»Endlich hat sie die Brücke verlassen«, sagte Karlstad leise. »Nach fast fünfzig Stunden im Dienst.«
»Sie hat einige Male geschlafen«, sagte O'Hara.
»Spulen Sie die Antenne aus«, sagte Karlstad. »Schnell, solange wir die Möglichkeit haben.«
Muzorawa sagte: »Grant, es könnte zweckmäßig sein, wenn Sie zur Luke gehen und Krebs im Auge behalten. Warnen Sie uns, wenn sie aus ihrer Koje kommt.«
»Dazu werde ich die Anschlüsse lösen müssen«, wehrte Grant ab.
»Ich werde Ihre Systeme mit überwachen«, erwiderte Muzorawa.
Mit noch größerem Widerwillen als sonst löste Grant die Anschlüsse, während O'Hara die Antenne ausspulte und das Sende- und Empfangsgerät einschaltete.
»Oho, da sind eine Menge Botschaften für uns eingegangen«, sagte sie. Dann nahm ihr Gesicht einen ratlosen Ausdruck an. »Nein, Moment. Es ist nur eine Botschaft, aber sie haben sie ständig wiederholt.«
»Kümmern Sie sich nicht um den eingehenden Mist«, sagte Karlstad ungeduldig. »Verbinden Sie mich mit dem Computer.«
Grant schwebte bei der Luke, beobachtete Krebs' Koje und zugleich den Wandbildschirm, über den jetzt Texte im medizinischen Fachjargon wanderten. Krebs' Koje war durch ihr Rollo abgeschlossen. Sie ruhte zum ersten Mal seit dem Verlassen der Station allein in ihrer Koje, losgelöst von allen Bordsystemen.
Er fragte sich, was sie antrieb. In der ersten Tiefenmission mit knapper Not dem Tode entgangen, war sie schon wieder zurück im Ozean und blieb bei weitem länger mit den Bordsystemen verbunden als sie musste, länger auch als sie sollte. War sie der emotionalen Macht der Verbindung erlegen? Doch wenn es sich so verhielt, wie konnte sie sich dann nach so vielen Stunden freiwillig von den Verbindungen lösen? Sie musste zäh sein, dachte er; viel stärker als er.
»Das also ist es!«, rief Karlstad mit unterdrückter Stimme. Die drei anderen waren noch an ihren Konsolen, und Grant sah noch immer medizinische Texte über den großen Bildschirm wandern. »Visuelle Agnosie«, sagte Karlstad, »bedeutet Störungen des Erkennens. Trotz normaler Sehleistung werden Zusammenhänge einzelner Details nicht erkannt, zum Beispiel Physiognomien. Ihre visuelle Wahrnehmung ist geschädigt.«
»Sie meinen, sie kann Gesichter nicht erkennen?«, fragte O'Hara.
Karlstad nickte energisch. »Deshalb sieht sie einen so komisch an. Sie kann nicht erkennen, mit wem sie es zu tun hat, bis man etwas zu ihr sagt. Dann erkennt sie die Stimme.«
»Das ist seltsam«, sagte Muzorawa.
Karlstad fixierte den betreffenden Abschnitt aus dem medizinischen Befund auf dem Bildschirm und sagte: »Es ist selten, aber vielfach dokumentiert, wie es scheint.«
»Was verursacht es?«
»Ein Hirnschaden, zum Beispiel. Ein physikalisches Trauma, eine Gehirnblutung.«
»Ein Schlaganfall?«
»Oder ein Schlag an den Kopf.«
»Aber nach dem Befund hatte sie keins von beiden«, sagte Muzorawa.
Karlstad nickte. »Richtig, aber während der ersten Mission erlitt sie schwere Verletzungen.«
»Keine Kopfverletzungen, wenn ich mich richtig entsinne«, sagte O'Hara.
»Ja, das stimmt.« Karlstad klang enttäuscht.
Grant meldete sich zu Wort. »Könnte der Aufenthalt in dieser Hochdruck-Umgebung die Ursache sein? Könnte das zu einer Gehirnblutung führen?«
»Die frühesten Experimente verursachten Nervenschäden«, sagte Karlstad. »Darum erhöhen wir den Druck langsam und geben dem Körper Zeit, sich anzupassen.«
»Meinen Sie, Dr. Krebs hätte durch den Druckanstieg eine Gehirnblutung bekommen?«, fragte O'Hara.
»Offensichtlich«, sagte Karlstad. »Was sollen wir dann dagegen tun?«
»Nichts«, sagte Muzorawa.
»Überhaupt nichts?«
»Krebs hat sich ihrem Problem angepasst. Es hat ihre Arbeit nicht beeinträchtigt, nicht wahr?«
»Nein«, sagte O'Hara nachdenklich. »Ich denke, das ist nicht der Fall.«
»Noch nicht«, sagte Karlstad.
»Die medizinischen Gutachter empfahlen sie für diese Mission«, ergänzte Muzorawa. »Die Psychologen hatten keine Einwände.«
Karlstad war nicht überzeugt. »Sie ist eine wandelnde Zeitbombe«, murmelte er.
»Da bin ich anderer Meinung«, sagte Muzorawa.
»Das könnte uns alle das Leben kosten.«
Muzorawa sah ihn ernst an. »Egon — ich denke, wir verhalten uns am besten so, dass wir Dr. Krebs sorgfältig beobachten. Wenn sie Anzeichen von Unfähigkeit zeigt oder sich auffällig oder launenhaft benimmt, werden wir entscheiden müssen, was zu tun ist. Gegenwärtig kommt sie ihren Aufgaben ganz normal nach.«
»Beinahe fünfzig Stunden mit der Sonde verbunden zu sein, ist normal?«, entgegnete Karlstad.
»Hat sie ihre Pflichten nicht gut erfüllt?«, gab Muzorawa zurück. »Haben wir bisher die Ziele unserer Mission nicht erreicht?«
Die beiden funkelten einander an. Karlstad mit seinem gewohnten hochmütigen, beinahe höhnischen Ausdruck; Muzorawa stur und entschlossen.
O'Hara überwand den toten Punkt. »Wir sollten uns die Botschaft ansehen, die uns in ständiger Wiederholung von der Station zugegangen ist.«
»Gute Idee«, sagte Muzorawa. Karlstad nickte.
Der medizinische Text verschwand vom Bildschirm, und an seiner Stelle erschien das blaue und weiße Symbol der Internationalen Astronautischen Behörde, um rasch vom finster blickenden Gesicht eines Mannes in einem grauen Uniformrock abgelöst zu werden, der an einem Datenanschluss saß.
Grant starrte überrascht. Er kannte dieses Gesicht. Es war Ellis Beech, der Beamte der Neuen Ethik, der ihn beauftragt hatte, Dr. Wo nachzuspionieren.
Beechs dunkle Augen blickten ruhig und fest, sein langes, schmales Gesicht sah gefasst und gleichmütig aus. Aber Grant spürte, dass unter diesem kühlen Äußeren etwas siedete, etwas Unnachgiebiges und Unerbittliches.
»Dr. Krebs, ich bin der Vorsitzende der Untersuchungskommission der IAB, die sich im Anflug auf die Station befindet. Sie haben bereits Befehl von Dr. Wo erhalten, Ihre Mission abzubrechen und zur Station Gold zurückzukehren. Dr. Wo erteilte diesen Befehl auf mein Drängen hin. Nun befehle ich Ihnen persönlich, zur Station zurückzukehren. Im Namen der IAB befehle ich Ihnen, die Mission abzubrechen und sofort zurückzukehren! Wir wissen, dass die Botschaft, die Sie mit der Datenkapsel geschickt haben, eine bewusste Irreführung ist. Sie sind nach wie vor in der Lage, Funkverbindung mit der Station zu unterhalten. Kehren Sie sofort zurück oder Sie verlieren Ihre Position in der Station Gold und gehen Ihrer Professur in Heidelberg verlustig. Brechen Sie Ihr Unternehmen ab und kehren Sie augenblicklich zurück!«
Grant starrte in Beechs eisige Miene auf dem Bildschirm. Wie konnte er Vorsitzender der IAB-Kommission sein? Das war nur möglich, wenn die Neue Ethik die Kontrolle über die Untersuchungskommission erlangt hatte. Vielleicht hatte sie die ganze IAB übernommen …
Auch Karlstad starrte mit offenem Mund auf den Bildschirm.
»Sie müssen entdeckt haben, dass Sie den Stationscomputer angezapft haben«, sagte Muzorawa leise. Es war keine Anschuldigung, nur die Feststellung einer beklagenswerten Tatsache.
»So ist es«, sagte O'Hara. Sie schüttelte traurig den Kopf.
Karlstad schloss den Mund, zuckte die Achseln und sagte: »Also haben sie es herausgebracht. Was tun wir?«
»Ich weiß nicht«, sagte Muzorawa. »Das ist eine schreckliche Situation.«
»Für Krebs«, sagte Karlstad.
»Für uns alle«, erwiderte Muzorawa.
»Vielleicht nicht«, sagte Karlstad. »Schließlich hat sie den Befehl über die Tauchsonde. Wir befolgen nur ihre Anweisungen. Sie hat angeordnet, Wos Rückkehrbefehl nicht zu bestätigen.«
»Dr. Wo erteilte diesen Befehl unter Zwang«, sagte Grant hitzig. »Es ist offensichtlich, dass sie ihn zwangen, diesen Befehl zu geben.«