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»Die Lippen? Ja, die auch. Und die Augen.«

»Da müsst ihr wohl immer wenig zu essen gehabt haben, wenn ihr euch so etwas zu Gemüte führt.«

»Island war ein sehr armes Land«, sagte er und nickte bestätigend.

»Ich heiße Ilona«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. Sie gaben sich die Hand, und er sagte, dass er Tómas heiße.

Einer von den beiden, die mit ihr gekommen waren, rief ihr etwas zu. Vor ihm stand bereits ein Teller voll geräuchertem Lammfleisch und Kartoffeln, vor seinem Freund ebenfalls. Er ermunterte sie, sich auch etwas davon zu nehmen, es sei sehr gut. Sie stand auf, holte sich einen Teller und schnitt eine Scheibe von der Lammkeule ab.

»Wir kriegen hier viel zu wenig Fleisch«, sagte sie.

»Genau«, sagte er, um etwas zu sagen.

»Mmmh, das schmeckt aber lecker«, sagte sie mit vollem Mund.

»Besser als Schafsaugen«, sagte er.

Sie feierten bis in den frühen Morgen. Später kamen noch weitere Studenten hinzu, und das Haus füllte sich. Ein alter Plattenspieler wurde hervorgekramt, und irgendwer legte eine Platte von Frank Sinatra auf. Als die Nacht schon fortgeschritten war, sangen die Vertreter der Nationen abwechselnd patriotische Lieder. Karl und Emíl trugen ein melancholisches Lied von Jónas Hallgrímsson vor, beide standen stark unter dem Einfluss der hochprozentigen Sendung aus Island. Dann machten die Tschechen weiter, die Schweden und schließlich auch die Deutschen und ein Student aus Senegal, der sich nach heißen afrikanischen Nächten sehnte. Hrafnhildur wollte auf einmal wissen, was in jeder dieser Sprachen die schönsten Dichterworte waren, was einige Meinungsverschiedenheiten hervorrief, bis man sich untereinander einigte und ein Vertreter jeder Nation aufstand und das Schönste vortrug, was in seiner Sprache gedichtet worden war. Die Isländer waren sich sofort einig. Hrafnhildur stand auf und trug das Gedicht vor. Das Schönste, was je in isländischer Sprache geschrieben worden war, stammte von Jónas Hallgrímsson.

Den Liebesstern Unter Lavazinnen Verhüllen nächtliche Wolken. Einst lacht’ am Himmel. Traurig sehnt sich Ein Jüngling im tiefen Tale.

Sie deklamierte voller Pathos, und obwohl die wenigsten der Zuhörer Isländisch verstanden, verstummten alle für einen Augenblick, bevor der Beifall losbrach und Hrafnhildur sich tief verneigte.

Ilona und er saßen immer noch zusammen am Tisch, und sie schaute ihn fragend an. Er erzählte ihr von dem jungen Mann in dem Gedicht, der an eine lange Reise durch Islands Einöden zurückdenkt, zusammen mit dem Mädchen, das er liebte. Er wusste, dass ihre Liebe nie Erfüllung finden würde, und mit diesen traurigen Gedanken kehrte er tief betrübt zurück in sein Tal. Hoch über ihm glänzte der Stern der Liebe, der ihm zuvor den Weg gewiesen hatte, aber jetzt hinter einer Wolke verschwunden war, und er dachte daran, dass ihre Liebe ewig währen würde, auch wenn sie keine Erfüllung fand.

Sie schaute ihn an, während er sprach, und ob es nun wegen dieser Geschichte von dem traurigen Jüngling war oder wegen des isländischen Brennivíns, sie küsste ihn jedenfalls plötzlich direkt und so weich auf den Mund, dass er sich wie ein kleiner Junge fühlte.

Rut kehrte nach den Weihnachtsferien nicht wieder nach Leipzig zurück. Sie schrieb Briefe an alle ihre Freunde, und in ihrem Brief an ihn schrieb sie von den schlechten Zuständen und ein paar anderen Dingen, und er begriff, dass sie genug gehabt hatte. Oder vielleicht war ihr Heimweh so stark gewesen. Sie sprachen in der Küche des Wohnheims darüber. Karl sagte, sie würde ihm fehlen, und Emíl nickte zustimmend. Hrafnhildur hingegen erklärte, Rut sei verweichlicht.

Als er Hannes das nächste Mal traf, fragte er ihn, weshalb er nicht ins Wohnheim gekommen war, um mit ihnen zu feiern. Er sprach ihn nach einer Seminarsitzung in Baustatik an, an der auch Hannes teilgenommen hatte. Die Sitzung war an dem Tag anders als sonst verlaufen. Zwanzig Minuten nach Beginn der Stunde öffnete sich die Tür, und drei Studenten marschierten herein, die sich als FDJ-Funktionäre ausgaben und ums Wort baten. Bei ihnen war auch ein Student, den er manchmal in der Bibliothek gesehen hatte. Er glaubte, dass er Germanistik studierte.

Der Student hielt die Augen gesenkt. Der Anführer sagte, er sei Schriftführer in der FDJ, und er fing an, über Solidarität unter den Studenten zu reden, indem er sich über die vier verschiedenen Aspekte des Studiums ausließ: den Studierenden die marxistische Lehre nahe zu bringen, sie zu verantwortungsbewussten Mitgestaltern der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu erziehen, sie in die sozialistische Gemeinschaftsarbeit zu integrieren, die von jungen Kommunisten organisiert wurde, und eine Schicht von Akademikern heranzuziehen, die später zu bestens ausgebildeten Spezialisten würden. Danach wandte er sich dem Studenten zu und berichtete, dass dieser gestanden habe, Westsender zu hören. Der Student blickte hoch, trat einen Schritt vor, gestand seine sträfliche Handlungsweise und gelobte, es nie wieder zu tun. Diese Sender seien vom imperialistischen Profitdenken des kapitalistischen Wirtschaftssystems infiltriert. Er forderte alle Seminarteilnehmer dazu auf, in Zukunft nur noch Ostsender zu hören.

Der Schriftführer dankte ihm für seine Worte und bat alle Seminarteilnehmer, sich ihm anzuschließen und zu schwören, dass keiner von ihnen jemals mehr einen westlichen Sender einschalten werde. Die Seminarteilnehmer gelobten das feierlich, anschließend wandte sich der Anführer an den Dozenten und entschuldigte sich für die Störung, und das Trüppchen marschierte wieder aus dem Hörsaal.

Als Hannes, der zwei Reihen vor ihm saß, sich zu ihm umdrehte, standen ihm Erschütterung und Wut ins Gesicht geschrieben.

Nach der Seminarstunde war Hannes vor ihm aus dem Hörsaal gestürmt. Er rannte hinter ihm her, packte ihn am Ärmel und fragte hastig, ob etwas nicht in Ordnung sei.

»In Ordnung?«, wiederholte Hannes. »Fandest du das in Ordnung, was sich da vorhin abgespielt hat? Hast du den armen Kerl gesehen?«

»Da vorhin«, sagte er, »nein, ich … trotzdem, es muss doch irgendwie … wir müssen …«

»Lass mich in Ruhe«, unterbrach Hannes ihn. »Lass mich bloß in Ruhe.«

»Warum bist du nicht zum Weihnachtsessen gekommen? Die anderen glauben, dass du dich für was Besseres hältst.«

»Das ist totaler Quatsch«, sagte Hannes und beschleunigte seine Schritte, um ihn loszuwerden.

»Was ist los?«, fragte er. »Warum benimmst du dich so? Was ist passiert? Was haben wir dir getan?« Hannes blieb stehen.

»Nichts, ihr habt mir nichts getan«, antwortete er. »Ich will bloß in Ruhe gelassen werden. Ich bin im Frühjahr mit dem Studium fertig und basta. Weiter nichts. Dann gehe ich zurück nach Island, dann ist das alles hier vorbei. Dieses ganze Theater. Merkst du denn wirklich nichts? Hast du nicht gesehen, wie sie mit dem armen Jungen umgesprungen sind? Du möchtest womöglich, dass es in Island auch so wird?!« Damit stiefelte er weiter.

»Tómas«, hörte er jemanden hinter sich rufen. Er drehte sich um und sah, dass Ilona ihm zuwinkte. Er lächelte sie strahlend an. Sie hatten sich nach dem Seminar verabredet. Am Tag nach der isländischen Weihnachtsfeier war sie ins Wohnheim gekommen und hatte nach ihm gefragt. Seitdem trafen sie sich regelmäßig. An diesem Tag machten sie einen langen Spaziergang durch die Altstadt und setzten sich bei der Thomaskirche auf eine Bank. Er erzählte ihr von den beiden isländischen Dichtern, die Freunde gewesen und einmal hier durch die Stadt gegangen waren und genau da gesessen hatten, wo sie jetzt saßen. Der eine war an Tuberkulose gestorben. Der andere war der berühmteste Schriftsteller Islands.

»Du bist immer so traurig, wenn du von deinen Isländern erzählst«, sagte sie lächelnd.