»Es fasziniert mich einfach, dass die beiden durch die gleichen Straßen und Gassen hier in dieser Stadt gegangen sind wie ich. Zwei isländische Dichter.« Er hatte bei der Kirche bemerkt, dass sie unruhig war und irgendwie auf der Hut zu sein schien. Sie blickte sich ständig suchend um.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte er.
»Da steht ein Mann …« Sie verstummte.
»Was für ein Mann?«
»Der Mann da hinten«, sagte Ilona. »Nicht hinschauen, nicht den Kopf drehen. Ich habe ihn auch gestern schon gesehen, ich weiß bloß nicht mehr, wo.«
»Was ist das für ein Mann? Kennst du ihn?«
»Ich habe ihn nie zuvor gesehen, aber jetzt plötzlich zwei Mal in zwei Tagen.«
»Studiert er an der Universität?«
»Nein, ich glaube nicht. Er ist älter.«
»Was meinst du damit?«
»Nichts, gar nichts«, sagte Ilona.
»Glaubst du, dass er dich beschattet?«
»Nein, es ist nichts. Komm, lass uns gehen.« Ilona wohnte nicht in der Nähe der Universität, sondern hatte in der Stadt ein Zimmer gemietet. Dorthin gingen sie. Er versuchte festzustellen, ob der Mann von der Thomaskirche sie verfolgte, aber er sah ihn nirgends.
Das Zimmer war in der kleinen Wohnung einer Witwe, die in einer Druckerei arbeitete. Ilona hatte gesagt, dass ihre Vermieterin sehr nett war und sie auch die Wohnung mitbenutzen durfte. Die Frau hatte ihren Mann und zwei Söhne im Krieg verloren. Er sah Fotos von ihnen an der Wand. Die Söhne trugen die Uniform der deutschen Wehrmacht.
In Ilonas Zimmer lagen stapelweise Bücher und ungarische und deutsche Zeitungen und Zeitschriften herum.
Eine klapprige Schreibmaschine stand auf dem Schreibtisch neben dem Bett.
Während sie in die Küche ging, nahm er ein paar von ihren Büchern zur Hand und schlug einige Tasten auf der Schreibmaschine an. An der Wand über dem Bett waren Fotos von Menschen, von denen er annahm, dass es ihre Angehörigen waren.
Ilona kam mit zwei Tassen Tee zurück und schob die Tür mit der Ferse zu. Sie stellte die Tassen, die offensichtlich brühheiß waren, vorsichtig neben die Schreibmaschine.
»Er hat die richtige Temperatur, wenn wir fertig sind«, sagte sie, ging zu ihm und küsste ihn. Zuerst war er ein wenig überrascht, aber dann nahm er sie in seine Arme und küsste sie heftig, bis sie auf das Bett sanken und sie anfing, ihm den Pullover auszuziehen und die Hose aufzuknöpfen. Er war unglaublich unerfahren. Er hatte zwar schon mit Mädchen geschlafen, einmal nach der Abiturfeier und einmal nach dem Betriebsfest des Parteiorgans, aber das waren ziemlich ungelenke Annäherungen an das weibliche Geschlecht gewesen. Er war nicht besonders geschickt, aber sie schien es umso mehr zu sein, und er war sehr froh, dass sie sanft bestimmte, wo es langging.
Sie hatte Recht gehabt. Als sie ein lang gezogenes Stöhnen der Wonne unterdrückte und er neben ihr niedersank, hatte der Tee genau die richtige Temperatur bekommen.
Zwei Tage später in Auerbachs Keller wollte sie über nichts anderes als Politik reden, und sie stritten sich zum ersten und einzigen Mal. Sie fing an, über die russische Revolution zu reden und über die Diktatur, die sich daraus entwickelt hatte. Diktaturen waren ihrer Meinung nach immer gefährlich, in welcher Form sie sich auch präsentierten.
Er wollte nicht mit ihr streiten, obwohl er ganz genau wusste, dass sie Unrecht hatte.
»Die Nazis konnten nur besiegt werden, weil Stalin den Aufbau der Industrie so vorangetrieben hatte«, gab er zu bedenken.
»Er hat auch mit Hitler paktiert«, sagte sie. »Eine Diktatur erzeugt Furcht und sklavische Unterwürfigkeit. Das bekommen wir jetzt deutlich in Ungarn zu spüren. Wir sind keine freie Nation mehr. Sie haben systematisch einen kommunistischen Staat unter sowjetischer Kontrolle aufgebaut. Niemand hat uns gefragt, uns, das Volk. Niemand hat gefragt, was wir wollten. Wir möchten selbst über unser Leben bestimmen, aber können es nicht. Junge Leute werden eingesperrt. Einige verschwinden spurlos. Man sagt, dass sie in die Sowjetunion deportiert werden. Ihr habt doch da auch eine Militärmacht in eurem Land. Wie würdest du es finden, wenn sie bei euch alles kraft ihrer Waffengewalt bestimmen würden?«
Er schüttelte den Kopf.
»Guck dir doch bloß die Wahlen hier an«, sagte sie. »Angeblich sind das freie Wahlen, aber es gibt letzten Endes nur eine Partei. Was ist daran frei? Wenn du anderer Meinung bist, kommst du ins Gefängnis. Was ist das? Soll das vielleicht Sozialismus sein? Und selbst wenn die Menschen bei diesen so genannten freien Wahlen was anderes wählen können, stünde das Ergebnis nicht vorher schon fest? Und wer erinnert sich nicht an das, was vor zwei Jahren passierte, als die sowjetischen Panzer hier anrollten und den Volksaufstand niederschlugen? Als sie auf die Menschen auf der Straße geschossen haben — auf Menschen, die etwas verändern wollten?«
»Ilona.«
»Und dann diese gegenseitige Kontrolle«, fuhr Ilona fort, die sich in Rage geredet hatte. »Sie behaupten, dass es zu unserem Nutzen wäre. Wir sollen unsere Freunde und die Familie aushorchen, ob sie antisozialistische Anschauungen haben. Wenn du von einem deiner Kommilitonen weißt, dass er westliche Sender hört, sollst du es melden, und dann wird er von Seminar zu Seminar geschleift, um sein Verbrechen zu gestehen. Kinder werden aufgefordert, ihre Eltern anzuzeigen.«
»Die Partei braucht Zeit, um sich zu etablieren«, sagte er.
Als der Leipzig-Aufenthalt den Reiz des Neuen verloren hatte und die isländischen Studenten gezwungen waren, der Realität ins Auge zu sehen, hatten sie untereinander darüber diskutiert. Er hatte sich seine eigene Meinung über die überwachte Gesellschaft gebildet, über die gegenseitige Kontrolle, die darin bestand, dass sämtliche Staatsbürger sich gegenseitig bespitzelten und antisozialistische Ansichten und Verhaltensweisen meldeten. Auch über die totalitären Ansprüche der SED, das Verbot von Presse- und Meinungsfreiheit, die Pflicht, an Parteiveranstaltungen und Aufmärschen teilzunehmen. Er war der Meinung, dass die Partei im Hinblick auf die Methoden, die verwendet wurden, nichts beschönigen, sondern offen eingestehen sollte, dass in Zeiten des Umbruchs bestimmte Methoden erforderlich waren, um das Ziel zu erreichen, den Aufbau eines sozialistischen Staates. Die Methoden waren zu rechtfertigen, solange sie nur übergangsweise verwendet wurden.
Später, wenn die Menschen eingesehen hätten, dass der Sozialismus die beste aller Gesellschaftsformen sei, würde man solche Methoden nicht mehr brauchen.
»Die Leute haben Angst«, sagte Ilona.
Er schüttelte den Kopf, und sie stritten sich. Er wusste nur sehr wenig darüber, was in Ungarn passierte, und sie war verletzt, dass er ihre Worte in Zweifel zog. Er hatte ihr gegenüber nur dieselben Argumente zur Hand, die er auf den politischen Versammlungen in Island gehört und in den Schriften von Marx und Engels gelesen hatte, aber alles war vergeblich. Sie schaute ihn nur an und wiederholte immer wieder: »Du darfst deine Augen nicht davor verschließen.«
»Ihr lasst euch von der Propaganda der westlichen Imperialisten gegen die Sowjetunion beeinflussen«, sagte er. »Sie wollen die Solidarität unter den kommunistischen Staaten untergraben, weil sie Angst davor haben.«
»Das stimmt nicht«, sagte sie.
Sie schwiegen. Die Biergläser waren leer. Er war wütend auf Ilona. Nur in der reaktionären Presse in Island hatte er solche Äußerungen über die Sowjetunion und die Ostblockstaaten bisher gelesen. Er wusste von der starken Propagandamaschinerie der Westmächte, weil sie in Island hervorragend funktionierte, und für ihn stellte es sich so dar, dass unter anderem ihretwegen die Presse- und Meinungsfreiheit in den osteuropäischen Ländern eingeschränkt werden musste. Er fand das verständlich, solange man nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Aufbau von sozialistischen Staaten beschäftigt war. Seiner Meinung nach ging es nicht darum, die freie Meinungsäußerung zu unterdrücken.