Er sandte einen Ruf zu den anderen seiner Art aus. Es kam keine Antwort. Allein, geschwächt und blutend, begann Leviathan nach Nahrung zu suchen, angetrieben von der verzweifelten Hoffnung, genug Kräfte zu sammeln, um sich weiter von dem Sturm zu entfernen und vielleicht den Weg zurück zu den vertrauten Weidegründen der Sippe zu finden.
9. SHEENAS HERRENBESUCH
Grant dachte daran, seinen neuen Auftrag vor den anderen zu verbergen, wusste aber, dass es unmöglich sein würde. Die Station war zu klein, um solche Geheimnisse zu wahren. Nur der mächtige Wo konnte mit der Undurchschaubarkeit des Ostens und der Macht des Direktors etwas vor dem Personal geheim halten.
Daher war er nicht überrascht, als Karlstad ihn schon am ersten Abend nach Wos Ankündigung seiner neuen Pflichten beim Essen aufzog.
»Wie ich höre, hat Sheena jetzt öfter Herrenbesuch«, sagte der Biophysiker geheimnisvoll, während er Suppe löffelte. Er schien sich von dem chirurgischen Eingriff gut erholt zu haben und hatte seine alte sarkastische Art wiedergefunden.
Ursula Neumann warf Grant einen Blick zu und sagte: »Tatsächlich?«
»Wer könnte das sein?«, fragte Irene Pascal, sofort bereit, in das Spiel einzusteigen. Die Neurophysiologin war eine kleine brünette Frau, die über ihren Leggings stets kurze, geblümte, ärmellose Kleider trug. Gewöhnlich war sie still und in sich gekehrt, aber jetzt zwinkerten ihre nussbraunen Augen schelmisch.
»Ich bin es«, gab Grant zu. Er wünschte, dass Muzorawa oder O'Hara am Tisch wären. Sie würden diesem Unsinn bald ein Ende machen, dachte er.
»Das hörte ich«, sagte Karlstad mit breitem Grinsen. »Wie ich erfuhr, brachten Sie ihr gestern Abend Blumen und Süßigkeiten.«
»Es war Dr. Wos Idee«, wehrte sich Grant.
»Blumen und Süßigkeiten?«, fragte Pascal ungläubig.
»Haben Sie sie schon geküsst?«, fragte Neumann.
»Es ist gut, dass Grant nicht katholisch ist«, sagte Karlstad ganz ernsthaft.
Pascal spielte den Stichwortgeber. »Warum sagen Sie das?«
Karlstad breitete die Hände aus. »Ist doch klar. Wenn Grant katholisch wäre, dann müssten auch alle Sprösslinge, die sie hervorbringen, katholisch getauft und aufgezogen werden.«
Die beiden Frauen prusteten, und Karlstad lachte schallend über seinen eigenen Witz. Grant nahm ihn in gutmütigem Schweigen hin, zwang sich zu einem Lächeln auf eigene Kosten und dachte bei sich, dass er solche Witzeleien nicht mehr gehört hatte, seit er Raoul Tavalera an Bord des alten Frachters Lebewohl gesagt hatte.
Sie witzelten über das richtige Verhalten bei Rendezvous und machten während des ganzen Essens sexuelle Anspielungen. Endlich aber schien das Thema erschöpft, und als sie Obst und Eiskrem aus Sojamilch zum Nachtisch aßen, dachte Grant, sie wären damit fertig.
Dann fragte Pascal ganz ernsthaft: »Glauben Sie, dass Sie Sheena dazu bringen können, sich einer Computertomographie zu unterziehen?«
Grant sah überrascht auf. »Sie meinen, von ihrem Gehirn?«
»Im Prinzip ja, aber wir brauchen es noch detaillierter«, sagte Pascal. »Wir haben die Ausrüstung in unserem Labor, aber als wir letztes Mal versuchten, sie hineinzubringen, wehrte sie sich mit Händen und Füßen.« Ihre Stimme war ein warmer Alt, der angenehm im Ohr klang und jetzt Besorgnis ausdrückte.
Grant überlegte. »Ist die Ausrüstung tragbar?«
Pascal zuckte die Achseln. »Wie eine Konsole von Schreibtischgröße. Oder wie ein Kühlschrank.«
»Ich nehme an, dass Sie sie dann ruhigstellen müssen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte sie bei Bewusstsein. Ich muss sehen, wie ihr Gehirn funktioniert, wenn sie aktiv ist.«
»Können Sie es nicht mit Fernübertragung machen?«, schlug Karlstad vor. »Sie haben doch neurale Übertragungsnetze mit Kopfschutz.«
Neumann stimmte zu. »Ja, ich habe diese verdammten Netze selbst getragen, tagelang.«
Pascal sagte mit ironischem Lächeln: »Und wenn Sie es unbequem und unangenehm fanden, Ursula, wie lange würde Sheena nach Ihrer Meinung eins tragen?«
»Wie lang würde es nötig sein?«, fragte Grant.
»Natürlich so lange wie möglich, damit ich genug Daten bekomme.«
Grant nickte. »Ich meine, welches ist die minimale Dauer, auf die Sie sich einlassen würden?«
Sie dachte einen Moment lang nach. »Zehn Minuten. Fünfzehn. Eine halbe Stunde wäre ausgezeichnet.«
»Würden Sie irgendwelche speziellen Ausrüstungen in Sheenas Kammer benötigen, während Sie das Kontaktnetz mit dem Kopfschutz trägt?«
Wieder das Achselzucken. »Nun, der Empfänger muss nicht mit dem Tier in der Kammer sein. Er kann draußen im Korridor stehen.«
»Wie weit entfernt?«, fragte Grant.
»Zehn … fünfzehn Meter.«
»In Ordnung«, sagte Grant. »Bringen Sie das Gerät morgen in den Bereich und lassen Sie es im Korridor stehen, ohne es anzuschließen.«
»Aber es ist nutzlos, solange Sheena nicht das Kontaktnetz auf dem Kopf trägt.«
»Das ist mir klar. Aber der erste Schritt besteht darin, dass sie das Aufzeichnungsgerät akzeptiert und nicht als eine Bedrohung sieht.«
»Oho«, sagte Karlstad. »Unser Gorillaliebhaber wird schon zu einem Primatenpsychologen.«
Grant lächelte ihm zu. »Spielen Sie Ihre Karten richtig, Egon, dann verschaffe ich Ihnen ein Stelldichein mit Sheena.«
Karlstad hielt in gespieltem Schrecken die Hände hoch. »Nein, nein! Darauf kann ich verzichten!«
Neumann grinste. »Kommen Sie schon, Egon, es könnte auf Monate hinaus Ihre einzige Chance sein, jemanden zu vernaschen.«
Grant und die anderen lachten. Karlstad runzelte unglücklich die Stirn.
Jeden Abend brachte Grant »Geschenke« zu Sheena: ein einfaches hölzernes Puzzle aus vier Teilen, groß genug für die dicken Finger des Gorillas; einen weichen Ball aus Schwammgummi und eine Zielscheibe, die Grant an die Wand ihrer Kammer klebte, sodass sie Wurfübungen machen konnte; Karten zum Vorzeigen, die als Lehrmittel Zahlen von eins bis zehn und die Buchstaben des Alphabets zeigten.
Und mit jedem neuen Spielzeug brachte Grant auch ein paar Früchte oder Bonbons, die Sheena sofort mit ihren kräftigen Zähnen zermalmte und schlürfend hinunterschluckte, sich dann geräuschvoll die Lippen leckte und nach mehr verlangte.
Sheena hatte freien Zugang zur Aquarienabteilung, die vom Rest der Station durch luft- und wasserdichte Sicherheitsluken abgetrennt war. Gewöhnlich traf Grant den Gorilla im schmalen Korridor vor dem Aquarium an, wo Sheena auf und ab ging oder still auf den Keulen saß und mit endloser Faszination die Fische und Delphine beobachtete.
Schon nach wenigen Besuchen fand Grant, dass Sheena begierig vor der Luke, durch die er immer kam, auf ihn wartete. Bald fand er es normal, einen Arm um ihre dicken Schultern zu legen, wobei er hoffte, dass sie sich zurückhalten und ihm nicht die Rippen brechen würde, wenn sie ihn ihrerseits umarmte. Zugleich hoffte er inständig, dass weder Karlstad noch sonst jemand von seinen Freunden sah, wie er zärtlich mit ihr umging. Ihm fiel auf, dass er an die anderen als seine »menschlichen Freunde« dachte. Es zeigte, dass er dieses Tier ganz von selbst als Freund zu betrachten gelernt hatte.
Er saß am Boden des Korridors und Sheena und er warfen den weichen Ball zwischen sich hin und her. Sie saß ein paar Meter entfernt und ließ den Ball von ihrer Brust abprallen, bevor sie ihn mit ihren großen Händen packte und dann — linkshändig, wie Grant bemerkte — zu ihm zurückwarf.
»Guter Wurf, Sheena!«, rief Grant, als er den Ball fing. »Du wirst jeden Abend besser.«
»Guter Wurf«, sagte sie mit ihrer mühsamen, kratzenden Stimme.