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«Just a moment«, sagte Dr.h.c. Isaak Kohler und ließ den Chauffeur Franz vor dem >Du Théâtre< anhalten, stieg aus, wies ihn an, eine Minute zu warten, deutete noch mit dem Schirmstock mechanisch auf die Fassade» eighteenth Century«, doch reagierte Minister B. überhaupt nicht, döste weiter, träumte weiter. Der Kantonsrat begab sich ins Restaurant, gelangte durch die Drehtüre in den großen Speisesaal, wo ihn der Chef de Service ehrfürchtig begrüßte. Es ging gegen sieben, die Tische waren schon vollbesetzt, man saß beim Abendessen, ein Stimmengewirr, Schmatzen, Besteckgeklimper. Der Alt-Kantonsrat schaute sich um, schritt dann gegen die Mitte des Speisesaales, wo an einem kleinen Tisch Professor Winter saß, mit einem Tournedos Rossini und einer Flasche Chambertin beschäftigt, zog einen Revolver hervor und schoß das Mitglied des PEN-Clubs nieder, nicht ohne vorher freundlich gegrüßt zu haben (überhaupt spielte sich alles aufs würdigste ab), ging dann gelassen am erstarrten Chef de Service, der ihn wortlos anglotzte, und an verwirrten, zu Tode erschrockenen Kellnerinnen vorbei durch die Drehtüre in den sanften Märzabend hinaus, stieg wieder in den Rolls-Royce, setzte sich zum dösenden Minister, der nichts bemerkt hatte, dem nicht einmal das Anhalten des Wagens zum Bewußtsein gekommen war, der, wie gesagt, vor sich hin döste, vor sich hin träumte, sei es von Whisky, sei es von Politik (die Suezkrise schwemmte dann auch ihn weg), sei es von einer bestimmten Ahnung hinsichtlich der Magengeschwüre (vorige Woche stand sein Tod in den Zeitungen, nur kurz kommentiert, und die meisten gaben seinen Namen orthographisch nicht ganz gewissenhaft wieder).

«Zum Flughafen, Franz«, befahl Dr.h.c. Isaak Kohler.

Das Intermezzo seiner Verhaftung: es kann nicht ohne Schadenfreude erzählt werden. Einige Tische vom Ermordeten entfernt tafelte der Kommandant unserer Kantonspolizei mit seinem alten Freund Mock, der, ein Bildhauer, taub und in sich versunken, vom ganzen Vorgang auch später nicht das geringste wahrnahm. Die beiden aßen einen Potaufeu, Mock zufrieden, der Kommandant, der das >Du Théâtre< nicht mochte und es nur selten besuchte, mürrisch. Nichts war nach seinem Geschmack: die Fleischbrühe zu kalt, das Siedfleisch zu zäh, die Preiselbeeren zu süß. Als der Schuß fiel, sah der Kommandant nicht auf, das ist möglich, so wird es jedenfalls erzählt, denn er war gerade dabei, das Mark kunstgerecht aus einem Knochen zu saugen, dann erhob er sich aber doch, stieß dabei sogar einen Stuhl um, den er jedoch als ein Mann der Ordnung wieder auf die Beine stellte. Bei Winter angekommen, lag dieser schon auf dem Tournedos Rossini, die Hand noch um das Glas mit dem Chambertin geschlossen.

«Ist das vorhin nicht der Kohler gewesen?«fragte der Kommandant den noch hilflosen Geschäftsführer, der ihn verstört und bleich anglotzte.

«Jawohl. In der Tat«, murmelte der.

Der Kommandant betrachtete den ermordeten Germanisten nachdenklich, schaute dann finster auf die Platte mit der Rösti und den Bohnen nieder, ließ seinen Blick über die Schüssel mit dem zarten Salat, den Tomaten und Radieschen gleiten.

«Da kann man nichts mehr machen«, sagte er.

«Jawohl. In der Tat.»

Die Gäste, erst wie gebannt, waren aufgesprungen. Hinter der Theke starrten der Koch und das Küchenpersonal herüber. Nur Mock aß ruhig weiter. Ein hagerer Mann drängte sich vor.

«Ich bin Arzt.»

«Rühren Sie ihn nicht an«, befahl der Kommandant ruhig,»wir müssen ihn zuerst mal fotografieren.»

Der Arzt beugte sich zum Professor, befolgte jedoch den Befehl.

«Tatsächlich«, stellte er dann fest.»Tot.»

«Eben«, antwortete der Kommandant ruhig.»Gehen Sie zurück an Ihren Tisch.»

Dann nahm er die Flasche Chambertin vom Tisch.

«Die ist requiriert«, sagte er und reichte sie dem Geschäftsführer.

«Jawohl. In der Tat«, murmelte der.

Darauf ging der Kommandant telefonieren.

Als er zurückkehrte, befand sich der Staatsanwalt Jämmerlin schon bei der Leiche. Er trug einen feierlichen dunklen Anzug. Er beabsichtigte, in der Tonhalle ein Symphoniekonzert zu besuchen, und hatte eben im Französischen Restaurant im ersten Stock zum Nachtisch eine Omelette flambée verzehrt, als er den Schuß hörte. Jämmerlin war unbeliebt. Jedermann sehnte seine Pensionierung herbei, die Dirnen und ihre Konkurrenz vom anderen Lager, die Diebe und Einbrecher, die ungetreuen Prokuristen, die Geschäftsmänner in Schwierigkeiten, aber auch der Justizapparat, von der Polizei bis zu den Anwälten, ja selbst seine Kollegen ließen ihn im Stich. Jedermann riß Witze über ihn: es sei kein Wunder, daß es in der Stadt jämmerlicher denn je hergehe, seit man Jämmerlin habe, jämmerlicher als in der Justiz könne es nicht mehr zugehen usw. Der Staatsanwalt stand auf verlorenem Posten, seine Autorität war längst untergraben, die Geschworenen widersetzten sich immer häufiger seinen Anträgen, die Richter desgleichen, und besonders hatte er unter dem Kommandanten zu leiden, der im Rufe stand, den sogenannten kriminellen Teil unserer Bevölkerung für den wertvolleren zu halten. Doch Jämmerlin war ein Jurist großen Stils, der durchaus nicht immer den kürzeren zog, seine Anträge und Repliken waren gefürchtet, seine Kompromißlosigkeit imponierte, sosehr sie verhaßt war. Er stellte einen Staatsanwalt der älteren Schule dar, von jedem Freispruch persönlich gekränkt, gleich ungerecht gegen reich und arm, ledig, von keiner Versuchung angefochten, ohne je eine Frau berührt zu haben. Beruflich seine schlimmsten Nachteile. Die Verbrecher waren für ihn etwas Unverständliches, geradezu Satanisches, die ihn in eine alttestamentarische Wut versetzten, er war ein Relikt einer unbeugsamen, aber auch unbestechlichen Moralität, ein erratischer Block im» Sumpfe einer Justiz, die alles entschuldigt«, wie er sich ebenso schwungvoll wie grimmig ausdrückte. Auch jetzt war er ungemein erregt, um so mehr, als er den Ermordeten und den Mörder persönlich kannte.

«Kommandant«, rief er empört aus, in der Hand noch die Serviette,»man behauptet, Doktor Isaak Kohler habe diesen Mord begangen!»

«Stimmt«, antwortete der Kommandant mürrisch.

«Das ist doch einfach unmöglich!»

«Kohler muß verrückt geworden sein«, antwortete der Kommandant, setzte sich auf den Stuhl neben dem Toten, zündete sich eine seiner ewigen Bahianos an. Der Staatsanwalt trocknete sich mit der Serviette die Stirn, zog vom Nebentisch einen Stuhl heran, setzte sich ebenfalls, so daß der riesige Tote nun zwischen den beiden massigen, schweren Beamten über seinem Teller lag. So warteten sie. Totenstille im Restaurant. Niemand aß mehr. Alles starrte auf die gespenstische Gruppe. Nur als eine Studentenverbindung den Raum betrat, entstand Verwirrung. Sie nahm singend vom Lokal Besitz, begriff nicht gleich die Lage, sang aus Leibeskräften weiter, verstummte dann verlegen. Endlich kam Leutnant Herren mit dem Stab des Morddezernats. Ein Polizist fotografierte, ein Gerichtsmediziner stand hilflos herum, und ein Bezirksanwalt, der mitgekommen war, entschuldigte sich bei Jämmerlin für sein Erscheinen. Leise Befehle, Anordnungen. Dann wurde der Tote aufgerichtet, Sauce im Gesicht, Gänseleber und grüne Bohnen im Vollbart, auf die Bahre gelegt und in den Sanitätswagen geschafft. Die goldene randlose Brille entdeckte Ella erst in der Rösti, als sie abräumen durfte. Darauf wurden vom Bezirksanwalt die ersten Zeugen einvernommen.

Mögliches Gespräch 1: Wie nun wieder Leben in die Serviertöchter kam und die Gäste sich langsam und zögernd setzten, wie nun einige schon wieder zu essen begannen, wie nun auch die ersten Journalisten anrückten, zog sich der Staatsanwalt mit dem Kommandanten zu einer Besprechung in die Vorratskammer neben der Küche zurück, wohin man sie geführt hatte. Er wollte einen Augenblick mit dem Kommandanten allein sein, ohne Zeugen. Ein Weltgericht mußte organisiert und abgehalten werden. Die kurze Besprechung neben Regalen mit Broten, Konserven, Ölflaschen und Mehlsäcken verlief unglücklich. Nach der Darstellung vor dem Parlament, die der Kommandant später gab, forderte der Staatsanwalt den Masseneinsatz der Polizei.

«Wozu?«wandte der Kommandant ein.»Wer wie Kohler vorgeht, will nicht fliehen. Den Mann können wir ruhig zu Hause verhaften.»

Jämmerlin wurde energisch.»Ich darf wohl erwarten, daß Sie Kohler wie jeden anderen Verbrecher behandeln.»

Der Kommandant schwieg.

«Der Mann ist einer der reichsten und bekanntesten Bürger der Stadt«, fuhr Jämmerlin fort.»Es ist unsere heilige Pflicht«(eine seiner Lieblingswendungen),»mit der größten Strenge vorzugehen. Wir müssen jeden Anschein vermeiden, daß wir ihn begünstigen.»

«Es ist unsere heilige Pflicht, unnötige Kosten zu vermeiden«, erklärte der Kommandant ruhig.

«Kein Großalarm?»

«Ich denke nicht daran.»

Der Staatsanwalt starrte auf die Brotschneidemaschine, neben der er stand.»Sie sind mit Kohler befreundet«, meinte er endlich, nicht einmal boshaft, nur routinemäßig und kalt.»Halten Sie es nicht für möglich, daß unter diesen Umständen Ihre Objektivität leiden könnte?»

Stille.»Polizeileutnant Herren«, antwortete der Kommandant gelassen,»wird den Fall Kohler übernehmen.»

So kam es zum Skandal.

Herren war ein Mann der Tat, ehrgeizig und handelte denn auch voreilig. Es gelang ihm, nicht nur innerhalb weniger Minuten die ganze Polizei, sondern auch die Bevölkerung zu alarmieren, indem er im Radio vor den Halbachtuhrnachrichten gerade noch die Sondermeldung der Kantonspolizei lancieren konnte. Der Apparat lief auf vollen Touren. Man fand Kohlers Villa leer (er war Witwer, seine Tochter als Stewardeß der Swissair in Lüften, die Köchin im Kino). Man schloß auf Fluchtabsichten. Funkwagen pirschten durch die Straßen, die Grenzposten wurden benachrichtigt, ausländische Polizei avisiert. Dies alles war vom rein Technischen her nur zu loben, doch stellte man die Möglichkeit außer Frage, die der Kommandant gewittert hatte: man suchte einen Mann, der nicht zu fliehen trachtete. So war denn das Unglück schon geschehen, als man kurz nach acht aus dem Flughafen die Nachricht erhielt, Kohler habe einen englischen Minister zum Flugzeug gebracht und sich dann in seinem Rolls-Royce gemütlich in die Stadt zurückfahren lassen. Besonders schwer traf es den Staatsanwalt. Er hatte sich eben, beruhigt durch das machtvolle Funktionieren der Staatsmaschinerie, noch freudig gestimmt von seinem Sieg über den verhaßten Kommandanten, bereitgemacht, Mozarts Ouvertüre zur >Entführung aus dem Serail< anzuhören, sich auch schon genußvoll, den gestutzten grauen Bart streichelnd, zurückgelehnt, und Mondschein hatte schon den Taktstock erhoben, als der gesuchte, mit den modernsten Hilfsmitteln der Polizei gehetzte Dr.h.c. an der Seite einer der reichsten und nun auch ahnungslosesten Witwen unserer Stadt durch den Mittelgang des großen Tonhallesaals an den dichten Zuhörerreihen vorbei nach vorne geschritten kam, ruhig und sicher wie immer, mit der unschuldigsten Miene, als wenn nichts geschehen wäre, und sich neben Jämmerlin niederließ, ja dem Fassungslosen noch die Hand schüttelte. Die Erregung, das Getuschel, aber leider auch das Gekicher waren beträchtlich, die Ouvertüre mißriet nicht unbedeutend, weil auch das Orchester den Vorgang bemerkt hatte, ein Oboist erhob sich sogar neugierig, Mondschein mußte zweimal ansetzen, und so verwirrt war der Staatsanwalt, daß er nicht nur während der Serail-Ouvertüre, sondern auch während des nachfolgenden Zweiten Klavierkonzerts von Johannes Brahms wie erstarrt sitzen blieb. Zwar begriff er endlich die Lage, als der Pianist eingesetzt hatte, aber nun wagte er nicht, Brahms zu unterbrechen, sein Respekt vor der Kultur war zu groß, er fühlte schmerzlich, daß er hätte eingreifen müssen, und nun war es zu spät, und so blieb er bis zur Pause. Dann handelte er. Er drängte sich durch die Menge, die neugierig den Kantonsrat umringte, lief zu den Telefonkabinen, mußte zurückkehren, um von einer Garderobenfrau Kleingeld zu bekommen, rief die Polizeikaserne an, erreichte Herren, ein Großaufgebot sauste herbei. Kohler dagegen spielte den Ahnungslosen, spendierte an der Bar der Witwe Champagner, hatte auch das unverschämte Glück, daß der zweite Teil des Konzerts wenige Augenblicke vor Eintreffen der Polizei begann. So mußte denn Jämmerlin mit Herren vor verschlossenen Türen warten, drinnen wurde Bruckners Siebente gegeben, endlos. Der Staatsanwalt stampfte aufgeregt hin und her, mußte einige Male von Platzanweiserinnen zur Ruhe gemahnt werden, wurde überhaupt wie ein Barbar behandelt. Er verwünschte die ganze Romantik, verfluchte Bruckner, man war immer noch erst beim Adagio, und als endlich nach dem vierten Satz der Beifall einsetzte — auch er wollte kein Ende nehmen — und als das Publikum durch das Spalier der aufgerückten Polizisten ins Freie strömte, kam Dr.h.c. Isaak Kohler erst recht nicht. Er war verschwunden. Der Kommandant hatte ihn durch den Künstlereingang in seinen Wagen gebeten und war mit ihm in die Polizeikaserne gefahren.