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Ich überlegte mir aufs neue den merkwürdigen Vorschlag. Er gefiel mir nicht, ich witterte eine Falle, vermochte sie aber nicht zu entdeсken.

«Warum haben Sie sich ausgerechnet an mich gewandt?«fragte ich.

«Weil Sie nichts von Billard verstehen«, antwortete er gelassen.

Nun hatte ich mich entschieden.

«Herr Kohler«, antwortete ich,»dieser Auftrag ist mir zu undurchsichtig.»

«Geben Sie meiner Tochter Bescheid«, sagte Kohler und erhob sich.

«Da gibt es nichts zu überlegen, ich lehne ab«, sagte ich und erhob mich ebenfalls.

Kohler schaute mich ruhig an, strahlend, glücklich, rosig.

«Sie werden meinen Auftrag annehmen, junger Freund«, sagte er,»ich kenne Sie besser als Sie sich selbst: Eine Chance ist eine Chance, und die benötigen Sie. Das ist alles, was ich Ihnen sagen wollte. Und nun, Möser, gehen wir wieder Körbe flechten.»

Die beiden gingen, Arm in Arm, so wahr ich lebe, und ich war froh, den Ort des vollkommenen Glücks zu verlassen. Eilig. Machte mich regelrecht aus dem Staube. Entschlossen, die Hände von der Angelegenheit zu lassen, Kohler nie mehr zu sehen.

Ich sagte dann doch zu. Zwar war ich noch am anderen Morgen willens abzusagen. Ich fühlte, daß mein Ruf als Rechtsanwalt auf dem Spiele stand, auch wenn ich noch keinen Ruf besaß, aber der Vorschlag Kohlers war sinnlos, eine Spielerei, unter der Würde meines Berufs, eine bloße Gelegenheit, auf eine törichte Art Geld zu verdienen, die mein Stolz verschmähte. Ich wollte damals noch sauber durch die Welt kommen, sehnte mich nach wirklichen Prozessen, nach Möglichkeiten, den Menschen zu helfen. Ich schrieb einen Brief an den Kantonsrat, teilte ihm meinen Entschluß noch einmal mit. Die Sache war für mich erledigt. Den Brief in der Tasche verließ ich mein Zimmer in der Freiestraße, wie jeden Morgen, punkt neun, in der Absicht, mich gewohnheitsmäßig zuerst ins >Select<, später auf mein Studio (die Mansarde in der Spiegelgasse), noch später zum Quai zu begeben. In der Haustüre grüßte ich meine Vermieterin, blinzelte dann in der Sonne zum gelben Briefkasten neben dem Konsum hinüber, einige Schritte, eine Lächerlichkeit, doch da das Leben oft wie ein schlechter Romancier arbeitet, begegnete ich an diesem föhnigen, drückenden, für unsere Stadt so typischen Alltagsmorgen, wie gesagt, zwischen neun und zehn gleich nacheinander a) dem alten Knulpe, b) dem Architekten Friedli, c) dem Privatdetektiv Lienhard.

a) Der alte Knulpe: er erwischte mich beim Briefkasten. Ich wollte eben meinen Absagebrief einwerfen, als er mir zuvorkam, mit einem ganzen Bündel von Briefen, von denen er einen um den anderen sorgfältig einwarf. Der Alte war wie immer von seiner Frau begleitet. Professor Carl Knulpe war fast zwei Meter groß, ausgemergelt, schien nur aus Haut und Knochen zu bestehen, wie Prediger Simon Berger und Niklaus von der Flüe, doch ohne Bart, verwildert, schmutzig, trug sommers und winters eine Pelerine, dazu eine Baskenmütze. Seine Gattin war ebenso groß wie er, ebenso ausgemergelt, ebenso verwildert und schmutzig, trug auch jahraus, jahrein Pelerine und Baskenmütze, so daß viele sie gar nicht für seine Frau, sondern für seinen Zwillingsbruder hielten. Beide waren bedeutend in ihrem Fachgebiet, beide Soziologen. Doch so unzertrennlich sie auch im Leben zusammenhielten, wissenschaftlich waren sie Todfeinde, die sich publizistisch oft boshaft bekämpften, er war ein großer Liberaler (>Kapitalismus als geistiges Abenteuer<, Francke, 1938), sie eine leidenschaftliche Marxistin, bekannt unter dem Namen Moses Staehelin (>Marxistischer Humanismus des Diesseits<, Europa-Verlag, 1939), beide durch die politische Entwicklung gleich gezeichnet: Carl Knulpe erhielt kein Visum für die USA, Moses Staehelin keines für die UdSSR, er hatte sich scharf gegen die» instinktiven marxistischen Tendenzen «der Vereinigten Staaten geäußert, sie noch unbarmherziger über den» kleinbürgerlichen Verrat «der Sowjetunion. Hatte. Leider ist die Vergangenheitsform notwendig: vor zwei Wochen zermalmte ein Lastwagen des Abbruchgeschäfts Stürzeier die beiden, er wurde begraben, sie kremiert, eine testamentarische Verfügung, die das Begräbnis nicht unerheblich erschwerte.

«Grüß Gott«, machte ich mich bemerkbar, den Brief an Kohler noch in der Hand. Professor Carl Knulpe grüßte nicht zurück, blinzelte nur mißtrauisch durch seine staubige randlose Brille zu mir herunter, und auch seine Frau (mit gleicher Brille) schwieg.

«Ich weiß nicht recht, ob Sie sich noch an mich erinnern, Herr Professor«, sagte ich etwas entmutigt.

«Doch, doch«, antwortete Knulpe.»Erinnere mich. Studierten Jurisprudenz und trieben sich bei mir in der Soziologie herum. Sehen ein wenig wie ein ewiger Studiosus aus. Examen bestanden?»

«Längst, Herr Professor.»

«Rechtsanwalt geworden?»

«Jawohl, Herr Professor.»

«Tüchtig, tüchtig. Wohl Sozi, wie?»

«Teils, Herr Professor.»

«Ein wackerer Sklave des Kapitals, he?«fragte Carl Knulpes Frau.

«Teils, Frau Professor.»

«Haben wohl etwas auf dem Herzen«, stellte Carl Knulpe fest.

«Jawohl, Herr Professor.»

«Begleiten Sie uns«, sagte sie. Ich begleitete die beiden. Wir gingen gegen den >Pfauen<, den Brief hatte ich nun doch noch nicht eingeworfen, aus einer momentanen Vergeßlichkeit heraus, aber es gab ja noch viele Briefkästen.

«Nun?«fragte er.

«Ich besuchte Dr.h.c. Isaak Kohler, Herr Professor. Im Zuchthaus.»

«So, so. Waren bei unserem kreuzfidelen Mörder. Ei, ei, beorderte er Sie auch zu sich?»

«Gewiß.»

Bald fragte der eine, bald fragte die andere.

«Ist er immer noch glücklich?»

«Und wie!»

«Strahlt er noch immer?»

«Und ob!»

Wir kamen an einem weiteren Briefkasten vorbei. Eigentlich wollte ich nun stehenbleiben, den Absagebrief einwerfen, doch Knulpes gingen weiter, ahnungslos, mit großen hastigen Schritten. Ich mußte laufen, um mitzuhalten.

«Kohler hat mir erzählt, Sie hätten da einen recht eigenartigen Auftrag angenommen, Herr Professor«, sagte ich.

«Eigenartig? Weshalb eigenartig?»

«Herr Professor! Hand aufs Herz: daß Kohler seinen eigenen Mord auf die Folgen hin untersuchen läßt, ist doch eine gar zu verrückte Geschichte. Da mordet der Kerl am heiterhellen Tag, grundlos, so mir nichts dir nichts, und läßt dann noch soziologische Studien darüber anstellen, unter dem Vorwand, damit sei die Wirklichkeit auszuloten.»

«Sie wird aber ausgelotet, junger Mann. Klaftertief.»

«Da muß doch irgend etwas dahinterstecken! Irgendeine Teufelei!«rief ich aus.

Knulpes blieben stehen. Ich keuchte. Er reinigte seine randlose Brille, trat auf mich zu, so daß ich zu ihm hinauf-, er zu mir heruntersehen mußte. Er setzte seine Brille wieder auf, seine Augen glotzten. Auch sein Weib glotzte mich entrüstet an, rückte eng an ihren Gatten und somit auch an mich.

«Die Wissenschaft steckt dahinter, junger Mann, nur die Wissenschaft. Zum ersten Male können die Folgen eines Mordes in der bürgerlichen Gesellschaft mit methodischer Gründlichkeit untersucht und erschöpfend dargestellt werden! Dank unseres fürstlichen Mörders. Eine Riesenchance! Zusammenhänge tauchen auf! Verwandtschaftliche, berufliche, politische, finanzielle, kulturelle. Nicht verwunderlich. Alles hängt zusammen in dieser Welt, auch in unserer lieben Stadt, einer stützt sich auf den anderen, einer protegiert den anderen, und wenn einer fällt, purzeln viele, und so sind denn viele gepurzelt. Stecke jetzt in der Darstellung der Folgen bei unserer verehrten Alma mater. Und das ist nur der Anfang.»

«Entschuldigen, ein Auto.»

Ich zog die beiden in Sicherheit, Knulpes waren vor Aufregung vom Trottoir auf die Straße getreten, und ein Taxi mußte scharf bremsen. Es war überfüllt, eine alte Dame mit einem Hut voller Kunstblumen prallte innen gegen die Scheibe, der Chauffeur schrie zum Fenster hinaus, war sehr grob. Knulpes wurden nicht einmal blaß.

«Gänzlich gleichgültig«, sagte er,»statistisch unerheblich, ob wir überfahren werden oder nicht. Nur der Auftrag zählt, nur die Wissenschaft.»

Aber Frau Professor Knulpe war anderer Meinung:»Um mich wäre es schade gewesen«, behauptete sie.

Das Taxi fuhr davon. Knulpe kam wieder auf seine soziologische Untersuchung zu sprechen.

«Mord ist Mord, gewiß, doch für einen Wissenschaftler ist er ein Phänomen, das wie alle anderen Phänomene erforscht werden muß. Bis jetzt hat man sich darauf beschränkt, die Ursachen festzustellen, Motive, Herkommen, Umwelt, ich habe mich jetzt auf die Folgen zu werfen. Und da darf ich sagen: ein Segen für die Alma mater, ein Segen für die ganze Universität, dieser Mord, man möchte sozusagen selber etwas morden. Na ja, natürlich, an sich bedauerlich, so eine Untat, aber durch die unverhoffte Lücke, die Winter hinterließ, strömt frische Luft, neuer Geist. Toll, was sich da alles herausstellt, der liebe selige Winter war Sand im Getriebe, ein rückständiges Element, wie schon Shakespeare sagte: >Der Winter unseres Mißvergnügens<, aber ich will weder lästern noch kalauern, stelle einfach dar, liefere Fakten, junger Mann, Fakten und nichts weiter.»

Wir waren beim >Pfauen< angelangt.

«Gott befohlen, Herr Rechtsanwalt«, sagten Knulpes und verabschiedeten sich.»Habe jemand Wichtiges von der ETH zu treffen«, fügte er noch bei,»habe nun auf diesem Terrain nachzuforschen, Winters Einfluß auf die Schulkommission stellt schon ein Kapitel für sich dar, wittere Sensationen. Kann rosig werden. «Am Eingang zum Restaurant kehrten sie sich noch einmal um, hoben den Finger:»Wissenschaftlich denken, junger Mann, wissenschaftlich denken. Das müssen Sie noch lernen. Auch als Rechtsanwalt, mein Bester«, sagte Frau Professor Knulpe, alias Moses Staehelin. Sie verschwanden, und meinen Brief hatte ich noch immer nicht eingeworfen.

b) Architekt Friedli: saß neben ihm kurz darauf im >Select<, den Brief immer noch in der Tasche. Select: Café, vor dem man sitzt und sitzen bleibt, seit jeher, seit ewig, oder doch seit Jahrmillionen, als noch die Brontosaurier den Fluß hinunterwateten, saß man schon da. Friedli kannte ich von meiner Stüssi-Leupin-Zeit her, er hatte bisweilen Schwierigkeiten mit seinen Bodenspekulationen, doch konnte ihn nichts hemmen, er war und ist noch die Fettlawine, die unsere Stadt reinfegt, so daß in den Schneisen sich Geschäftshäuser, Appartementhäuser, Mietshäuser neu erheben, nur teurer als vorher, zu entsprechend fetten Preisen. Die Naturkatastrophe näher besehen: fünfzigjährig, schwitzende enorme Speckwülste, die Augen klein und funkelnd, irgendwo hineingesteckt, die Nase winzig, auch die Ohren, sonst alles riesig, Selfmademan, ein Kind der Langstraße (meine Alte, lieber Spät, ist zu fremden Leuten waschen gegangen, mein Alter hat sich zu Tode gesoffen, habe noch selber bei der Beerdigung eine Flasche Bier in sein Grab gegossen), nicht nur Radsportmäzen, ohne dessen Sonderpreise kein Sechstagerennen denkbar ist, an dem er inmitten des Hallenstadions thronend Unmengen von St.-Galler-Schüblig und Wienerwürstchen verschlingt, sondern auch Musikförderer, dank dessen das Tonhalleorchester und unser Opernhaus nicht ins ganz und gar Mittelmäßige sinken, der Klemperer, Bruno Walter, ja sogar Karajan verlockte, bei uns zu dirigieren, und jetzt Mondschein protegiert, so daß er unsere Stadt, die er durch Neu- und Umbauten so gründlich verschandelt, wenigstens wieder etwas musisch verklärt.

Er erkannte mich auf der Stelle. Der Morgen war wie gesagt föhnig und warm, man fühlte sich zu Hause, war wie gelähmt und verhext in der Schlappheit des Klimas, saß zusammengedrängt, ich an Friedli geklebt, der bester Laune war, einen Gipfel um den anderen in einen Milchkaffee um den anderen tunkte, unmäßig, schmatzend, schlürfend, der Kaffee lief in braunen Streifen über seine seidene Krawatte und über das weiße Hemd.

Der Ursprung seiner Freude war eine Todesanzeige in unserem weltbekannten Lokalblatt. Es hatte Gott dem Herrn gefallen, durch einen tragischen Unfall» unseren unvergessenen Gatten, Vater, Sohn, Bruder, Onkel, Schwiegersohn und Schwager Otto Erich Kugler zu sich zu rufen. Sein Leben war lauter Liebe.»

«Ihr Feind?«fragte ich.

«Mein Freund.»

Ich kondolierte.

«Da muß er gegen Cham und in einen Baum sausen, der brave, gute, liebe Kugler«, erläuterte Friedli, strahlend, Kaffee schlürfend, Gipfel tunkend und essend,»kugelt ins ewige Leben.»

«Das tut mir leid«, sagte ich.

«Seinen Fiat sollten Sie erst gesehen haben, ein einziges Blechschlamassel.»