»In Ordnung, ich bin hier«, verkündete Karlstad und zerbrach Grants Gedankengang. »Wir sind zu viert; laden wir den Computer, dann können wir Bridge spielen.«
O'Hara sagte: »Wir werden nicht Bridge spielen, Egon. Wir werden arbeiten.«
»Allzu wahr«, räumte Karlstad ein.
Ihr unernstes Geplänkel endete, als Krebs zu ihnen stieß. Sie sorgte dafür, dass jeder schnell an seinem Posten stand, Seite an Seite entlang den Konsolen der Brücke, die Füße in den Bodenschlaufen verankert. Grant wurden die Antriebs- und Energiesysteme zugewiesen, die er schon von der Befehlszentrale kannte.
»Heute simulieren wir die Aktivierung der Bordsysteme, die Trennung von der Station und den Eintritt in die Jupiteratmosphäre«, sagte Krebs, als hätten sie den Plan nicht längst mehrmals durchgespielt. »Keines der Bordsysteme wird tatsächlich eingeschaltet. Dies ist nur eine Simulation.«
Grant nickte. Der für Simulationen zuständige Computer der Station würde alles abwickeln, ganz gleich, welche verrückten Notfälle Dr. Wo erfand, um sie damit zu überraschen, es war alles virtuell.
Aber das würde sich bald ändern.
13. ANGESCHLOSSEN
Krebs drillte sie erbarmungslos. Alle vier Besatzungsmitglieder verbrachten den ganzen Tag auf der Brücke und simulierten die ersten Phasen ihrer Mission immer wieder, bis ihre Bewegungen beinahe wie Reflexhandlungen wurden.
Grant stand mit O'Hara auf einer und Muzorawa auf der anderen Seite an seiner Konsole und war überzeugt, dass er die Generatoren und Antriebseinheiten der Tauchsonde mit geschlossenen Augen in Betrieb setzen und die Trennung von der Station und das Eintauchen in die Jupiteratmosphäre bewerkstelligen könne. Sogar im Schlaf.
Trotzdem ließ Krebs sie alle Schritte immer wieder ausführen. Es war der einzige Teil der Mission, der simuliert werden konnte. Niemand wusste, was zu erwarten war, sobald sie die dichte Wolkenatmosphäre durchstoßen hatten und in den Ozean eintauchen würden.
Dr. Wo veränderte immer wieder den Innendruck der Tauchsonde, erhöhte ihn bis zum höchsten, konstruktiv vorgesehenen Wert und ließ ihn dann wieder absinken. Grant hätte nie gedacht, dass seine Ohren unter Wasser knacken könnten, aber sie taten es mehr als einmal.
»Er will sehen, ob die Druckveränderungen sich nachteilig auf uns auswirken«, verriet Karlstad.
»Mich stören sie«, gab Grant zu. »Die Druckveränderungen hinauf und hinunter sind verdammt unangenehm.«
Krebs hatte ihnen beiden eine kurze Essenspause zugebilligt. Die Mahlzeiten an Bord der Zheng He bestanden darin, dass man zum Automaten an der Rückseite des Brückenraumes schwamm und einen der dort hängenden Plastikschläuche an das Ventil der intravenösen Eingangsöffnung anschloss. Grant schauderte es beim bloßen Gedanken daran, aber es schmerzte nicht und hatte den Vorteil, dass der Nährwert einer vollen Mahlzeit in nur wenigen Minuten dem Körper zugeführt wurde. Kein Kauen, kein Verdauen; die Nahrung war bereits verflüssigt und konnte vom Blutkreislauf in den Körper verteilt werden.
»Wahrscheinlich will unser verehrter Direktor feststellen, ob die Druckveränderungen etwas mit Irenes Herzanfall zu tun hatten«, bemerkte Karlstad.
»Ich dachte, das hätten die Amphetamine besorgt.«
»Unter normalen Bedingungen hätte die Dosis, die sie nahm, nicht zum Tode geführt.«
»Es war doch von einer sehr hohen Dosis die Rede«, sagte Grant.
»Nicht so hoch … unter normalen Bedingungen wäre sie nicht tödlich gewesen.«
»Aber sie hätte Irene desorientiert, nicht wahr? Sie dienstunfähig gemacht?«
Karlstad setzte zur Antwort an, zögerte und fragte dann: »Glauben Sie, dass Irene versuchte, aus der Mission auszusteigen …«
Die Signalglocke des Automaten ertönte — ziemlich dumpf in der Hochdruckflüssigkeit, die sie atmeten, und die Kontrollleuchte wurde rot.
»Ihr Abendessen ist beendet«, sagte Karlstad unnötigerweise. »Wünschen Sie eine Nachspeise?«
Mit einer Grimasse zog Grant den dünnen Plastikschlauch aus der Ventilfassung in seinem Hals. »Nachspeise ist inklusive«, sagte er in einem Versuch zur Munterkeit. »Keine Extraberechnung.«
»Hören Sie auf mit dem Geplapper und gehen Sie wieder an Ihre Plätze«, knurrte Krebs.
Als die lange, anstrengende Simulation endlich zu Ende war, entließ Krebs nur O'Hara und Karlstad. Grant und Muzorawa blieben auf ihren Posten, während die beiden anderen ihre Kojen aufsuchten. Krebs selbst blieb auf der Brücke.
Grant fragte sich, ob sie jemals schlief.
Bald begann er sich zu fragen, ob Krebs ihn jemals schlafen ließ. Die Simulationen waren beendet, soweit er sehen konnte. In ihrer virtuellen Realität sanken sie durch die immer dichteren Schichten der Jupiteratmosphäre abwärts, bis die atmosphärischen Gase durch die enorme Schwerkraft des Planeten zum flüssigen Zustand komprimiert wurden. Da sie wenig über die Bedingungen unter der Atmosphäre wussten, gab es wenig zu simulieren — es sei denn, Wo überraschte sie mit irgendwelchen Fehlfunktionen und Defekten.
Stattdessen verstrichen die Stunden so ereignislos, dass Grant gegen Langeweile ankämpfen musste. Seltsamerweise verspürte er kein Bedürfnis zu gähnen, wie es unter normalen Umständen der Fall sein würde. Vielleicht unterdrückte das Atmen dieser Brühe den Gähnreflex.
Endlich kehrten Karlstad und O'Hara zur Brücke zurück.
»Muzorawa und Archer in die Kojen«, befahl Krebs unnötigerweise. Grant schwebte bereits zu der Luke, die zum Schlafbereich führte, der ungefähr die Größe eines Schrankes hatte. Karlstad nannte ihn »die Katakomben.«
Dann fügte Krebs hinzu: »Wenn Sie zurückkommen, werden wir uns mit den Bordsystemen verbinden.«
Grant war zu müde, um sich Gedanken darüber zu machen. Er wollte nur seine vier Stunden Schlaf. Aber dann sah er Lanes Gesichtsausdruck: sie strahlte in erwartungsvoller Vorfreude.
Der Schlaf stellte sich nicht leicht ein. Sobald er die Augen schloss, wurde Grant von Neuem bewusst, dass er in diese kalte, dicke Flüssigkeit eingetaucht war und sie in seine Lungen sog, dass er sich in einer vollständig unnatürlichen Umgebung befand, so fehl am Platz wie ein Fisch auf einem Berggipfel. Die Furcht, die zurückgedrängt worden war, solange er mit den anderen auf der Brücke Dienst getan hatte, drängte sich wieder an die Oberfläche seines Bewusstseins. Seine Brust hob und senkte sich mühsam atmend, seine schmerzenden Beine zuckten mit dem kaum unterdrückten Drang zu rennen, zu fliehen, einen sicheren Ort zu finden, eine Zuflucht, wo er sich verstecken und wirkliche Luft atmen und die Sonnenwärme im Gesicht fühlen konnte.
Er öffnete die Augen, und sogar in der Dunkelheit seiner abgeschirmten Koje sah er, dass er in einem metallenen Fach lag, wie es im Leichenschauhaus zur Aufbewahrung der Toten verwendet wurde, einem Sarg, der ihn mit seiner Enge von allen Seiten bedrängte. Und außerhalb dieser Krypta, jenseits ihrer Metallschalen herrschte ein ungeheurer, unermesslicher Druck, der unerbittlich bestrebt war, die Tauchsonde und ihn zu zermalmen.
Grants Herz flatterte in der Brust wie ein gefangener Vogel; er glaubte jeden Nerv in seinem Körper zu fühlen, der ihm sagte, er müsse fliehen, hinaus aus dieser Todesfalle.
Er versuchte zu beten. Er versuchte in seiner Vorstellung ein Bild von Marjorie zu beschwören, Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit, an jene kurzen Augenblicke, als sie die Wärme ihrer Körper gefühlt hatten, auf einer Welt, wo der Himmel blau war, wo es Bäume und Gras und singende Vögel gab.
Nichts half. Er war in diesem Metallsarg gefangen, atmete einen grässlichen fremdartigen Schleim, eine Milliarde Kilometer von daheim, von Marjorie, seinen Eltern, von der Sicherheit. Selbst Gott hatte ihn vergessen. Er war allein und verlassen.