»Und danach?«
Karlstad zuckte die Achseln.
Wo stand wie unschlüssig am Fuß der Leiter und atmete tief durch. Der Mann tat Grant beinahe Leid. Es hatte ihn all seine Energie gekostet, die wenigen Schritte vom Rollstuhl zur Leiter zu tun. Sicherlich würde er es nicht schaffen …
Plötzlich ergriff Wo die Sprossen der Leiter und zog sich Hand über Hand mit nutzlos baumelnden Beinen hinauf. Grant sah, wie ihm Schweißperlen auf die Stirn traten, sah seine zusammengebissenen Zähne, die unbedingte Entschlossenheit. Er schaffte es bis zum oberen Ende der Leiter, schwang die Beine über den Rand und ließ die Füße ins Wasser hängen.
Zwei Techniker stiegen eilig die Leiter hinter ihm hinauf, brachten ihm die Gesichtsmaske, die Sauerstoffflasche und Gewichte. In kaum zwei Minuten hatten sie Wo für den Tauchgang ausgerüstet. Er stieß sich vom Rand des Tanks ab und platschte unbeholfen ins Wasser. Einer der Techniker begann zu applaudieren, doch als er sah, dass er allein war, ließ er es verlegen sein.
Wo sank zum Grund des Beckens und schwamm scheinbar mühelos zur Schalttafel, wo er seinen Platz zwischen O'Hara und Muzorawa einnahm.
»Man muss es ihm lassen, er hat Schneid«, sagte Karlstad widerwillig.
Grant nickte.
»Mich werden Sie nie in diesen Fischtank springen sehen«, bemerkte Karlstad.
»Sie nehmen nicht teil an der Mission?«
»Ich? Seien Sie nicht albern!«
»Aber ich dachte …«
»Wo bestimmte mich für die Mannschaft, ja«, gab Karlstad zu. »Ich werde einer der Überwachungstechniker in der Zentrale sein, wenn die Tauchsonde startet. Aber das ist alles! Sie kriegen mich nie in diese Todesfalle, solange sie mir nicht eine Pistole an den Kopf halten. Vielleicht nicht einmal dann.«
5. „DER ZORN LI ZHANG WOS“
Es war langweilig und faszinierend zugleich, die drei bei der Simulation zu beobachten. Grant sagte sich immer wieder, dass er an seine Arbeit zurückkehren sollte, statt seine Zeit so zu vergeuden, aber er konnte den Blick nicht vom Bildschirm wenden.
Dr. Wo hatte offensichtlich die Leitung übernommen und seine Freude daran. Statt wie O'Hara und Muzorawa vor der Schalttafel verankert zu bleiben, zog er die Füße aus den Halteschlingen und trieb fast schwerelos wie ein träger Dugong in dem großen Tank. Bald schwebte er über den beiden, bald trieb er gemächlich von einer Seite zur anderen. Dabei gab er die Anweisungen und übernahm den gesamten Sprechverkehr mit dem Versuchsleiter.
»Es macht ihm Spaß, wie man sieht«, sagte Grant.
Karlstad grunzte. »Das erste Mal seit dem Unfall, dass er sich ohne seinen Rollstuhl bewegen kann.«
»Kein Wunder, dass es ihm gefällt.«
»Ihm gefällt auch das Gefühl von Macht, vergessen Sie das nicht.«
»Das kann er die ganze Zeit haben«, konterte Grant. »Hier hat er mehr Macht als Gott … so ungefähr.«
»Es gibt verschiedene Arten von Macht, Grant. Im Augenblick, in diesem Tank, fühlt er sich körperlich stark. Ich wette, im Hintergrund seines Bewusstseins denkt er, er könne Laynie packen und vernaschen, und sie würde es toll finden.«
Grant merkte, wie er errötete, und Karlstad kicherte boshaft. »Das hat einen Nerv getroffen, was?«
»Ich glaube eher, dass Sie von sich auf andere schließen. Und ich finde, Sie können manchmal ziemlich ordinär sein, Egon.«
Karlstad zuckte geringschätzig die Achseln. »Warum nicht? Man soll die Dinge beim Namen nennen.«
»Ich dachte, die Biochips würden den Sexualtrieb kurzschließen«, sagte Grant.
»Wer hat Ihnen das erzählt?«
»Lane.«
Karlstads wissendes Grinsen wurde noch breiter. »Die Chips haben mit dem Trieb nichts zu tun; der ist im Kopf, im Gehirn.«
»Aber …«
»Anscheinend schalten sie alle sensorischen Nerven unterhalb der Gürtellinie aus«, fuhr Karlstad fort. »Das muss Wos brillante Idee gewesen sein.«
»Warum sollte er das tun?«
»Die Besatzung der Tauchsonde wird wochenlang in diesem Scheibending zusammengepfercht sein. Wo will nicht, dass jemand von der Besatzung durch menschliche Schwächen vom Ziel des Unternehmens abgelenkt wird.«
Grant nickte. Wo hatte die Gefühle beseitigt, aber das Verlangen gelassen. Das musste ein höllischer Zustand sein.
»Ich muss zurück an meine Arbeit«, sagte Grant, überrascht, seine eigenen Worte zu hören.
»Sie wollen nicht den Rest der Simulation beobachten?«
»So interessant ist es nicht.«
»Laynie im Tauchanzug beobachten ist nicht interessant?«
Grant wandte sich wieder seinem Arbeitsplatz zu und brachte den Computer wieder in Gang. Auf dem Bildschirm erschien das Fraktalmuster, verschwand wieder und wurde ersetzt durch die Darstellung, an der Grant gearbeitet hatte, als Karlstad hereingekommen war.
»Oder vielleicht ist es zu interessant für Sie, Laynie zu beobachten? Ist es das?«, fragte Karlstad mit einem wölfischen Grinsen.
Grant sagte unwirsch: »Ich habe zu viel Arbeit zu erledigen, um herumzusitzen und zu …«
»Halt!«, rief die Stimme des Versuchsleiters. »Medizinische Unterbrechung.«
Die drei Leute im Tank blickten auf. Blasenketten stiegen von ihren Masken auf.
»Dr. Wo«, sagte der Versuchsleiter, »wir registrieren einen scharfen Anstieg Ihres Blutdrucks. Auch Ihr Puls geht bedenklich in die Höhe.«
»Das ist vorübergehend. Überwachen Sie weiter und …«
»Die Bestimmungen für Simulationsversuche verlangen eine Unterbrechung, wenn eine der beteiligten Personen die festgesetzten medizinischen Parameter überschreitet, Dr. Wo«, sagte der Versuchsleiter in respektvollem, aber festem Ton.
»Es ist nur vorübergehend, sage ich!«
O'Hara und Muzorawa hatten ihre Arbeit an der Schalttafel beendet. Rote Kontrollleuchten blinkten und warfen schimmernde Reflexe ins Wasser.
Womöglich noch ruhiger sagte der Versuchsleiter: »Dr. Wo, ich habe keine andere Wahl als die Simulation zu beenden.«
»Nicht nötig!«, rief Wo. Er fuchtelte ungeduldig mit den Armen.
»Aber die Sicherheitsbestimmungen …«
»Hier ist der ärztliche Dienst«, unterbrach ihn eine Frauenstimme. »Diese Simulation ist beendet.«
Karlstad, der noch neben Grant saß, lachte unterdrückt.
»Was ist komisch?«, fragte Grant.
»Verschiedenes. Erstens, zu sehen, wie Wos Machonummer in die Hosen geht.«
Wo stritt noch mit dem Versuchsleiter und der diensthabenden Ärztin. Aber inzwischen waren alle Kontrollleuchten auf der Schalttafel in einem gleichmäßigen Rot.
»Zweitens, zu wissen, dass sein Blutdruck noch höher steigt, weil er seinen Willen nicht haben kann.«
Grant fand das nicht lustig.
»Aber das Komischste von allem ist die Sache mit der Ärztin«, fuhr Karlstad fort. »Der Alte kann sie nicht fertigmachen.«
»Die Ärztin kann nicht überstimmt werden?«
»Diese nicht. Mit dem nächsten Versorgungsschiff wird sie abreisen. Und sie hat eine Professur an der Universitätsklinik in Basel. Wo kann ihr nichts anhaben.«
»Sie hat die Simulation abgeschaltet.«
»Ganz recht. Und ich denke, sie hat auch Wos Plan, die Tiefenmission zu leiten, zunichte gemacht.«
Die nächsten Wochen gingen als »der Zorn Li Zhang Wos« in die Stationsgeschichte ein. Enttäuscht in seiner Hoffnung, die bevorstehende Tiefenmission zu leiten, richtete der Stationsdirektor seinen Zorn gegen jeden, der ihm in die Quere kam. Dutzende von Scootern wurden summarisch aus der Station verbannt und in die gefrorenen Einöden Europas und der anderen Jupitermonde geschickt, der intensiven Strahlung des Riesenplaneten ausgesetzt und gezwungen, wochenlang in gepanzerten Schutzanzügen zu leben, während sie sich auf dem Eis wie gewöhnliche Ölfeld-Bohrarbeiter mit schweren Bohrausrüstungen abplacken mussten. Alle Techniker, die an der verhängnisvollen Simulation mitgearbeitet hatten, wurden versetzt. Mehrere wurden mit den schlechtesten Beurteilungen, die Wo schreiben konnte, zur Erde zurückgeschickt. Unter ihnen befand sich auch der Versuchsleiter, dessen Personalakte um eine vernichtende Bewertung seiner Tätigkeit in der Station bereichert worden war. Trotzdem waren sie alle froh, mit heiler Haut davonzukommen.