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Es waren einige Wochen vergangen, seitdem die Hydrologin vom Energieinstitut auf das Skelett gestoßen war. Der ungewöhnlich sonnige und warme Juni war bereits fortgeschritten. Nach der schweren Düsternis des Winters herrschte jetzt eine entspanntere Atmosphäre in der Stadt, die Leute waren sommerlich gekleidet und wirkten unbeschwerter. Die Cafés hatten nach ausländischem Vorbild Tische und Stühle auf die Straße gestellt, und die Leute saßen in der Sonne und tranken Bier. Sigurður Óli hatte Urlaub genommen und nutzte jede Gelegenheit, um draußen zu grillen. Er hatte Elínborg und Erlendur zu einer Grillparty eingeladen. Erlendur hatte keine große Lust.

Eva Lind, die inzwischen wahrscheinlich aus der Therapie entlassen worden war, hatte nichts von sich hören lassen.

Er ging zumindest davon aus, dass sie es bis zum Schluss durchgehalten hatte. Sindri Snær hatte sich ebenfalls nicht mehr gemeldet.

Ómar hörte sich gern reden, vor allem, wenn es um seine eigene Person ging. Erlendur versuchte gleich zu Anfang, den Redefluss einzudämmen.

»Wie ich dir am Telefon sagte …«, begann Erlendur.

»Ja, ja, genau, ich habe das alles in den Nachrichten gesehen, über die Knochen im Kleifarvatn. Ihr glaubt also, dass es sich um einen Mord handelt und …«

»Ja«, unterbrach Erlendur ihn, »aber das, was in den Nachrichten nicht gesagt wurde, wovon niemand weiß und was du absolut für dich behalten musst, ist die Tatsache, dass das Skelett an ein russisches Abhörgerät aus den sechziger Jahren angebunden war. An dem Gerät hat man herumgefeilt, um die Kennziffer und Herkunft unkenntlich zu machen, aber es steht eindeutig fest, dass es aus der Sowjetunion stammt.«

Ómar blickte abwechselnd Erlendur und Elínborg an, und sie konnten regelrecht beobachten, wie sein Interesse mehr und mehr zunahm, während er diese Informationen verdaute. Es hatte auf einmal aber auch den Anschein, als sei er auf der Hut, denn er setzte seine gewohnte Amtsmiene von früher auf.

»Und wie kann ich euch in dieser Angelegenheit behilflich sein?«, fragte er.

»Wir beschäftigen uns derzeit vor allem mit der Frage, ob hier auf Island in diesen Jahren in irgendeiner Form Spionage betrieben wurde und wie wahrscheinlich es ist, dass es sich bei dem Toten um einen Isländer handelt oder es ein Angehöriger einer ausländischen Botschaft war.«

»Ihr untersucht also die Vermisstenmeldungen aus dieser Zeit?«, fragte Ómar.

»Ja«, entgegnete Elínborg. »Aber keine davon lässt sich mit dem russischen Abhörgerät in Verbindung bringen.«

»Ich bin nicht der Meinung, dass Isländer ernsthaft Spionage betrieben haben«, sagte Ómar nach längerem Überlegen, und sowohl Erlendur als auch Elínborg hatten das Gefühl, dass er seine Worte gründlich abwägte. »Wir wissen von Fällen, in denen man versucht hat, sie dazu zu bewegen, sowohl seitens der Ostblockstaaten als auch seitens der NATO-Länder, und wir wissen natürlich, dass in den Ländern um uns herum Spionage betrieben wurde.«

»Du meinst, in den anderen nordischen Ländern?«, fragte Erlendur.

»Ja«, erwiderte Ómar. »Aber die Sache hat einen Haken.

Falls tatsächlich Isländer für die eine oder die andere Seite spioniert haben, wissen wir nichts darüber, ob dies von Erfolg gekrönt war. Es ist nämlich niemals ein Fall von isländischer Spionage aufgedeckt worden.«

»Fällt dir eine plausible Erklärung dafür ein, dass dieses russische Abhörgerät da bei den Knochen gefunden wurde?«

»Selbstverständlich«, sagte Ómar. »Das Ganze muss ja nicht unbedingt etwas mit Spionage zu tun haben. Aber trotzdem ist diese Schlussfolgerung vermutlich korrekt. Es ist keineswegs unwahrscheinlich, dass ein solch ungewöhnlicher Skelettfund in irgendeiner Form mit den Vertretungen der ehemaligen Ostblockstaaten in Verbindung steht.«

»Könnte es einen solchen Spion möglicherweise im Außenministerium gegeben haben?«, fragte Erlendur.

»Meines Wissens ist kein Mitarbeiter des Ministeriums spurlos verschwunden«, erklärte Ómar lächelnd.

»Es geht mir darum, zu wissen, wo es am aussichtsreichsten für die Russen gewesen wäre, einen Agenten zu haben.«

»Wahrscheinlich an allen möglichen Stellen im Regierungs­apparat«, sagte Ómar. »Hier sind die Strukturen sehr eng, die Leute kennen sich untereinander gut und haben so gut wie keine Geheimnisse voreinander. Die Verbindungen zu den amerikanischen Streitkräften liefen zumeist über uns im Außenministerium, sodass es also erstrebenswert gewesen sein könnte, dort einen Mann zu haben. Allerdings könnte ich mir vorstellen, dass es für ausländische Agenten oder Botschafts­angehörige vollkommen ausgereicht hätte, die isländischen Zeitungen zu lesen, und das haben sie natürlich auch getan. Da hat ja alles dringestanden. In einer so offenen demokratischen Gesellschaft wie der unseren gibt es immer wieder heftige öffentliche Diskussionen, und es ist schwierig, Dinge unter den Teppich zu kehren.«

»Und außerdem sind da wohl noch die Cocktailempfänge«, sagte Erlendur.

»Ja, die sollte man vielleicht nicht unterschätzen. Die ausländischen Vertretungen hatten ein Händchen dafür, Gästelisten mit einflussreichen Personen zusammenzustellen.

Weil wir nur so wenige sind, kennt hier jeder jeden, und alle sind miteinander verwandt. Das hat man sich sicherlich zunutze gemacht.«

»Hattet ihr nie das Gefühl, dass es undichte Stellen im System gab?«, fragte Erlendur.

»Nicht, dass ich wüsste«, sagte Ómar. »Und falls hier tatsächlich in irgendeiner Form Spionage betrieben worden wäre, müsste dies inzwischen doch ans Licht gekommen sein, nachdem das sowjetische System zusammengebrochen ist und die Geheimdienste in der Form, wie sie damals in den Ostblockstaaten üblich waren, aufgelöst worden sind. Ehemalige Agenten haben auch fleißig Autobiographien veröffentlicht, aber Island wird darin nirgends erwähnt. Die Archive in diesen Ländern wurden zum größten Teil zugänglich gemacht, und die Leute konnten an die Akten heran, die über sie existierten. In den ehemals kommunistischen Ländern wurden die Bürger in unvorstellbarem Ausmaß bespitzelt, und viele von diesen Informationen wurden vernichtet, bevor die Mauer fiel. Sie wanderten in den Reißwolf.«

»Nach dem Fall der Mauer hat man einige Spione in den westlichen Ländern enttarnen können«, warf Elínborg ein.

»Gewiss«, sagte Ómar. »Ich könnte mir sogar vorstellen, dass das gesamte Spionagesystem über den Haufen geworfen wurde.«

»Aber es wurden nicht alle Archive geöffnet«, sagte Erlendur. »Es liegt keineswegs alles offen zutage.«

»Nein, selbstverständlich nicht, es gibt in diesen Ländern genau wie hier bei uns immer noch Staatsgeheimnisse. Im Übrigen bin ich kein Experte in Sachen Spionage, weder im Ausland noch hierzulande. Ich weiß vermutlich kaum mehr darüber als ihr. Mir ist das Thema Spionage in Island immer ziemlich lächerlich vorgekommen. Das ist so abwegig, so weit entfernt von unserer Realität.«

»Kannst du dich daran erinnern, wie die Froschmänner seinerzeit diese Apparate im Kleifarvatn gefunden haben?«, erkundigte sich Erlendur. »Das war zwar an einer ganz anderen Stelle im See, aber diese Apparate, die damals gefunden wurden und von denen nun ein weiterer aufgetaucht ist, stellen doch offensichtlich eine Verbindung zwischen den beiden Fällen her.«

»Daran kann ich mich sehr gut erinnern«, sagte Ómar. »Die Russen haben natürlich alles abgestritten, genau wie die anderen Vertretungen aus den Ostblockstaaten. Niemand wollte etwas von diesen Geräten gewusst haben. Wenn ich mich recht erinnere, mutmaßte man, dass dort schlicht und ergreifend veraltete Abhörgeräte und Funkapparate entsorgt worden waren. Es hätte sich nicht gelohnt, das Zeug wieder mit dem Kurier zurückzuschicken. Zur Mülldeponie konnte man das Zeug nicht einfach bringen, deswegen …«

»Deswegen hat man versucht, sie im Wasser zu verstecken.«

»So ungefähr stelle ich mir den Hergang der Dinge vor, aber wie gesagt, ich bin kein Experte. Die Apparate ließen erkennen, dass sie zu Spionagezwecken verwendet worden waren, das stand außer Zweifel. Und das hat auch niemanden überrascht.«