»Sie sind freiwillig hier?«
Der andere nickte ernst. »Und ich beabsichtige so lange wie möglich hier zu bleiben. Der Jupiterozean stellt ein Problem dar, das für einen Wissenschaftler eine Lebensaufgabe sein kann.«
Grant konnte nur staunend den Kopf schütteln. Dies ist mein Mentor, dachte er stolz. Er wird mein Doktorvater sein. Sich Gedanken über die geistige Gesundheit eines Mannes zu machen, der freiwillig in einer Orbitalstation lebte, die sich der Erde niemals mehr als bis auf sechshundert Millionen Kilometer annäherte, kam Grant nicht in den Sinn.
An diesem Abend schickte Grant zum ersten Mal seit Monaten wirklich glückliche Botschaften an Marjorie und seine Eltern. Von seiner Frau hatte er seit mehr als einer Woche nichts gehört, wusste aber, dass sie sehr beschäftigt war. In ihrer letzten Botschaft hatte sie müde ausgesehen, abgespannt und besorgt. Er fragte sich, ob sie krank war, ob sie etwas vor ihm verbarg. Und ob sie ihn noch liebte.
Das bereitete ihm Kopfzerbrechen. Wie konnte die Liebe zu jemandem andauern, wenn man vier Jahre getrennt und noch dazu Millionen von Kilometern voneinander entfernt ist? Er bemühte sich, Gedanken an Lane O'Hara aus seinem Bewusstsein zu verdrängen, sogar aus seinen Träumen. Marjorie war umgeben von stattlichen jungen Offizieren und Universitätsabsolventen, die ihre Dienstpflicht ableisteten: Dutzenden, sogar Hunderten.
Immerhin hatte er ihr zum ersten Mal seit seiner Abreise gute Nachrichten mitzuteilen und lächelte während seiner ganzen Botschaft an sie. Erst als der Computer und die Raumbeleuchtung ausgeschaltet waren und er im Bett lag, allein in der Dunkelheit, verwandelte die Angst um Marjorie sein Gesicht in eine gequälte, unglückliche Maske. Er versuchte zu beten, aber die Worte kamen ihm leer und nutzlos vor.
Im Laufe der nächsten Wochen verbrachte Muzorawa mehr und mehr Zeit beim Training für die bevorstehende bemannte Mission; umso weniger blieb ihm für seine Untersuchungen zum Problem der Flüssigkeitsdynamik.
»Ich fürchte, die Arbeit wird in nächster Zeit größtenteils auf Ihren Schultern ruhen«, eröffnete er Grant.
»Ich werde schon damit fertig.«
»Es tut mir Leid, Ihnen all die Arbeit aufzuladen«, fuhr Muzorawa fort, den Blick auf der grafischen Darstellung, die Grant auf den Bildschirm gebracht hatte.
»Sie können nicht an zwei Orten zugleich sein«, sagte Grant. »Außerdem haben Sie den Löwenanteil bereits getan, die grundlegenden Gleichungen entwickelt und alles.«
Muzorawa nickte, aber seine Miene zeigte, dass er mit der Situation nicht zufrieden war.
Grant war es. Zum ersten Mal seit seiner Abreise hatte er wirkliche wissenschaftliche Arbeit zu tun. Eine Herausforderung. Es war nicht Astrophysik, aber beinahe genauso gut. Niemand verstand, wie es im Innern Jupiters aussah und welche Wechselwirkungen dort stattfanden. Es war unerforschtes Territorium, und Grant hatte die Gelegenheit, einen Vorstoß ins Unbekannte zu tun. Er war entschlossen, das Beste daraus zu machen.
Zuerst war er überrascht gewesen, als er entdeckt hatte, dass Muzorawas Arbeitsgruppe Flüssigkeitsdynamik aus dem Sudanesen allein bestand.
»Ich dachte, Tamiko arbeite mit Ihnen«, hatte er gesagt.
»Das ist richtig, sie hatte sich mit der Atmosphäre und den dort herrschenden Strömungsverhältnissen beschäftigt, aber sie wurde der Arbeitsgruppe Europa zugeordnet, um dort am Problem des Ozeans mitzuarbeiten.«
Muzorawa erzählte ihm, dass es zwei Flüssigkeitsdynamiker in seiner Abteilung gegeben habe.
»Lucy Denora war eine tüchtige Wissenschaftlerin mit einem erstklassigen Verstand«, erinnerte er sich. »Aber in dem Augenblick, als die Dienstpflicht abgelaufen war, floh sie zurück in die Heimat. Inzwischen hat sie es dort zur Universitätsdozentin gebracht. Hin und wieder stehen wir noch in Verbindung.« Er schmunzelte. »Aber von dieser Station will sie nichts mehr wissen. Sie zieht ihre heimatliche Umgebung vor.«
»Und wer war Ihr anderer Assistent?«, fragte Grant.
»Kein Assistent, mein Freund. Es war Dr. Wo persönlich.«
»Er ist ein Flüssigkeitsdynamiker?«
»Er war es, bevor er zum Direktor der Station befördert wurde. Trotzdem arbeiteten wir ziemlich lange zusammen, bis …« Er brach ab.
»Bis zum Unfall«, ergänzte Grant.
»Sie wissen davon?«
»Ein wenig.«
»Ein wenig Wissen kann gefährlich sein«, sagte Muzorawa.
»Dann sollte ich mich um mehr Wissen bemühen«, erwiderte Grant.
Das bestritt Muzorawa nicht. Aber er tat auch nichts, um Grants Wissen über den Unfall zu erweitern.
Das Hauptproblem, mit dem sie zu tun hatten, bestand darin, dass sie Bedingungen zu untersuchen hatten, die noch nie direkt beobachtet, geschweige denn erfahren und an Ort und Stelle gemessen worden waren.
Die von außen gewonnen Messdaten waren zudem sehr spärlich. Dutzende von unbemannten Sonden waren in die ungemessenen Tiefen des Jupiterozeans entsandt worden, aber nur wenige hatten Messdaten übermittelt, und diese waren nicht mehr als vereinzelte Lichtpunkte in der unermesslichen Finsternis von Unwissenheit.
Unter dem massiven Druck von Jupiters Schwerkraft wird die dichte, turbulente Atmosphäre ungefähr siebzigtausend Kilometer unter der sichtbaren Wolkenoberfläche zu Flüssigkeit komprimiert: einem seltsamen und unbekannten Ozean, dessen Wasser stark von Ammoniak und Schwefelverbindungen durchsetzt ist.
Doch liegt die Temperatur des Ozeans weit unter dem Gefrierpunkt, wie er auf Erden normal ist. Unter dem ungeheuren Druck bleibt das Wasser trotz der niedrigen Temperatur flüssig. Mit zunehmender Tiefe aber wird die See wärmer, erhitzt von der Glut im Innern des Planeten.
Dieser Ozean ist wenigstens fünftausend Kilometer tief. Mehr als fünfhundertmal tiefer als der tiefste ozeanische Graben auf Erden.
Und das lag noch im Oberflächenbereich des gigantischen Jupiter. Zum ersten Mal begann Grant zu verstehen, wie ungeheuer groß Jupiter war. Die Zahlen allein reichten nicht aus, um einen zutreffenden Eindruck zu vermitteln; sie konnten es nicht. Jupiter war einfach zu groß für bloße Zahlen.
Ein Ozean, dessen Oberfläche die gesamte Erdoberfläche um das Zehnfache übertraf und fünhundertmal tiefer als die Erdozeane war und doch nur wie eine dünne Zwiebelschicht die gigantische Masse des Planeten umhüllte. Unter diesem Ozean liegt eine weitere See, eine unvorstellbar immense See von flüssigem Wasserstoff und Helium, beinahe sechzigtausend Kilometer tief. Nahezu achtmal tiefer als der gesamte Erddurchmesser!
Und darunter steigt der Druck weiter an, erreicht das Millionenfache des normalen atmosphärischen Druckes und komprimiert den Wasserstoff zu festem Metall, das eine Temperatur von einigen zehntausend Grad hat. Unter diesem Mantel von metallischem Wasserstoff mag eine weitere Schicht aus flüssigem Helium liegen. Auf Erden wird Helium nur wenige Grade über dem absoluten Nullpunkt flüssig. Doch tief im Innern Jupiters wird Helium trotz der hohen Temperaturen im Kernbereich des Planeten verflüssigt, weil der unvorstellbare Druck von oben den Heliumatomen nicht mehr Raum genug gibt, um in den gasförmigen Zustand überzugehen.
Im Herzen des Planeten liegt ein massiver Kern aus Gestein und Metall, wenigstens fünfmal größer als die Erde, glühend unter dem ungeheuren Druck der planetarischen Masse, die auf ihm lastet. Seit mehr als vier Milliarden Jahren hat die immense Schwerkraft den Planeten langsam und unerbittlich zusammengedrückt und Gravitationsenergie in Hitze umgewandelt, sodass die Temperatur dieses festen Kerns auf dreißigtausend Grad Celsius anstieg und die Energie erzeugt, die den Planeten von innen erhitzt. Dieser heiße, massive Kern ist der ursprüngliche Protoplanet aus der Zeit, in der sich das Sonnensystem bildete, der Kern, um den sich allmählich Schichten von Wasserstoff und Helium und Ammoniak sammelten, von Methan und Schwefelverbindungen und Wasser.