»Gegen Laynie und Zeb kann er nichts unternehmen«, sagte Karlstad inmitten des wochenlangen Wütens zuversichtlich zu Grant. Aber er flüsterte jetzt und sprach vom Direktor nur wenn sie unter vier Augen waren. »Er braucht sie für die Mission.«
»Wer wird die Mission leiten?«, flüsterte Grant zurück.
»Zeb wahrscheinlich, wenn Wo noch einen Rest von gesundem Menschenverstand hat. Zeb ist das tüchtigste Mitglied der Mannschaft.«
Grant war da nicht so sicher. Er ging Dr. Wo aus dem Weg, soweit es ihm möglich war, arbeitete still und fleißig im Labor für Flüssigkeitsdynamik und behielt eine saubere Weste. Er versuchte sogar Begegnungen mit O'Hara und Muzorawa zu vermeiden, da er befürchtete, dass Dr. Wo, wenn er schon nicht diese beiden Zeugen seiner Demütigung nicht direkt bestrafen konnte, seinen Zorn sehr leicht an ihren Freunden auslassen könnte.
»Er kann die Mission nicht einfach abschreiben«, flüsterte Karlstad, obwohl sie allein in seinem Quartier waren, nachdem die Cafeteria für den Abend geschlossen hatte. »Er muss einen neuen Leiter ernennen und die Aufgabenverteilung der Mannschaft neu ordnen.«
»Es gibt eine Vakanz bei der Besatzung«, sagte Grant. »Bedeutet das nicht, dass einer der Ersatzleute in die Liste der Aktiven aufgenommen wird?«
Karlstad machte große Augen. »Es gibt nur drei Ersatzleute.«
»Und Sie sind einer davon.«
»Mich wird er nicht auswählen«, sagte Karlstad und schüttelte den Kopf, als wollte er ihn von der bloßen Idee befreien. »Irene und Frankovic sind viel besser qualifiziert.«
Grant kannte die beiden kaum. Irene Pascal war eine Fachärztin für Neurophysiologie, Bernard Frankovic ein Biochemiker.
»Aber Sie sind einer der verfügbaren Ersatzleute«, bekräftigte Grant, überrascht, wie sehr er den Ausdruck schieren Entsetzens in Karlstads normalerweise ruhig und kühl blickenden Augen genoss.
»Er wird mich nicht auswählen«, murmelte Karlstad wieder. »Er wird nicht. Er kann nicht!«
Mehrere Tage später wurde die ganze Jupiter-Arbeitsgruppe zu Dr. Wo bestellt. Zu seiner Überraschung hatte man auch Grant in die Vorladung einbezogen. Warum ich?, fragte er sich. Aber er achtete darauf, dass er mehrere Minuten vor der angegebenen Zeit den Konferenzraum neben dem Büro des Direktors erreichte.
Neun Männer und Frauen drängten sich in dem kleinen, nüchternen Raum, davon vier in den schwarzen, mit Metallknöpfen besetzten Leggings, die sie als Besatzungsmitglieder oder Ersatzleute kennzeichneten. Eine Weile standen sie herum und sprachen in vorsichtigem Flüsterton miteinander, bis der Augenblick der Sitzungseröffnung gekommen war.
Genau in diesem Augenblick wurde die Tür von Dr. Wos Büro geöffnet. Alles erstarrte, als der Direktor mit seinem Rollstuhl zum Kopfende des Konferenztisches fuhr. Das leise Summen des Elektromotors war das einzige Geräusch im Raum. Plötzlich drängten sie alle zu den Sitzen am unteren Ende des Tisches, so weit wie möglich vom Direktor entfernt. Es war wie ein kurzes, aber intensives Stühlerücken. Schneller als die meisten anderen ergriff Grant einen nahe am Ende des Tisches und setzte sich, flankiert von O'Hara zu seiner Rechten und Pascal, der Neurophysiologin. Karlstad saß genau ihm gegenüber.
Ohne Vorrede sagte Dr. Wo: »Die Mediziner haben mich von der Teilnehmerliste der Mission gestrichen.«
Er machte eine Pause. Alle um den Konferenztisch gaben ihrem Bedauern Ausdruck.
»Darum«, fuhr der Direktor fort, »ist die Ernennung eines neuen Leiters der Mission notwendig geworden.«
Er blickte zur offenen Tür seines Büros, und mit merklichem Hinken trat zögernd eine Frau in den Konferenzraum. Ein Seufzen des Wiedererkennens ging durch den Raum, beinahe ein Ächzen, dachte Grant. Die Frau war ihm fremd, doch die meisten der anderen kannten sie offenbar. Grant blickte über den Tisch zu Karlstad; sein langes, blasses Gesicht sah entgeistert aus.
»Die meisten von Ihnen kennen bereits Dr. Krebs«, sagte Wo. »Sie wird die Leiterin der nächsten Mission und stellvertretende Direktorin der Station sein, mit dem besonderen Auftrag, die Mission der bemannten Tauchsonde vorzubereiten.«
Grant hatte ein unheimliches Gefühl, ein seltsames Prickeln im Nacken. Die Atmosphäre im Raum war angespannt, beinahe ängstlich. Die meisten der Anwesenden kannten Dr. Krebs, sagte er sich, aber sie hatten bestimmt nicht viel für sie übrig.
Dr. Krebs war kaum mittelgroß und stämmig, mit dicken, muskulösen Armen. Ihre Beine steckten bereits in den mit Metallknöpfen besetzten Leggings, die Grant verrieten, dass sie mit Biochips implantiert war. Grant schätzte ihr Alter auf Mitte vierzig bis Anfang fünfzig. Ihr Gesicht war kantig und energisch, das tiefschwarze Haar, offensichtlich eine Perücke, in einem kurzen Bubikopf mit einem Pony geschnitten, das ihr in die Stirn fiel bis dorthin, wo ihre Augenbrauen hätten sein sollen. Ihre Gesichtsfarbe war ein teigiges Grau, als hätte sie in vielen Jahren kein Sonnenlicht und nicht einmal eine UV-Lampe gesehen. Der Ausdruck dieses Gesichts war hart wie Granit; das breite, ausgeprägte Kinn kämpferisch vorgeschoben, die blassblauen Augen mit einem kalt abschätzenden Blick, der über alle ihr zugewandten Gesichter ging, jedes einzelne ein paar Sekunden lang musterte und dann zum nächsten weiterging. Sie schien zu sagen: Ich weiß, dass ihr mich nicht mögt, und das Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit.
Der prüfende Blick dieser kalten Augen konzentrierte sich auch für einen Moment auf Grant und lähmte ihn, hinderte ihn, den Kopf abzuwenden.
Endlich richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die nächste Person. Grant war zumute, als wäre er gerade noch an einem Polizeiverhör vorbeigekommen.
»Sie«, sagte sie und zeigte auf Karlstad.
»Ich?«, fragte er mit leicht quiekender Stimme.
»Karlstad«, sagte sie.
»Ja.«
»Sie werden sich der Besatzung anschließen. Halten Sie sich ab sofort für den Eingriff bereit.«
Grant starrte über den Tisch zu Karlstad. Der sah wie ein Mann aus, der gerade seinen eigenen Tod gesehen hat.
6. KREBS
»Christel Krebs«, sagte Frankovic, mit trüber Miene über den Cafeteriatisch gebeugt. »Sie ist Wos ultimative Rache.«
Muzorawa nickte düster. Sogar O'Hara sah besorgt aus. Die vier hatten unbewusst die Köpfe zusammengesteckt und flüsterten wie Verschwörer. Die Cafeteria war nur halb besetzt, hallte aber von Geklapper und Gesprächen an anderen Tischen wider. Trotzdem flüsterten sie miteinander.
Frankovic war ein kleiner, rundlicher und schon ziemlich kahlköpfiger Mann. Grant hatte den Biochemiker in seinen Tagen als Hilfstechniker im Labor oft genug gesehen, doch hatte der Mann bisher kaum ein Dutzend Worte zu ihm gesprochen.
»Was tun sie mit Egon?«, fragte Grant. »Was ist mit dem Eingriff, von dem Krebs sprach?«
»Die Implantation und Verdrahtung der Biochips in seine Beine«, sagte Muzorawa.
»Und die Technik, Flüssigkeit zu atmen«, ergänzte Frankovic schaudernd.
Grant hatte gehört, dass die Besatzung der Tauchsonde während der Mission in einer dicken Flüssigkeit aus Perfluorcarbon leben würde. Es war die einzige Möglichkeit, die enormen Druckverhältnisse des Jupiterozeans auszuhalten. Sie würden in einer Umgebung aus Hochdruckflüssigkeit leben und Sauerstoff aus dem Perfluorcarbon atmen. Dies geschah zu dem Zweck, dass der Druck in den Zellen ihrer Körper hinreichend erhöht werden konnte, um den Druck außerhalb der Tauchsonde auszugleichen. In der Theorie und in den praktischen Erprobungen hatte die Methode funktioniert. Aber während der ersten bemannten Mission in den Jupiterozean war ein Besatzungsmitglied umgekommen und die anderen verletzt worden. Wo war so übel zugerichtet worden, dass er sich nie wieder erholen würde. Grant fragte sich, ob Krebs völlig wiederhergestellt sei.