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Das Verhalten Kohlers: Jedem fiel die Würde des überführten Mörders auf. Er betrat den Gerichtssaal völlig ausgeruht, hatte er doch die Untersuchungshaft der Hauptsache nach in einer psychiatrischen Klinik am Bodensee verbracht, zwar unter losen polizeilichen Vorschriften, aber betreut von dem mit ihm eng befreundeten Professor Habersack. Bewegung war erlaubt, der Caddie beim Golf war der Dorfpolizist. Endlich vor Obergericht, wies Kohler jede Begünstigung von sich, verlangte» wie ein Mann aus dem Volke behandelt zu werden«. Bezeichnend gleich der Beginn der Verhandlung. Der Dr.h.c. war erkrankt, Grippe, das Thermometer kletterte auf 39 Grad, er wies jede Verschiebung ab, weigerte sich, im Gerichtssaal in einem Krankenstuhl Platz zu nehmen. Den fünf Oberrichtern erklärte er (Protokoll):»Ich stehe hier, damit ihr nach eurem Gewissen und nach dem Gesetz Recht über mich sprecht. Ihr wißt, wessen man mich beschuldigt. Gut. Nun ist es an euch zu richten und an mir, mich eurem Urteilsspruch zu unterwerfen. Ich werde ihn als gerecht anerkennen, wie er auch ausfalle. «Nach dem Urteilsspruch dankte er bewegt, hob besonders die Menschlichkeit hervor, mit der er behandelt worden sei, dankte auch Jämmerlin. Man hörte sich den Erguß eigentlich mehr belustigt als gerührt an, allgemein herrschte der Eindruck, mit Dr. Isaak Kohler habe die Justiz ein ausgefallenes Exemplar eingefangen, und als er abgeführt wurde, schien der Vorhang über eine zwar nicht ganz erhellte, aber doch eindeutige Affäre endgültig zu fallen.

Über mich, damals und heute: Dies in allgemeinen Zügen die Vorgeschichte, enttäuschend, ich weiß, ein Ereignis, das der Tag liefert, merkwürdig bloß für die Beteiligten und für die näher Informierten, ein Grund zum Klatsch, zu mehr oder weniger faulen Witzen und zu einigen moralischen Betrachtungen über die Krise des Abendlandes und der Demokratie, ein Kriminalfall, von den Gerichtsreportern pflichtbewußt berichtet und vom Chefredaktor unseres weltberühmten Lokalblatts (ein Freund Kohlers) mit landesüblicher Würde kommentiert, ein Gesprächsstoff für wenige Tage, kaum daß er wesentlich über die Grenzen unserer Stadt zu dringen vermochte, ein Provinzskandal, der mit Recht bald vergessen worden wäre, wenn sich nicht hinter ihm ein Plan verborgen hätte. Daß ich in diesem Plan eine entscheidende Rolle spielen sollte, ist mein persönliches Pech, wenn ich auch zugebe, von Anfang an Böses geahnt zu haben. Doch muß ich hier etwas über meine Verhältnisse nach dem Prozeß gegen Kohler einfügen. Sie waren schon damals nicht mehr ganz erfreulich. Ich hatte nun doch versucht, mich selbständig zu machen und in der Spiegelgasse über dem Vereinssälchen der Heiligen vom Uetli, einer frommen Sekte, ein Büro bezogen, einen gegen die drei Fenster hin abgeschrägten Raum mit einigen vor einem Möbel-Pfister-Schreibtisch gruppierten Sesseln, mit >Beobachter<-Farbdrucken an den Wänden, über deren Tapete ich lieber schweigen möchte, und mit einem noch nicht funktionierenden Telefon, ein Verschlag, der dadurch entstanden war, daß der Hausbesitzer die Wand zwischen zwei Mansarden hatte niederreißen und eine der beiden Türen hatte zumauern lassen. In der dritten Mansarde hauste der Prediger und Gründer der Uetli-Sekte, Simon Berger, der aussah wie Niklaus von der Flüe und mit dem ich das Klo im Korridor teilte. Zwar lag mein Büro überaus romantisch, Büchner und Lenin hatten in der Nähe gewohnt, und die Aussicht auf die Kamine und Televisionsantennen der Altstadt erweckte Bewunderung, Vertrautheit, heimatliches Kleinstubengefühl und Lust zum Kakteenzüchten, doch war sie für einen Rechtsanwalt denkbar ungeeignet, nicht nur verkehrstechnisch, auch sonst ließ sich die Bude kaum aufstöbern: kein Lift, steile knarrende Treppen, ein Genist von Korridoren. (Nachzutragen: Damals lag dieses Büro ungünstig, hatte ich doch noch Ambitionen, wollte ich doch noch Fuß fassen, vorankommen, ein braver Bürger werden, heute, für den vergammelten Hurenspezialisten, der ich nun einmal geworden bin, erweist sich der Verschlag gar als ideal, auch wenn der Platzmangel durch den Einbau einer Couch beängstigend geworden ist, schlafe, beischlafe, wohne, ja koche ich doch nun auch hier, nachts von den Psalmen der Heiligen vom Uetli umdröhnt,»halte Einkehr, Mensch und Christ, rette deine Seele, und was sonst zu retten ist, werde ohne Fehle«; Lucky wenigstens, der Beschützer der Dame mit dem bemerkenswerten Wuchs und dem einheimischen Metier, der eben teils aus Neugier, teils aus geschäftlichen Sorgen heraus vorsprach und auch sonst die Lage sondierte, schien befriedigt, meinte jovial, hier könne man ja direkt aufatmen.) So blieben denn auch damals die Klienten fast ganz aus, ich war ziemlich arbeitslos, hatte außer einigen Ladendiebstählen, Eintreibungen und den Statuten eines Gefangenenturnvereins (im Auftrag des Justizdepartements) nichts zu bearbeiten, faulenzte bald auf den grünen Bänken am Quai, bald vor dem Cafe >Select< herum, spielte Schach (mit Lesser, wobei wir beharrlich spanisch eröffneten, so daß im großen und ganzen stets die gleiche Partie im Patt endete), nahm in den Lokalen der Frauenvereine eine phantasielose, doch nicht ungesunde Kost zu mir. Unter diesen Umständen konnte ich es mir kaum leisten, Kohlers briefliche Aufforderung abzuschlagen, ihn im Zuchthaus in R. zu besuchen; daß mir die Aufforderung nicht geheuer vorkam, weil ich mir nicht vorstellen konnte, was der Alte mit einem unbekannten, noch nicht arrivierten Rechtsanwalt im Sinne hatte, aber auch, weil ich wohl dessen Überlegenheit fürchtete; all diese dumpfen Gefühle der Bangigkeit verdrängte ich, mußte ich verdrängen. Anständigerweise. Als Produkt unserer Arbeitsmoral. Ohne Fleiß kein Preis. Vogel friß oder stirb. So fuhr ich denn hin. (Damals noch im VW.)

Unser Zuchthaus: mit dem Wagen in etwa zwanzig Minuten zu erreichen. Flaches Tal, das Dorf vorstädtisch, langweilig, viel Beton, einige Fabriken, am Horizont Wälder. Im übrigen kann nicht behauptet werden, daß jedermann in unserer Stadt unser Zuchthaus kenne, die vierhundert Insassen stellen kaum mehr als ein Promille der Bevölkerung dar. Doch dürfte die Anstalt den Sonntagsspaziergängern bekannt sein, auch wenn sie von vielen unter ihnen wohl mehr für eine Bierbrauerei oder für ein Irrenhaus gehalten wird. Hat man jedoch einmal das bewachte Eingangstor passiert und steht man vor dem Hauptgebäude, glaubt man beinahe, vor einer architektonisch verunglückten Kirche oder Kapelle aus roten Backsteinen zu stehen. Auch hält der vage religiöse Eindruck beim Pförtner durchaus noch an: freundliche, milde Gesichter wie bei der Heilsarmee, eine fromme Stille überall, wohltuend für die Nerven, man gähnt unwillkürlich im kühlen Halbdunkel, wenn auch vielleicht etwas bedrückt, die Justiz hat ihre verschlafenen Züge angenommen, kein Wunder schließlich bei den ewig verbundenen Augen der Dame. Auch sonst Anzeichen von Wohltätigkeit und Seelsorge, ein bärtiger Priester taucht auf, emsig und unermüdlich, dann der Anstaltspfarrer, später eine Psychologin mit Brille, man spürt die Absicht, Seelen zu retten, zu stärken, aufzurichten, nur vom Ende des freilich trostlosen Korridors her schimmert eine bedrohlichere Welt, doch läßt die vergitterte Glastüre keinen deutlichen Einblick zu, auch die zwei Männer in Zivil, die auf einer Bank vor dem Büro des Direktors ergeben und finster warten, erwecken leises Mißtrauen, unbestimmtes Unbehagen. Wird dann aber die Glastüre geöffnet, überschreitet man die geheimnisvolle Schwelle, dringt man ins Innerste vor, sei es als leicht verlegenes Mitglied einer Kommission, sei es als Gefangener, abgeliefert von der Justiz, steht man staunend vor einem väterlichen Reiche strengster, doch nicht unhumaner Ordnung, vor drei gewaltigen fünfstöckigen Galerien nämlich, von einem Ort aus zu überblicken, durchaus nicht düster, sondern von oben her lichtdurchflutet, vor einer Käfig- und Gitterwelt, gewiß, doch nicht ohne Freundlichkeit und Individualität, erspäht man doch hier durch eine halboffene Zellentür eine himmelblau gemalte Zellendecke und das zarte Grün einer Zimmerlinde, dort freundliche, zufriedene Gestalten in brauner Anstaltskleidung; der Gesundheitszustand der Insassen ist vortrefflich, die klösterliche, regelmäßige Lebensweise, das frühe Lichterlöschen, die einfache Nahrung wirken wahre Wunder, die Bibliothek bietet neben Reise- und Lebensbeschreibungen, neben Erbauungsgeschichten beider Konfessionen, wenn auch nicht das Neueste, so doch Klassiker, und die Direktion pro Woche eine Filmvorführung, diese Woche >Wir Wunderkinder<, der Besuch der Predigt übertrifft jenen von außerhalb der Mauer prozentual erklecklich, das Leben spult langsam und regelmäßig ab, man ist mäßig gehalten und unterhalten, kriegt seine Noten, gutes Betragen lohnt sich, erleichtert die Lage, freilich nur für jene, die ein Jahrzehnt oder gar nur wenige Jahre abzusitzen haben, da lohnt sich die Erziehung. Dagegen wo Hopfen und Malz verloren ist, für die Lebenslänglichen, werden Erleichterungen ohne Verpflichtung zur Besserung gewährt, stellen sie doch den Stolz des Hauses dar, Drossel und Zärtlich etwa, die, als sie ihr Unwesen trieben, den Bürger in Furcht und Schrecken versetzten, werden von den Wärtern mit scheuer Hochachtung behandelt, sie sind die Stargefangenen und fühlen sich auch so. Daß da bei den gewöhnlicheren Kriminellen bisweilen Neid aufkommt und sich einer so Gott will vornimmt, das nächste Mal gründlicher vorzugehen, sei nicht verschwiegen, auch die Medaille, die unser Zuchthaus verdient, hat ihre Kehrseite, aber als Ganzes genommen: wer wird da nicht tugendhaft; zusammengebrochene, von ihren Ämtern und Posten gestürzte Obersten beginnen aufs neue zu hoffen, Raubmörder wenden sich der Anthroposophie, Unzüchtler und Blutschänder sonst einem geistigen Streben zu, Tüten werden geklebt, Körbe geflochten, Bücher gebunden, Broschüren gedruckt, in der Schneiderei lassen selbst Regierungsräte ihre Maßanzüge anfertigen, dazu durchzieht ein warmer Brotgeruch das Haus, die Bäckerei ist berühmt, ihre Wurstwecken staunenswert (die Würste werden geliefert), Wellensittiche, Tauben, Radios sind durch Fleiß und Höflichkeit zu verdienen, für weitere Bildung sorgen Abendschulen, und nicht ohne Neid dämmert es einem auf, begreift man plötzlich, daß diese Welt in Ordnung ist, nicht die unsrige.

Gespräch mit dem Zuchthausdirektor: Zu meiner Überraschung wurde ich zum Direktor Zeller gebeten. Er empfing mich in seinem Büro, in einem Raum mit einem respektablen Konferenztisch, Telefon, Akten. An den Wänden Tabellen, schwarze Bretter voller Zettel, viel Kalligraphie, unter den Sträflingen, wie leider überall in diesem Lande, gibt es viele Lehrer. Das Fenster unvergittert, mit Ausblick auf die Gefängnismauer und etwas Rasen, auch dies schulhofmäßig, wäre hier nicht absolute Stille. Kein Autohupen, kein Geräusch, wie in einem Altersheim.

Der Zuchthausdirektor begrüßte mich reserviert, kühl, und wir setzten uns.

«Herr Spät«, begann er die Unterredung,»Sie sind vom Sträfling Isaak Kohler aufgefordert worden, ihn zu besuchen. Ich habe die Zusammenkunft erlaubt, und Sie werden Kohler in Gegenwart eines Wärters sprechen.»

Ich wußte von Stüssi-Leupin, daß er seine Klienten ohne Zeugen sprechen durfte.

«Stüssi-Leupin besitzt unser Vertrauen«, antwortete der Zuchthausdirektor auf meine Frage.»Ich will damit nicht sagen, daß wir Ihnen mißtrauen, aber wir kennen Sie noch nicht.»

«Verstehe.»

«Und noch etwas, Herr Spät«, fuhr der Zuchthausdirektor fort, nun schon freundlicher:»Bevor Sie mit Kohler reden, möchte ich Ihnen doch mitteilen, was ich von diesem Sträfling halte. Vielleicht ist das für Sie wichtig. Verstehen Sie mich recht. Ich habe mich nicht darum zu kümmern, weshalb die Menschen, die ich zu beaufsichtigen habe, hier sind. Das geht mich nichts an. Meine Sache ist der Strafvollzug. Ausschließlich. Aus diesem Grunde will ich mich auch nicht zu Kohlers Verbrechen äußern, Ihnen aber gestehen, daß der Mann mich persönlich etwas verwirrt.»