Schlamm ein, der Regen prasselte auf ihren Schirm und die kalte Luft drang durch ihren Mantel. Und immer noch keine Spur von Kitty. Juniper war sich nicht sicher, wie viel Zeit vergangen war, aber sie nahm an, dass sie inzwischen fast eine Stunde lang gesucht hatte. Sie lag beinahe richtig, es waren genau 52 Minuten.

In der 53. Minute trat sie auf eine merkwürdige Lichtung. In der Mitte hatte jemand Holz aufgeschichtet und überall lag verkohltes Papier herum. Falls der Holzstoß schon vorher da gewesen war, hatte Juniper ihn nicht bemerkt. In diesem Moment hörte sie Kitty in der Ferne bellen. Wenn ihr Orientierungssinn stimmte – und das tat er –, kam das Bellen aus Richtung des Hauses.

Obwohl sie sehr neugierig war – wer war hier gewesen und warum? –, musste die weitere Untersuchung der Lichtung warten.

Juniper rannte durch den Wald zurück zum Haus. Gedanken schossen durch ihren Kopf wie das Licht einer Supernova. Sie bellt nie so, dachte Juniper besorgt.

Zweige schlugen ihr ins Gesicht, der Matsch klebte an ihren Stiefeln, ihr Schirm hatte einen Riss bekommen, aber sie rannte immer weiter. Obwohl sie nicht wusste, warum, befürchtete sie, dass ihren Eltern etwas Schreckliches zugestoßen sein könnte.

Als sie den Wald zur Hälfte durchquert hatte – die Sicht auf das nicht mehr weit entfernte Haus wurde noch von dicken Baumstämmen versperrt –, erblickte sie etwas, das alle Gedanken augenblicklich aus ihrem Kopf fegte. Ein Fremder befand sich auf dem Grundstück.

Ein Junge stand dort im Regen und zuckte jedes Mal zusammen, wenn Kitty bellte. Das Auffälligste an ihm waren seine dichten braunen Haare, die unordentlich vom Kopf abstanden. Er hatte so viele davon, dass es aussah, als könnte sein langer, dünner Hals den Kopf kaum halten.

Juniper befürchtete fast, der magere Junge würde wegen des Gewichts oberhalb seiner schmalen Schultern einfach vornüberkippen. Alles an ihm, abgesehen von seinem ausladendem Haarschopf, war klein: seine Augen, seine Nase, Mund und Ohren, Arme, Beine, Hände und Füße. Er sah aus, als hätte er eine ganze Weile nichts gegessen. Sein grünes Polo-Shirt und seine Jeans schlabberten um seinen Körper.

Juniper stand unter ihrem gelben Regenschirm und starrte den Jungen verwundert an, doch er bemerkte sie nicht. Er ging vorsichtig zu einem nahe stehenden Baum und ließ seine Hände über den Stamm gleiten, hinauf und hinunter. Als er fertig war, machte er mit den nächsten Bäumen weiter, einem nach dem anderen. Er schien tief in Gedanken versunken zu sein und inspizierte mit aufmerksamem Blick jeden Baum, ohne weiter auf Kittys Gebell zu achten.

Schließlich klatschte Juniper in die Hände und der Junge kippte vor Schreck fast aus seinen nicht zugebundenen Turnschuhen. Kitty hörte sofort auf zu bellen und lief zu Juniper hinüber.

»Was machst du hier draußen im Regen?«, fragte Juniper. »Du wirst dich erkälten.«

Die Hand des Jungen lag über seinem Herzen, als wollte er es davon abhalten, aus seiner Brust zu springen. Er hatte ganz offensichtlich nicht damit gerechnet, an so einem verregneten Tag jemandem zu begegnen. Oder er hatte Angst davor, was in diesem Fall passieren würde. »Und … und … was ist mit d…dir?«, stammelte er mit schwacher und weinerlicher Stimme.

»Ich habe einen Regenschirm.« Zum Beweis hielt sie ihren Schirm in die Höhe.

»Aha.« Der Junge sah irgendwie traurig aus. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und ließ den Regen über sein Gesicht laufen. Seine Lippen waren blau und er klapperte mit den Zähnen. Doch zumindest schien die Angst, die er eben noch vor Juniper gehabt hatte, jetzt verschwunden zu sein.