»Wir dürfen uns nicht streiten«, sagte sie.
»Nein«, sagte er und legte Geld auf den Tisch. »Gehen wir.«
Auf dem Weg nach oben puffte Ilona ihn leicht mit dem Ellbogen, und er sah sie an. Sie versuchte ihm mit ihrem Mienenspiel etwas zu sagen und nickte leicht in Richtung des Tresens.
»Da ist er wieder«, flüsterte sie.
Er blickte in die Richtung und erkannte den Mann, von dem Ilona glaubte, dass er sie beschattete. Er saß im Mantel da, schlürfte Bier und tat so, als sähe er sie nicht. Aber es war derselbe Mann wie vor der Thomaskirche.
»Ich knöpf mir diesen Kerl jetzt vor«, sagte er.
»Nein«, sagte Ilona. »Tu das nicht. Lass uns gehen.« Einige Tage später sah er Hannes an seinem Arbeitsplatz in der Unibibliothek und setzte sich zu ihm. Hannes blickte nicht hoch, sondern machte sich weiter Notizen in seinem Schreibblock.
»Ärgert dich das, was sie sagt?«, fragte Hannes, der immer noch in seinen Block schrieb.
»Wer?«
»Ilona.«
»Kennst du Ilona?«
»Ich weiß, wer sie ist«, sagte Hannes und blickte hoch. Er trug einen dicken Schal und Fingerlinge.
»Du weißt von uns?«, fragte er.
»Hier erfährt man alles«, sagte Hannes. »Ilona stammt aus Ungarn, deswegen ist sie nicht ganz so naiv wie wir.«
»So naiv wie wir?«
»Vergiss es«, sagte Hannes und vergrub sich wieder in seine Notizen.
Er streckte seine Hand nach dem Schreibblock aus und riss ihn an sich. Hannes blickte erstaunt hoch und versuchte, seinen Block wiederzubekommen, aber vergeblich.
»Was ist denn los?«, fragte er. »Was soll denn das?« Hannes Blicke wanderten von dem Block in der ausgestreckten Hand zu ihm.
»Ich will mich nicht in das einmischen, was hierzulande geschieht. Ich möchte nur wieder nach Hause und das alles vergessen«, sagte Hannes. »Das hier ist ein einziger Krampf. Ich war noch nicht einmal so lange hier wie du, als ich es überhatte.«
»Aber du bist immer noch hier.«
»Die Universität ist in Ordnung. Und ich habe meine Zeit gebraucht, um die Lüge zu durchschauen.«
»Was ist es denn eigentlich, das ich nicht kapiere?«, fragte er und fürchtete sich vor der Antwort. »Was hast du durchschaut? Was geht hier an mir vorbei?« Hannes sah ihm in die Augen, ließ dann seine Blicke durch die Bibliothek schweifen, bis sie wieder an seinem Block in der ausgestreckten Hand hängen blieben.
»Mach lieber einfach weiter«, sagte er. »Halt dich an deine Überzeugung. Lass dich nicht vom Kurs abbringen. Glaub mir, das bringt nichts. Solange du dich dabei wohl fühlst, ist doch alles in Ordnung. Bloß nicht nach etwas suchen.
Du hast keine Ahnung, was du finden könntest.«
Hannes streckte die Hand nach seinem Block aus.
»Glaub mir«, sagte er. »Vergiss es.«
Er reichte ihm den Block.
»Und Ilona?«, sagte er.
»Vergiss sie ebenfalls«, sagte Hannes.
»Was meinst du damit?«
»Nichts.«
»Weshalb sagst du das?«
»Lass mich in Ruhe«, sagte Hannes. »Lass mich bloß in Ruhe.«
Drei Tage später waren sie in einem Waldgebiet in der Umgebung von Leipzig. Emíl und er waren der »Gesellschaft für Sport und Technik« beigetreten. Es war angeblich ein vielseitiger Sportverband, der unter anderem Reiten und Motorsport anbot. Den Studierenden wurden nahe gelegt, sich gesellschaftspolitisch zu engagieren und an den freiwilligen Arbeitseinsätzen teilzunehmen, die von der FDJ organisiert wurden. Sie bestanden aus einer Woche Erntearbeit im Herbst, außerdem gab es die Trümmersäuberung, einen Tag pro Semester oder in den Semesterferien, es gab die Einsätze in Produktionsbetrieben und im Braunkohlenabbau, und alles, was sonst noch so anfiel. Allen war es freigestellt, ob sie sich zum Arbeitseinsatz meldeten, aber wer es nicht freiwillig tat, musste mit einer Strafe rechnen.
Er dachte über dieses System nach, als er zusammen mit Emíl und anderen Kommilitonen aus der Stadt hinausfuhr.
Ihnen stand eine Woche Zeltlager bevor, und es hatte sich herausgestellt, dass die Zeit zum größten Teil für militärische Übungen verplant war.
So war das Leben in Leipzig. Nur wenig war genau das, was es nach außen hin zu sein schien. Die ausländischen Studierenden wurden kontrolliert und mussten darauf achten, offiziell nichts verlauten zu lassen, was die Gastgeber beleidigen konnte. Auf den Pflichtveranstaltungen wurden ihnen sozialistische Werte eingehämmert, und die freiwilligen Arbeitseinsätze waren nur dem Namen nach freiwillig. An all das gewöhnten sie sich mit der Zeit, und wenn sie davon sprachen, waren sie sich einig darüber, was für ein Krampf das Ganze war. Er war fest davon überzeugt, dass es sich nur um einen vorübergehenden Zustand handelte.
Von den anderen waren einige nicht so optimistisch. Er musste innerlich lachen, als sich herausstellte, dass die »Gesellschaft für Sport und Technik« letzten Endes nur ein paramilitärischer Verband war. Emíl allerdings nahm das alles sehr ernst, und im Gegensatz zu den anderen sprach er nie über »den Krampf«. Er fand nichts an Leipzig komisch. Am ersten Abend lagen sie mit ihren Kameraden im Zelt. Emíl hatte den ganzen Abend enthusiastisch und leidenschaftlich über einen sozialistischen Staat auf Island gesprochen.
»Diese ganze ungerechte Verteilung in einem so winzigen Land, wo alle ganz leicht gleichgestellt sein könnten«, sagte er. »Ich will das ändern.«
»Würdest du einen sozialistischen Staat wie diesen hier wollen?«
»Warum nicht?«
»Mit allem, was damit verbunden ist? Die Personenkontrolle? Diese Hysterie? Die Einschränkung der Meinungsfreiheit? Diesen ganzen Krampf?«
»Sie hat also Erfolg bei dir gehabt?«
»Wer hat Erfolg bei mir gehabt?«
»Ilona!«
»Was meinst du denn damit, dass sie Erfolg bei mir gehabt hat?«
»Nichts.«
»Kennst du Ilona?«
»Überhaupt nicht«, sagte Emíl.
»Du bist doch selber hinter den Mädchen her. Hrafnhildur hat mir von einer aus dem« Roten Kloster »erzählt.«
»Zwischen uns ist gar nichts«, sagte Emíl.
»Ach nee!«
»Vielleicht erzählst du mir ja irgendwann mal mehr über diese Ilona«, sagte Emíl.
»Sie ist nicht so überzeugt wie wir. Sie findet Verschiedenes an diesem System verkehrt und will das ändern. Es ist hier genau dasselbe wie in Ungarn, mit dem einen Unterschied, dass die jungen Leute dort etwas unternehmen wollen. Gegen diesen Krampf angehen wollen.«
»Was soll das denn mit diesem« Krampf »?«, stieß Emíl hervor. »So ein verdammter Quatsch! Guck dir doch die Situation in Island an. Die Leute hausen frierend in den amerikanischen Militärbaracken, die Kinder hungern, und die Eltern haben kaum das Geld, um ihnen was Anständiges zum Anziehen zu kaufen. Unterdessen wird die speckfette Elite immer reicher und dicker. Ist das vielleicht nicht genauso gut ein ›Krampf‹? Was wäre dabei, wenn man zeitweilig die Leute überwachen und die Meinungsfreiheit einschränken müsste? Es geht darum, die Ungerechtigkeit abzuschaffen. Das kann Opfer fordern. Was ist schon dabei?«
Sie verstummten. Stille hatte sich über das Zeltlager gesenkt, und draußen war es stockfinster.
»Ich wäre zu allem bereit für eine isländische Revolution«, sagte Emíl. »Zu allem, um die Ungerechtigkeit aus der Welt zu räumen.«
Er stand am Fenster und blickte auf die Sonnenstrahlen, die durch die Wolken brachen, und einen fernen Regenbogen.
Beim Gedanken an den Sportverband musste er innerlich lächeln. Das Bild von Ilona erschien vor seinem inneren Auge, wie sie bei der Weihnachtsfeier in schallendes Gelächter ausbrach, und er dachte an den weichen Kuss, den er immer noch auf seinen Lippen spürte, an den Stern der Liebe und den traurigen Jüngling im Tale.
Vierzehn
Die Mitarbeiter des Außenministeriums waren sehr entgegenkommend und gern bereit, der Kriminalpolizei behilflich zu sein. Elínborg und Sigurður Óli hatten einen Termin bei einem Abteilungsleiter bekommen, einem überaus beflissenen Mann in Sigurður Ólis Alter. Die beiden kannten sich auch aus ihrer Studienzeit in Amerika und tauschten als Erstes ein paar gemeinsame Erinnerungen aus. Der Abteilungsleiter erklärte, dass die Anfrage der Kriminalpolizei einiges Erstaunen im Außenministerium hervorgerufen hatte, und wollte in Erfahrung bringen, wofür sie Informationen über frühere Angehörige der ausländischen Botschaften in Reykjavik brauchten. Sie schwiegen sich aus. »Eine reine Routineuntersuchung«, erklärte Elínborg lächelnd.