Grant zog sich langsam am Bett hoch und ließ sich keuchend vor Anstrengung auf den Rand der Matratze sinken. Seine Beine fühlten sich an, als stünden sie in Flammen. Diese verfluchten Scheißkerle haben mich zum Krüppel gemacht, sagte er sich. Ich kann nicht mehr gehen!
Stundenlang, wie ihm schien, saß Grant mit schmerzenden Beinen auf dem Krankenbett, erfüllt von der trostlosen Gewissheit, dass seine Beine ruiniert waren. Es wird mir wie Dr. Wo ergehen, sagte er sich; den Rest meines Lebens werde ich im Rollstuhl verbringen.
Er glaubte sogar, das dünne summende Winseln eines elektrischen Rollstuhls zu hören. Und als er von seinen ruinierten Beinen aufblickte, sah er Dr. Wo an den zumeist leeren Krankenbetten vorbei auf ihn zurollen.
Er zuckte zusammen. Doch als Wo näher kam, regte sich bitterer Zorn in ihm. Seine Finger krampften sich in das Bettzeug, und er setzte sich gerader aufrecht.
Er kann mich nicht einschüchtern, sagte er sich. Er macht mir keine Angst. Mag er sagen, was er will, mich kümmert es nicht …
Wo hielt fünf Meter vor Grant an und musterte ihn von oben bis unten, vom völlig kahlen Kopf zu den nutzlosen, mit Elektroden besetzten Beinen.
»Ich weiß, dass es schwierig ist, zuerst«, sagte Wo mit ruhiger, beinahe freundlicher Stimme. »Aber wir haben keine Zeit zu verlieren. Die Untersuchungskommission der IAB wird in wenig mehr als acht Tagen hier sein. Die Zheng He muss unter der Wolkendecke sein, bevor sie diese Station betritt.«
Grant schüttelte traurig den Kopf. »Ich weiß. Ich verstehe, was Sie zu tun versuchen, aber …«
»Ihre Beine sind kräftig. Sie können gehen. Es erfordert bloß ein wenig Übung, um die Nervenbahnen wiederherzustellen.«
»Ich kann nicht mal aufstehen«, sagte Grant.
»Doch, Sie können.«
»Ich hab's versucht …«
»Versuchen Sie es noch einmal«, sagte Wo im gleichen ruhigen Ton. »Versuchen Sie es mit mir.«
Der Direktor umfasste die Armlehnen seines Rollstuhls und stemmte sich empor, bis er stand. Seine Beine hatten keine Klammern, sah Grant. Dr. Wo stand, zitternd vor Anstrengung.
»Wenn ich es kann«, sagte er, und auf seiner Stirn erschienen Schweißperlen, »können Sie es auch.«
Grants Zorn war verflogen. Mit angehaltenem Atem und zusammengebissenen Zähnen ließ er die Beine vom Bett gleiten und stand auf. Die Beine schmerzten, aber er stand aufrecht.
»Gut«, sagte Wo. »Ausgezeichnet. Nun kommen Sie zu mir.«
Grant tat einen wankenden Schritt. Wo tat es ihm gleich, hielt die Arme seitwärts ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten. Grant trat einen weiteren Schritt vor. Seine Beine fühlten sich an, als ob sie nicht zu ihm gehörten. Er musste ihnen bewusst befehlen, dass sie sich bewegen sollten. Wo trat zittrig auf ihn zu, die Arme ausgestreckt. Grant ging, langsam und zögernd. Er kam sich vor wie der von den Toten auferweckte Lazarus.
»Gut«, ermutigte ihn Wo. »Sehr gut.«
Plötzlich knickten dem Direktor die Beine ein. Als er zusammensackte, griff Grant zu, konnte ihn unter den Armen fassen und hielt ihn aufrecht.
»Danke«, keuchte Wo. »Ihre Beine sind kräftig genug, um uns beide zu halten.«
Grant lachte, und der Direktor gestattete sich ein leichtes Schmunzeln. Grant half ihm zurück in seinen Rollstuhl. Wo setzte sich dankbar, rückte ein wenig herum, um es sich bequem zu machen. Grant stand vor ihm und fühlte sich etwas wacklig auf den Beinen, wusste aber jetzt, dass er kein Krüppel sein würde. Sogar der Schmerz schien nachgelassen zu haben.
»Sehr gut, Mr. Archer«, sagte Wo und nickte zu ihm auf. »Melden Sie sich sofort zum Intensivtraining. Die Zheng He wird in drei Tagen starten.«
Damit drehte Wo den Rollstuhl auf der Stelle und rollte aus der Krankenstation. Grant blieb verblüfft zurück und wusste nicht, ob er zornig oder dankbar sein sollte.
Den Rest des Tages arbeiteten Lane, Egon und Muzorawa abwechselnd mit Grant und halfen ihm, wieder gehen zu lernen.
»Sie müssen die Nervenbahnen wiederherstellen«, erläuterte Karlstad, als Grant an seiner Schulter hing und langsam die Reihe der Krankenbetten entlangging. Nur zwei waren belegt. Einer der Patienten war ein Ingenieur, der bei einem Arbeitsunfall Schwefeldioxid eingeatmet hatte. Der andere war ein Verwaltungsangestellter der Station, der wegen Alkoholismus behandelt wurde.
»Sie müssen die Beinnerven, die mit dem Zentralnervensystem im Rückgrat verbunden sind, dazu bringen, dass sie wieder miteinander sprechen«, präzisierte Karlstad. »Es dauert einen Tag oder so.«
»Wir haben nicht einen Tag oder so«, murmelte Grant. Er schwitzte vor Anstrengung bei dem Versuch, normal zu gehen. »Wo möchte in drei Tagen starten.«
Karlstad zuckte die Achseln. »Na ja, wenn Sie erst in der Suppe untergetaucht sind, brauchen Sie eigentlich nicht mehr gehen können.«
Auch Lane half ihm, obwohl es Grant beunruhigte, sich an ihr festzuhalten, wenn sie zusammen gingen. Er schloss die Augen und versuchte sich Marjorie vorzustellen, aber Lanes subtiles Parfüm ließ das Vorstellungsbild seiner Frau immer wieder verschwimmen.
Muzorawa arbeitete die ganze Nacht mit ihm durch, hilfsbereit, geduldig, ohne hohe Ansprüche. Er war kräftig genug, um Grant zu heben und ihn durch den Hauptkorridor der Krankenstation zu tragen, wenn es sein musste, aber er bot ihm nur so viel Hilfe an, wie benötigt wurde, nicht mehr.
»Es ist hart«, sagte Grant, als er wieder einmal die Reihe der Betten entlanghinkte. Er ging jetzt aus eigener Kraft, ungestützt. Die Schmerzen, die er fühlte, waren fast ganz psychosomatisch, versicherte ihm das medizinische Personal; er mache gute Fortschritte.
»Natürlich ist es hart«, sagte Muzorawa, der langsam neben ihm ging. »Sie müssen wieder gehen lernen. Wir alle mussten es.«
»Mit mir geht es ziemlich langsam, wie?«
»Sie sind wie der Tausendfüßler in der alten Geschichte.«
»Tausendfüßler?«
»Eines der Tiere im Wald fragt den Tausendfüßler, wie er all diese Füße beherrschen kann. Und der Tausendfüßler antwortet, dass es eigentlich ganz einfach ist. Aber als er erklärt, wie er es macht, und anfängt, darüber nachzudenken, wie er seine tausend kleinen Füße beherrscht, gerät er so in Verwirrung, dass er gar nicht mehr gehen kann.«
Grant nickte. »Ja, richtig, ich erinnere mich vom Kindergarten daran.«
»Wir alle haben so früh im Leben gehen gelernt, dass wir es für selbstverständlich halten. Wenn wir gezwungen sind, es noch einmal zu lernen, sehen wir erst, wie viel Anstrengung es erfordert.«
Grant stolperte und suchte Halt an einem der leeren Krankenbetten.
»Vierbeinern braucht man nicht beizubringen, wie sie gehen müssen«, sagte Muzorawa, als Grant sich gefangen hatte und weiterging. »Menschliche Säuglinge kriechen ganz natürlich auf allen vieren. Aber sie müssen lernen, wie sie auf ihren zwei Füßen gehen; ich glaube, das ist ein Zeichen, dass auch wir uns aus vierbeinigen Lebewesen entwickelt haben.«
»Glauben Sie das wirklich?«, fragte Grant.
»Ich bin kein Biologe, aber ja, ich glaube, dass es sich so verhält.«
»Sie glauben an Darwins Evolutionstheorie?«
»Beleidigt Sie das?«
»Nein«, antwortete Grant wahrheitsgemäß. »Ich nehme an, dass ich selbst daran glaube. Schließlich ist die Evolution längst wissenschaftlich bewiesen.«
»Sie nehmen an, dass Sie daran glauben, obwohl Sie einräumen, dass die Evolution wissenschaftlich bewiesen ist?«, fragte Muzorawa.
Grant zog es vor, das Thema zu wechseln. »Ich wünschte, wir wären in Schwerelosigkeit.«
»Das ist die Ironie daran«, meinte Muzorawa. »Während der Dauer der Mission werden wir eingetaucht sein und schwerelos dazu. Wir werden unsere Beine nicht zum Gehen brauchen.«