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«Spät ist in eine Falle gegangen«, sagte Mock und begann mit einem Kohlestift aufs Tischtuch zu zeichnen. Eine Ratte, schon eingeklemmt in der Falle, doch immer noch am Speck nagend.

Im Zeltweg saß Lienhard in meinem Büro.

«Wie sind Sie reingekommen?«fragte ich ungehalten.

«Unwichtig«, gab Lienhard zur Antwort und wies auf den Schreibtisch:»Die Berichte.»

«Halten Sie Kohler auch für unschuldig?«fragte ich argwöhnisch.

«Nein.»

«Mock meint, ich sei in die Falle gegangen«, sagte ich düster.

«Kommt auf Sie an«, antwortete Lienhard.

Hundertfünfzig Seiten, eng beschrieben, Telegrammstil. Hatte ich eine hypothetische Abhandlung erwartet, vage Kombination, stand ich Tatsachen gegenüber. Anstelle eines Unbekannten wurde ein Name genannt. Die Berichte selber waren verschieden zu würdigen, im ganzen mit Vorsicht aufzunehmen. Die Befragung der Zeugen durch Schönbächler: Zeugen widersprechen sich, aber das Ausmaß dieser Widersprüche war erstaunlich. Beispiele: Eine Serviertochter behauptete, Kohler habe ausgerufen» Sauchaib«, während der Prokurist eines Damenwäschegeschäfts, der damals am Nebentisch saß (»noch einen Saucespritzer habe ich abgekriegt«), aussagte, die Worte Kohlers hätten» Guten Tag, alter Freund «gelautet. Ein dritter Zeuge wollte gesehen haben, wie der Kantonsrat dem Professor noch die Hand schüttelte. Einer sagte aus, Kohler sei, nachdem er Winter niedergeschossen habe, mit Lienhard zusammengestoßen. Dazu ein Fragezeichen und eine Anmerkung Lienhards:»War nicht dort. «Weitere gegensätzliche Aussagen über fünfzig Seiten. Nun gibt es keinen objektiven Zeugen. Jeder Zeuge neigt dazu, dem Erlebten unbewußt Erfundenes beizumischen. Ein Vorfall, dessen Zeuge er ist, spielt sich außerhalb und im Zeugen ab. Dieser nimmt den Vorfall auf seine Weise wahr, prägt den Vorfall in sein Gedächtnis, und das Gedächtnis prägt ihn um: Jedes Gedächtnis gibt einen anderen Vorfall wieder. Auch häuften sich die Unstimmigkeiten, weil Schönbächler im Gegensatz zur Polizei alle Zeugen ausgefragt hatte. Je mehr Zeugen, desto widersprüchlicher die Aussagen, über fünfzig Seiten füllten die entgegengesetzten Behauptungen. Endlich der Zeitunterschied: Der Vorfall hatte sich nun vor eindreiviertel Jahren zugetragen. Die Phantasie hatte Zeit, das Gedächtnis umzuformen, dazu kam Wunschdenken, Wichtigtuerei usw., weitere fünfzig Seiten hätten mit den Aussagen jener gefüllt werden können, die sich einbildeten, beim Mord dabeigewesen zu sein, aber nicht dabeigewesen waren. Doch hatte Schönbächler sorgfältig recherchiert. Der Bericht Feuchtings: seine Methode die simpelste. Er fragte direkt und konnte sich das leisten, weil er immer direkt fragte. Es fiel nicht einmal mehr auf, wenn er sich erkundigte. Er erkundigte sich über alles, auch über Dinge, die sinnlos waren oder sinnlos zu sein schienen. Am Schluß setzten sich seine Steinchen zusammen, mühsam genug, durch unzählige Martinis gekittet, und gaben ein Mosaik frei, das bedenklicherweise die Aussagen verschiedener Zeugen bestätigte, die im Bericht Schönbächlers vorkamen, hatten doch einige behauptet, Dr. Benno sei auch im >Du Théâtre< gewesen, andere, er habe sich vor Kohler dem Professor genähert, wieder andere, er habe am gleichen Tisch gesessen, einer sogar meinte, er habe das Lokal unmittelbar nach dem Kantonsrat verlassen, und eine Bardame sagte aus, Benno sei kurz nach der Ermordung Winters in die Bar gestürzt gekommen, habe getanzt vor Freude, Gläser zerschlagen und geschrien» Der Zeck ist tot, der Zeck ist tot«, jeden angerempelt und erklärt, jetzt werde er sie heiraten. Man habe das auf die Steiermann bezogen, ihm Glück gewünscht und sich von ihm einladen lassen. Das alles hatte sich in der >Himmelfahrtsbar< abgespielt, wie eine Räuberhöhle in der Nähe des Münsters ihrer scharfen Schnäpse wegen genannt wurde, in der in letzter Zeit Benno viel gesehen wurde. Diese» letzte Zeit «währte bei Benno schon mehr als zwei Jahre. Aus gutem Hause, nach guter Erziehung, nach erfolgreichen Studien, nach sportlicher Karriere, nach glänzenden gesellschaftlichen Erfolgen, nach der Verlobung mit der Steiermann, mit der reichsten Partie der Stadt, verkam Benno plötzlich, veränderte sich, wurde gemieden. Allgemein wurde angenommen, die Steiermann habe ihre Verlobung rückgängig gemacht. Viele Auslandsreisen, Gerüchte, daß er spiele. Er konnte vorerst seine Kontakte zu den guten, einträglichen Häusern noch mühsam aufrechterhalten, wurde dann kaum mehr eingeladen, endlich boykottiert. Noch lebte er auf großem Fuß, später verkaufte er, was er vom einstigen Glanz hatte retten können: Stiche, Möbel, einige Harasse alten Bordeaux. Verschiedene Gegenstände, die er verkauft hatte, gehörten ihm nicht, so Schmuckstücke, zwei Prozesse waren hängig. (Eine genaue Darstellung der Schulden des Olympia-Heinz übergehe ich, sie waren katastrophal, geradezu abenteuerlich, über zwanzig Millionen.) Merkwürdigerweise trafen Feuchtings Recherchen über Benno in vielem auch für den ermordeten Winter zu (außer den Schulden): Auslandsreisen zu PEN-Club-Kongressen, die gar nicht stattgefunden hatten, über die er aber wochenlang berichtete, Gerüchte über Spielcasinobesuche. Auch Winter trieb sich samt seinen ewigen Goethe-Zitaten in der >Himmelfahrtsbar< herum, hatte er den literarischen Stammtisch im zweiten Stock des >Du Théâtre< verlassen. Dort saß er bei den Verlegern, Redakteuren, Theaterkritikern und den literaturhagiographischen Koryphäen unserer Stadt, um sich mit ihnen die Herrschaft über unsere Kultur nicht entgleiten zu lassen. Der erlauchte Kreis duldete ihn zwar, aber belächelte ihn, nannte ihn, entschwand er zu den Niederdorf-Bajaderen,»Mahadöh«. Es sei unzweifelhaft, zog Lienhard die Schlußfolgerung, daß, klammere man Kohler als Mörder aus, nur Benno als möglicher Täter in Frage komme. Er habe Daphne für Monika Steiermann gehalten. Dann sei zwischen ihm und Winter etwas vorgefallen. Daß Daphne mit Benno gebrochen habe, sei die Folge dieses Vorfalls gewesen, auch der Ruin Bennos. Als Verlobter einer Steiermann hätte er jeden Kredit gehabt, ohne die Steiermann keinen. Ich wurde mißtrauisch. Lienhards Version fügte sich nicht in die Fakten ein. Daphne hatte mit Benno erst Schluß gemacht, nachdem sie von ihm verprügelt worden war, und Monika Steiermann gab Benno erst auf, als Daphne mit ihr Schluß gemacht hatte. Winter und Lüdewitz hatten gewußt, daß Daphne nicht Monika Steiermann war, aber sie waren nicht die einzigen. Daß jemand die Identität des andern annimmt und sich selber ins Nichts auflöst, ist keine einfache Angelegenheit, dazu waren noch andere Mitwisser nötig. Auch von der Behörde mußten es einige gewußt haben. Und dann hatte es Kohler gewußt. Die Steiermann hatte es mir selber erzählt. Vielleicht hatten es viele gewußt. Die Falle, in die ich nach Mock geraten war, konnte nur darin bestehen, daß ich, ob ich wollte oder nicht, den Glauben an Kohlers Unschuld schürte, auch wenn ich diesen Glauben nicht teilte. Ich machte ihn mit, weil ich Kohlers Auftrag angenommen hatte. Gab ich der Fiktion nach, er sei nicht der Mörder, mußte ich auf einen anderen stoßen, war es nicht Brutus, der Cäsar tötete, war es Cassius; war es nicht Cassius, war es Casca. Vielleicht. Vielleicht waren nicht der Zuchthausdirektor und die Wärter die Urheber des Gerüchts, Kohler sei unschuldig, ich war es selber. Woher wußte der Kommandant von meinem Auftrag? Der Wärter Möser war dabei, als er erteilt wurde, die Knulpes, Hélène, Förder, Kohlers Privatsekretär, sicher verschiedene Anwälte, dann Lienhard, wer von seinen Leuten? Ilse Freude wußte es, hielt sie dicht? Vielleicht war Kohlers Auftrag schon ein Stadtgespräch, zwar war ich überzeugt, er habe seinen Mord aus wissenschaftlicher Neugier begangen, aber durch den Auftrag führten meine Recherchen von Kohler weg, statt auf ihn zu. War das der Sinn seines Auftrags? War ich der Urheber eines undurchsichtigen Manövers, lieferte ich die Berichte über die Recherchen meinem Auftraggeber ab? Aber ich war in einer Zwangslage. Lienhard würde bald die Spesen vorlegen. Ich brauchte Geld, und die einzige Geldquelle war Kohler. Ich mußte weitermachen. Trotz meiner Skrupel. Oder gab es einen Ausweg? Ich kam auf den Einfall, meinen früheren Chef Stüssi-Leupin aufzusuchen und mich mit ihm zu besprechen. Noch zögerte ich. Dann entschloß ich mich, doch nicht zu ihm zu gehen, die Recherchen nicht abzuliefern, geschehe, was wolle. Doch dann zögerte ich nicht mehr. Dr. Benno besuchte mich in der Nacht vom 30. November auf den 1. Dezember 1956, von einem Freitag auf einen Samstag. Gegen Mitternacht. Ich weiß es noch genau. Weil sich in dieser Nacht sein Schicksal entschied und das meine. Ich studierte zum dritten Mal den Bericht, als er die Tür zum Büro aufriß, das einmal ihm gehört hatte und an dessen Schreibtisch ich saß. Er war ein großer, nun massiger Mann, mit langem strähnigem schwarzem Haar, das er zurückgekämmt hatte, so daß es seine Glatze bedeckte. Er hinkte auf meinen Schreibtisch zu. Er wirkte wie einer, der zu schwer für sein Knochengerüst geworden ist. Er stützte sich mit seinen im Gegensatz zum massigen Körper beinah kindlich wirkenden Händen auf die Schreibtischplatte, starrte mich an, halb beschienen von der Schreibtischlampe. Er war nicht mehr nüchtern, verzweifelt und in seiner Hilflosigkeit sympathisch. Ich lehnte mich zurück. Sein schwarzer Anzug glänzte speckig.

«Dr. Benno«, sagte ich,»wo sind Sie gewesen? Die Presse sucht Sie überall.»

«Egal, wo ich gewesen bin«, keuchte er.»Spät, lassen Sie den Prozeß sein. Ich bitte Sie.»

«Welchen Prozeß, Dr. Benno?«fragte ich.

«Den Sie gegen mich anstrengen«, sagte er heiser.

Ich schüttelte den Kopf.»Niemand strengt einen Prozeß gegen Sie an, Dr. Benno«, erklärte ich.

«Sie lügen«, schrie er.»Sie lügen! Sie haben gegen mich Lienhard eingesetzt, Fanter, Schönbächler, Feuchting. Und die Presse haben Sie auch auf mich gehetzt. Sie wissen, daß ich ein Motiv gehabt hätte, Winter zu erschießen.»

«Kohler hat es getan«, antwortete ich.

«Das glauben Sie ja selber nicht. «Er zitterte am ganzen Leib.

«Kein Mensch zweifelt daran«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen.

Benno starrte mich an, trocknete sich mit einem schmutzigen Taschentuch die Stirn,»Sie werden mir den Prozeß machen«, sagte er leise.»Ich bin verloren, ich weiß es, ich bin verloren.»

«Aber, Dr. Benno«, antwortete ich.

Er wankte zur Tür, öffnete sie langsam und ging, ohne sich weiter um mich zu kümmern.

Das Alibi: Wurde wieder unterbrochen. Das Schicksal schlug zu. Diesmal durch Lucky. In seiner Begleitung ein Subjekt, das er mir als den» Marquis «vorstellte. (Indem ich als Schreibender aus dem unheilvollen Geschehen herausgetreten bin, worin ich mich als Handelnder verstrickte, habe ich Farbe zu bekennen: In einer verbrecherischen Welt bin ich selbst ein Verbrecher geworden: Ihrer Zustimmung zu dieser Feststellung, Herr Staatsanwalt, bin ich sicher, mit der Einschränkung freilich, daß ich auch Sie, samt der Gesellschaft, die sie von Amts wegen vertreten, zu dieser verbrecherischen Welt zähle, und nicht nur Lucky, den Marquis und mich.) Was das menschenähnliche Subjekt betrifft, so war es aus Neuchâtel hergespült worden. Samt einem offenen Jaguar. Eine Visage mit einem Lächeln, als käme der Kerl aus Caux, mit Manieren, als würde er Luxusseife verkaufen. Es ging gegen zehn nachts. Es war Sonntag (diesen Bericht schreibe ich Ende Juli 1958, schwacher Versuch, Ordnung in meine Papiere zu bringen). Draußen war ein Gewitter gewesen, ungeheure krachende Entladungen, der Regen rauschte noch, doch ohne Erleichterung zu bringen, es war schwül und dumpf. Unter mir dröhnten die Psalmen» Sinke, Welt, in Christi Arm, gehe fröhlich unter «und» Heiliger Geist, mit Blitz und Knall auf uns Sünder niederfall«. Lucky zupfte etwas geniert an seinem Schnurrbärtchen herum, schien mir leicht nervös, auch wiesen seine Apostelaugen einen grüblerischen Schimmer auf, den ich vorher noch nie an ihnen wahrgenommen hatte: Lucky dachte offenbar nach. Die beiden hatten Regenmäntel an, die jedoch so gut wie trocken waren.

«Wir brauchen ein Alibi«, sagte Lucky kleinlaut,»der Marquis und ich. Für die letzten zwei Stunden.»

Der Marquis lächelte salbungsvoll.

«Und vor zwei Stunden?«fragte ich.

«Da ist unser Alibi bombensicher«, beteuerte Lucky und sah mich lauernd an.»Wir waren mit Giselle und Madeleine im >Monaco<.»

Der Marquis nickte bestätigend.

Ich wollte wissen, ob sie unbemerkt zu mir gekommen seien. Lucky war wie immer Optimist.»Erkannt hat uns niemand«, behauptete er.»Da sind Schirme praktisch.»