»Archer!«, rief jemand. »Grant Archer! Hierher.«
Er wandte den Kopf und sah Karlstad aufstehen und ihm winken. Dankbar und erleichtert steuerte er den Tisch an.
»Ich möchte nicht stören …«, sagte er lahm, als er vor ihnen stand. Alle vier Plätze waren noch belegt.
»Unsinn«, erwiderte Karlstad, zog einen Stuhl vom nächsten Tisch heran und erschreckte dabei das Paar, das dort in ein Gespräch vertieft die Köpfe zusammensteckte.
Vorsichtig schob Grant sein Tablett auf den Tisch und ließ sich auf dem Stuhl nieder. »Vielen Dank«, sagte er.
Er nahm Teller und Becher und Besteck vom Tablett, dann schob er dieses unter seinen Stuhl, wie er es bei den anderen beobachtet hatte. Ei wollte ein kurzes, stilles Tischgebet sagen, aber Karlstad unterbrach ihn.
»Ursula Neumann«, sagte er und zeigte auf die verdrießlich blickende blonde Walküre, die links neben Grant saß. Sie lächelte, als verursachte es ihr Gesichtsschmerzen. »Ursula ist eine unserer besten Computerfachleute. Wenn Sie ein Problem mit einer Simulation, einer Analyse oder der Anlage eines Programms haben, gehen Sie zu ihr.«
Sie nickte nüchtern. »Das erzählt er so vielen, dass ich ständig von Arbeit überschwemmt bin.«
Bevor Grant etwas sagen konnte, wandte Karlstad sich zu der anderen Frau, einer kleinen Asiatin mit einem Gesicht, das rund und flach wie eine Pfanne war. »Tamiko Hideshi, Doktor der Physikochemie.«
»Kommen Sie zu mir«, sagte Hideshi mit einem Funkeln in ihren dunklen Augen, »wenn Sie ein Problem haben, die Chemie in Europas Ozean zu verstehen.«
Alle am Tisch lachten, ausgenommen Grant.
»Ich fürchte, ich verstehe den Scherz nicht«, gab er zu.
Hideshi berührte beschwichtigend seinen Arm. »Der Scherz ist, dass niemand die Chemie versteht, die unter diesem verdammten Eis vorgeht. Seit mehr als zehn Jahren planschen sie dort herum, nachdem sie vorher dreißig Jahre lang automatische Sonden hinuntergeschickt haben, aber die Komplexität entzieht sich noch immer einer Erklärung.«
»Oh«, murmelte Grant. »Ich verstehe.«
»Ich wünschte ich verstünde es«, erwiderte Hideshi kläglich.
»Dieser große Schlägertyp hier«, fuhr Karlstad fort und zeigte mit dem Daumen auf den Schwarzen, »ist Zareb Muzorawa. Flüssigkeitsdynamik.«
»Meine Freunde nennen mich Zeb«, sagte Muzorawa in bedächtigem Ton.
Nach seiner äußeren Erscheinung — athletische Gestalt, kahl geschorener Kopf, dünner Kinnbart und tiefbraune, rotgeränderte Augen — erwartete Grant eine löwenhaft tiefe, polternde Stimme. Stattdessen kam sie hell und leise heraus, beinahe liebenswürdig trotz seiner ernsten Haltung. Dann lächelte er, und alle Wildheit seines Gesichts löste sich in warme Freundlichkeit auf.
Muzorawa trug einen bequemen weichen Rollkragenpullover. Grant sah, dass er schwarzlederne Leggings mit Metallknöpfen an den Außennähten anhatte, wie er sie schon bei Lane O'Hara bemerkt hatte. Neumanns ärmellose Bluse war tief genug ausgeschnitten, um zu zeigen, wie üppig sie gebaut war. Hideshi hingegen steckte in einem verschlissenen olivgrünen Overall mit ausgefransten Ärmeln.
Grant sagte: »Ich bin sehr erfreut, Sie alle kennen zu lernen.« Darauf machte er sich über seinen Salat her, aber Hideshi unterbrach ihn.
»Was ist Ihre Disziplin?«
»Ich studiere Astrophysik.«
»Astrophysik?«
Grant nickte. »Mein Spezialgebiet ist der Sternenkollaps. Supernovae, Pulsare, Schwarze Löcher … solche Dinge.«
»Was, in aller Welt, tun Sie dann hier?«, fragte Neumann.
»Warum hat Dr. Wo Sie ausgewählt?«, ergänzte Karlstad.
Grant konnte nur die Achseln zucken. »Ich leiste meine allgemeine Dienstpflicht ab. Ich glaube nicht, dass Dr. Wo gerade mich angefordert hat. Ich denke, dass ich bloß hier bin, weil man beim Personalamt glaubte, als Student der Astronomie würde ich hier schon richtig sein.«
Karlstad nickte. »Bloß ein Lückenbüßer, wie?«
Aber Muzorawa wollte davon nichts wissen. »Das glaube ich nicht. Der Direktor ist in der Auswahl seines Personals immer sehr sorgfältig. Sehr genau. Niemand kommt in diese Station, wenn er nicht gerade diese Person will.«
Grant wusste, dass das nicht stimmte. Er war hierher geschickt worden, um Dr. Wo und die anderen Wissenschaftler zu bespitzeln. Vielleicht, ging es ihm durch den Kopf, argwöhnte Wo bereits, dass er ein Spion war. Das würde sein gereiztes Verhalten erklären.
Neumann runzelte besorgt die Stirn. »Nun, für einen Astrophysiker gibt es hier keine Arbeit, das ist sicher.«
Grant blickte in die Tischrunde: Biophysik, Computertechnik, Physikochemie und Flüssigkeitsdynamik. Er fragte sich, was das alles miteinander zu tun hatte. »Was«, erkundigte er sich, »ist denn die Arbeit, die Sie hier tun?«
»Ursula und ich unterstützen die mit der Untersuchung der Galileischen Monde beschäftigten Arbeitsgruppen.«
Er wandte sich zu Muzorawa. »Und Sie?«
Der andere blickte zur Decke auf, dann antwortete er zurückhaltend: »Ich gehöre zu einer anderen Gruppe, die sich mit Jupiter beschäftigt.«
»Dem Planeten selbst, nicht seinen Monden?«
»Richtig.«
»Flüssigkeitsdynamik«, sagte Grant nachdenklich. »Dann müssen Sie die Atmosphäre studieren. Die Wolken …«
»Und die Lebensformen«, warf Karlstad ein.
»Diese großen, treibenden Ballone«, sagte Grant. »Warum werden sie Clarkes Medusen genannt? Sie haben keine Ähnlichkeit mit den im Meer treibenden Medusen auf Erden.«
»Sie sind ungefähr tausendmal so groß«, sagte Neumann, »und sie treiben durch die Jupiteratmosphäre, nicht den Ozean.«
Muzorawa sagte: »In der Atmosphäre gibt es eine faszinierende Ökologie. Zum Beispiel Segler, die auf den Medusenballonen nisten. Sie verbringen ihr ganzes Leben in der Höhe und berühren niemals die Oberfläche des Ozeans.«
»Aber es ist eine verstümmelte Ökologie«, bemerkte Karlstad. »Sie beginnt sich gerade erst von der Shoemaker-Levy-Katastrophe zu erholen.«
Grant war momentan verwirrt, dann fiel ihm ein, dass der Komet Shoemaker-Levy 9 Jupiter mit der Gewalt von Tausenden von Wasserstoffbomben getroffen hatte.
»Das ist doch bald ein Jahrhundert her«, meinte er. »Sind die Auswirkungen noch spürbar?«
Karlstad nickte. »Damals müssen Gott weiß wie viele Arten ausgelöscht worden sein.«
»Aber das Manna wurde nicht beeinträchtigt«, sagte Hideshi.
»Manna?«
»Die organischen Verbindungen, die sich in den Wolken bilden«, erklärte Karlstad. »Sehr komplizierte Molekülverbindungen, die langsam abwärts in den Ozean sinken.«
»Haben Sie im Ozean Lebensformen gefunden?«, fragte Grant.
Die Vier sahen einander an, dann sagte Karlstad: »Offiziell — nein.«
Grant vergaß das Abendessen auf dem Teller vor sich. »Aber inoffiziell?«, fragte er.
Bevor der andere antworten konnte, trat ein untersetzter rothaariger Mann mit buschigem ziegelrotem Schnurrbart an den Tisch und ließ Karlstad eine Hand auf die Schulter fallen. »Na, Leute, wie geht's? Ist das der neue Mann?«
Karlstad nickte. »Grant Archer«, sagte er. »Grant, dies ist einer der wichtigsten Männer in der Station: Rodney Devlin.«
»Besser bekannt als Red Devil«, ergänzte Neumann trocken.
»Sehr erfreut, Grant«, sagte Devlin und streckte ihm die Hand hin. »Nennen Sie mich einfach Red.«
Aus Devlins weißer, speisefleckiger Jacke schloss Grant, dass er ein Koch oder jedenfalls in der Cafeteria beschäftigt sei.
»Red ist hier der Chef«, erklärte Karlstad.
»Eine übertriebene Stellenbeschreibung, wenn ich je eine gehört habe«, bemerkte Hideshi.
»Mehr als das«, fuhr Karlstad unbeirrt fort. »Red ist der Mann, zu dem Sie gehen müssen, wenn Sie etwas brauchen — von Toilettenpapier bis zu Sexvideos. In Wirklichkeit betreibt Red diese Station.«