Sein erstes Studienjahr an der Universität beendete er mit glänzenden Noten und fuhr in den Semesterferien nach Hause. Er arbeitete den Sommer über für das Parteiorgan und schrieb Artikel über den Wiederaufbau in Leipzig.
Auf Versammlungen sprach er über seinen Studienaufenthalt und ging auf die historisch gewachsenen und traditionellen Verbindungen zwischen Island und Leipzig ein. Er unterhielt sich mit einflussreichen Parteimitgliedern. Man hatte Großes mit ihm im Sinn. Er freute sich schon darauf, wieder nach Leipzig zu fahren. Er glaubte fest daran, dass ihm eine Aufgabe zugedacht war, vielleicht eine größere als den anderen. Es hieß, dass er eine große Zukunft vor sich habe.
Im Herbst fuhr er wieder mit dem Schiff nach Deutschland.
Sein zweites Weihnachtsfest im Wohnheim näherte sich.
Die Isländer freuten sich, weil einige von ihnen Pakete von zu Hause geschickt bekommen hatten, sie enthielten traditionelles isländisches Weihnachtsessen wie geräuchertes Lammfleisch, außerdem Salzfisch und Trockenfisch und Süßigkeiten, in manchen Fällen sogar Bücher. Karls Paket war bereits eingetroffen, und der Geruch von geräuchertem Lammfleisch durchzog das ganze Haus, als er eine überdimensional große Keule aus Nordisland zubereitete, wo sein Onkel einen Bauernhof hatte. In dem Paket befand sich auch eine Flasche mit isländischem Brennivín, die Emíl sicherstellte.
Außer Rut konnte es sich niemand leisten, zu Weihnachten nach Hause zu fahren. Sie war auch die Einzige von ihnen, die wirklich an Heimweh litt, nachdem sie aus den Semesterferien zurückgekehrt war. Als sie jetzt zu Weihnachten wieder nach Island fuhr, wurde gemunkelt, dass sie womöglich nicht mehr zurückkommen würde. In der alten Villa war es stiller geworden, denn die deutschen Studenten waren fast alle nach Hause gefahren und auch einige aus den Nachbarländern, die billig mit dem Zug reisen konnten.
Deswegen war die Gruppe, die sich in der Küche um die geräucherte Lammkeule scharte, nicht sehr groß. Emíl hatte die Flasche Brennivín mitten auf den Tisch gestellt, auf den Ehrenplatz, wie er sich ausdrückte. Zwei Schweden im Wohnheim hatten Kartoffeln beigesteuert, andere den Rotkohl, und Karl war es gelungen, eine ziemlich gute Mehlschwitze zum Fleisch und zu den Kartoffeln zu fabrizieren. Als Lothar Weiser, der Betreuer, der sich besonders mit den Isländern angefreundet hatte, die Nase zur Tür hereinsteckte, wurde er zum Festessen eingeladen. Sie mochten Lothar gern, er war gesprächig und konnte sehr amüsant sein. Er schien sich sehr für Politik zu interessieren und versuchte manchmal, aus ihnen herauszulocken, was sie über die Universität, über Leipzig, über die Deutsche Demokratische Republik, über Walter Ulbricht, den Ersten Sekretär des Zentralkomitees, und die Planwirtschaft dachten. Er wollte wissen, ob sie der Meinung waren, dass Ulbricht zu sowjetfreundlich sei, und er fragte sie nach ihrer Meinung zu den Ereignissen in Ungarn, wo amerikanische Kapitalisten mit Hilfe von Rundfunksendern antikommunistische Propaganda verbreiteten und auf diese Weise versuchten, einen Keil in die Freundschaft zwischen Ungarn und der Sowjetunion zu treiben. Seiner Meinung nach gingen vor allem junge Menschen dieser Propaganda auf den Leim und waren mit Blindheit geschlagen, was die tatsächlichen Absichten des kapitalistischen Westens betraf.
»Mensch, können wir nicht einfach feiern?«, schlug Karl vor, als Lothar anfing, über Ulbricht zu sprechen, und kippte sich einen Schnaps hinunter. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse und erklärte unter Stöhnen, dass Brennivín ihm noch nie geschmeckt habe.
»Ja, ja, natürlich«, sagte Lothar lachend. »Jetzt reicht’s mit der Politik.«
Er sprach Isländisch und behauptete, es in Deutschland gelernt zu haben. Sie waren der Ansicht, er müsse ein Sprachgenie sein, denn er sprach Isländisch so gut wie fehlerfrei, und man konnte ihn fast für einen Isländer halten, obwohl er noch nie in Island gewesen war. Sie fragten ihn, wie er es geschafft hatte, sich die Sprache so anzueignen, und er sagte, er hätte sehr viele Tonbandaufnahmen von isländischen Radiosendungen gehört. Besonders lustig fanden sie es, wenn er das Wiegenlied Bí, bí og blaka sang.
Úrkoma í grennd, stellenweise Niederschlag, zitierte er aus den Wetternachrichten im isländischen Rundfunk, die ihm endlos vorkamen. Karls Paket hatte zwei Briefe mit den wichtigsten Nachrichten aus Island und Zeitungsausschnitten enthalten. Sie unterhielten sich darüber, und irgendwann fiel jemandem auf, dass Hannes wie gewöhnlich fehlte.
»Ja, Hannes«, sagte Lothar grinsend.
»Er weiß davon, ich hab’s ihm erzählt«, sagte Emíl und leerte sein Schnapsglas.
»Warum tut er so geheimnisvoll?«, fragte Hrafnhildur.
»Ja, geheimnisvoll«, wiederholte Lothar.
»Ich finde das alles sehr komisch«, sagte Emíl. »Er kommt nicht zu den FDJ-Veranstaltungen oder zu den Vorträgen.
Auch bei den freiwilligen Arbeitseinsätzen habe ich ihn nie gesehen. Ist er sich vielleicht zu fein dafür, in den Ruinen herumzubuddeln? Hält er sich vielleicht für was Besseres? Tómas, du hast doch mit ihm gesprochen, oder?«
»Ich glaube, Hannes will einfach so schnell wie möglich sein Studium zu Ende bringen. Es ist sein vorletztes Semester.«
»Es hieß doch immer, dass er eine große Nummer in der Partei werden sollte«, warf Karl ein. »Man hat immer gehört, dass Hannes angeblich solche Führungsqualitäten besitzt. Davon ist hier aber nicht viel zu merken. Ich glaube, ich habe ihn in diesem Semester zwei Mal getroffen, und er hat mich kaum eines Blickes gewürdigt.«
»Ja, man sieht ihn kaum«, sagte Lothar. »Vielleicht bläst er einfach nur Trübsal?«, fügte er dann hinzu, schüttelte den Kopf, nippte am Brennivín und verzog das Gesicht.
Unten öffnete sich die Haustür, und sie hörten schnelle Schritte im Treppenhaus. Zwei Männer und eine Frau erschienen am Ende des dunklen Korridors. Es waren Studenten, die Karl kannte. »Wir haben gehört, dass es hier eine Weihnachtsfeier gibt«, sagte die Frau, als sie in der Küchentür erschienen und die Blicke über die Festtafel schweifen ließen. Von der Lammkeule war noch genug übrig, und die anderen am Tisch rückten zusammen, um für die drei Platz zu machen. Der eine Neuankömmling zog zwei Wodka-Flaschen aus der Tasche, was auf großen Beifall stieß. Sie stellten sich vor. Die beiden jungen Männer waren aus der Tschechoslowakei und sie aus Ungarn.
Das Mädchen setzte sich neben Tómas, dem zumute war, als würden ihm sämtliche Kräfte schwinden. Er hatte versucht, sie nicht anzustarren, als sie aus dem Dunkel ins Helle trat, aber als er sie zum ersten Mal da stehen sah, erfassten ihn Gefühle, von denen er gar nicht wusste, dass er sie empfinden konnte, und er begriff kaum, was in ihm vor sich ging. So etwas war ihm noch nie passiert, er verspürte Freude und Wohlbefinden, aber gleichzeitig auch Schüchternheit. Keine Frau hatte jemals vergleichbare Empfindungen in ihm ausgelöst.
»Bist du auch aus Island?«, fragte sie in gutem Deutsch und wandte sich ihm zu.
»Ja, ich bin aus Island«, stammelte er auf Deutsch, das er inzwischen ziemlich gut beherrschte. Als ihm klar wurde, dass er sie unentwegt anstarrte, seitdem sie sich neben ihn gesetzt hatte, schlug er rasch die Augen nieder.
»Was sind denn das für Scheußlichkeiten?«, fragte sie und deutete auf einen der Schafsköpfe, von dem noch keiner gekostet hatte.
»Ein Schafskopf, der halbiert und über einem Feuer geflammt worden ist«, sagte er und sah, dass sie das Gesicht verzog.
»Wer macht denn so was?«, fragte sie.
»Wir Isländer«, entgegnete er. »Das schmeckt wirklich sehr gut«, fügte er nach leichtem Zögern hinzu. »Die Zunge und das Backenfleisch …« Er verstummte, als ihm klar wurde, dass es nicht sehr appetitlich klang.
»Esst ihr etwa auch die Augen und die Lippen?«, fragte sie, ohne ihren Ekel verbergen zu können.