»Nein, mich geht es selbstverständlich nichts an, aber dich geht es etwas an, oder? Geht es dich nichts an, dass du zwei Kinder hast?«
Erlendur verdrängte diese Erinnerung wieder, als er sich Marian gegenüber auf das Sofa setzte. Es hatte seine Gründe, weshalb Erlendur, der unter Marian Briem bei der Kriminalpolizei angefangen hatte, den ehemaligen Boss schwer erträglich fand. Er ging davon aus, dass aus dem gleichen Grund nur wenige andere jetzt zu einem Krankenbesuch kamen. Marian war nicht der Typ, der schnell Freundschaften schloss, das Gegenteil war eher der Fall. Sogar Erlendur, der sich zumindest hin und wieder blicken ließ, war im Grunde genommen kein Freund.
Marian sah Erlendur an und setzte die Sauerstoffmaske auf. Einige Zeit verging, ohne dass ein Wort fiel. Endlich nahm Marian die Maske herunter. Erlendur räusperte sich. »Wie geht es dir?«, fragte er.
»Ich fühl mich ungeheuer schlapp«, war die Antwort. »Dauernd nicke ich ein. Vielleicht kommt das vom Sauerstoff.«
»Wahrscheinlich zu gesund für dich«, sagte Erlendur.
»Wieso treibst du dich ständig hier bei mir herum?«, fragte Marian mit schwacher Stimme.
»Ich weiß es nicht«, sagte Erlendur. »Wie war der Western?«
»Den solltest du dir mal ansehen. Es geht um Starrsinn. Kommst du vorwärts mit dem Kleifarvatn-Fall?«
»Es geht.«
»Den Falcon-Mann, hast du den gefunden?«
Erlendur schüttelte den Kopf und erklärte, dass er das Auto gefunden hatte. Die gegenwärtige Besitzerin sei eine Witwe, die sich nicht mit dem Auto auskannte und den Wagen verkaufen wollte. Er erzählte Marian, dass dieser Leopold ein äußerst mysteriöser Mann gewesen war. Sogar seine Verlobte hatte kaum etwas über ihn gewusst. Es existierte kein Foto von ihm, und offiziell wurde er nirgends geführt. Es war, als hätte es ihn nie gegeben, als sei er nur der Fantasie der Frau entsprungen, die in dem Milchgeschäft arbeitete.
»Warum suchst du nach diesem Mann?«, fragte Marian.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Erlendur. »Ich werde dauernd danach gefragt. Ich habe keine Ahnung, warum. Wegen einer Frau, die früher einmal in einem Milchgeschäft gearbeitet hat. Wegen einer Radkappe, die an dem Auto fehlte. Wegen eines ziemlich neuen Autos, das beim Busbahnhof abgestellt wurde. Da ist irgendetwas, das meiner Meinung nach nicht zusammenpasst.«
Marian schloss die Augen und sank tiefer in den Sessel. »Wir haben fast denselben Namen«, sagte Marian so leise, dass Erlendur es kaum verstehen konnte.
»Was?«, fragte er und beugte sich vor. »Was sagst du da?«
»John Wayne und ich«, erklärte Marian. »Wir haben fast denselben Namen.«
»Was redest du denn da für einen Quatsch?«
»Kein Quatsch. Findest du das nicht komisch? John Wayne.« Erlendur wollte gerade antworten, als er sah, dass Marian einzuschlafen schien. Er nahm die Kassettenhülle zur Hand und betrachtete den Titel The Searchers. Ein Film über Starrsinn, dachte er.
Seine Blicke glitten von der Kassettenhülle zu Marian und dann wieder zu John Wayne, der hoch zu Ross und mit geschultertem Gewehr abgebildet war. Er sah auf den Fernseher in der Ecke des Zimmers, legte die Kassette ein, setzte sich wieder auf das Sofa und schaute sich The Searchers an, während Marian sanft schlummerte.
Sechzehn
Sigurður Óli war gerade im Begriff, sein Büro zu verlassen, als das Telefon klingelte. Er zögerte. Am liebsten hätte er die Tür hinter sich zugeknallt, aber er ging seufzend zurück und nahm den Hörer ab.
»Störe ich dich?«, fragte der Mann am anderen Ende der Leitung.
»Kann man so sagen«, erwiderte Sigurður Óli. »Ich bin auf dem Weg nach Hause. Außerdem …«
»Entschuldige«, sagte der Mann.
»Hör auf, dich dauernd für alles Mögliche zu entschuldigen, und hör auf, dauernd bei mir anzurufen. Ich kann nichts für dich tun.«
»Ich habe nicht viele, mit denen ich reden kann«, sagte der Mann.
»Ich bin aber keiner von denen. Ich bin bloß zufälligerweise am Unfallort gewesen, weiter nichts. Ich bin kein Seelsorger. Sprich doch mit deinem Pastor.«
»Findest du, dass ich die Schuld daran habe?«, fragte der Mann. »Wenn ich sie nicht angerufen hätte …« Das hatten sie alles schon wer weiß wie oft durchgesprochen. Sie glaubten beide nicht an einen Gott, der hinter irgendeinem unbegreiflichen Gesamtkonzept steckte und Opfer forderte wie die Ehefrau und die Tochter des Mannes. Keiner von beiden glaubte an Vorsehung. Beide glaubten nicht, dass alles vorherbestimmt war und dass man keinen Einfluss darauf nehmen konnte. Beide glaubten an simple Zufälle. Beide waren aber realistisch und mussten die Tatsache akzeptieren, dass die Ehefrau nicht in dem Augenblick an dieser Kreuzung gewesen wäre, als der Betrunkene im Jeep bei Rot durchfuhr, wenn der Ehemann sie nicht angerufen hätte. Allerdings gab Sigurður Óli nicht dem Ehemann die Schuld daran, was geschehen war, und seine Argumente fand er völlig abwegig.
»Du trägst keine Schuld an diesem Unfall«, sagte Sigurður Óli. »Das weißt du selber auch, und hör auf, dich damit zu quälen. Nicht du bist auf dem Weg ins Gefängnis wegen fahrlässiger Tötung, sondern der Vollidiot in dem Jeep.«
»Das spielt keine Rolle«, stöhnte der Mann.
»Was sagt der Psychiater?«
»Der redet bloß von irgendwelchen Pillen und Nebenwirkungen. Wenn ich die eine Sorte einnehme, nehme ich zu, und wenn ich die andere nehme, habe ich keinen Appetit mehr. Und dann ist da noch eine Sorte, von der ich dauernd kotzen muss.«
»Darf ich dir ein anderes Beispiel nennen?«, sagte Sigurður Óli. »Eine Gruppe Leute fährt seit fünfundzwanzig Jahren einmal im Jahr in die Þórsmörk. Einer aus der Gruppe hatte seinerzeit die Idee gehabt. In einem Jahr passiert dann ein tödlicher Unfall, und einer der Teilnehmer am jährlichen Ausflug kommt ums Leben. Und ist das jetzt die Schuld dessen, der die Idee hatte? Das ist doch absurd! Wo soll das mit deinen Grübeleien enden? Zufall ist Zufall. Niemand hat Einfluss darauf.« Der Mann antwortete ihm nicht.
»Verstehst du, was ich meine?«, fragte Sigurður Óli.
»Ich weiß, was du meinst, aber es hilft mir nicht.«
»Tja, also dann, ich muss jetzt los«, sagte Sigurður Óli.
»Vielen Dank«, sagte der Mann und legte auf.
Erlendur saß zu Hause in seinem Sessel und las. Er versetzte sich in die Situation einer Gruppe von Menschen hinein, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem Weg von Ísafjörður nach Bolungarvík waren, und er stand zusammen mit ihnen im Schein einer kleinen Laterne unter der berüchtigten Steilwand von Óshlíð. Die sieben Menschen näherten sich der gefährlichen Schlucht Steinófæra. Zur Linken lag die schroffe, tief verschneite Bergwand und zur Rechten das kalte Meer. Sie hielten sich dicht hintereinander, damit allen der Schein der kleinen Lichtquelle zugute kam. Einige hatten sich am Abend eine Theatervorstellung in Ísafjörður angeschaut, Vogt Leonhard. Es war tiefster Winter, und als sie bei der Schlucht angelangt waren, bemerkte einer von ihnen, dass die Schneewechte über ihnen merkwürdig aussah, wie ein Felsbrocken, der heruntergerutscht war. Sie sprachen darüber, ob es ein Anzeichen dafür sein könnte, dass sich der Schnee ganz oben am Berg in Bewegung gesetzt hatte. Sie blieben stehen, und im gleichen Augenblick ging die Schneelawine auf sie nieder und riss sie mit sich ins Meer. Einer kam zerschunden und zerschlagen mit dem Leben davon. Von den anderen wurde nie jemand gefunden, man entdeckte nur ein Bündel, das einer von ihnen bei sich gehabt hatte, und die Laterne, die ihnen den Weg gewiesen hatte.
Das Telefon klingelte, und Erlendur blickte von seinem Buch hoch. Er überlegte, ob er es nicht einfach klingeln lassen sollte. Aber es konnte Valgerður sein, oder sogar Eva Lind, obwohl er eigentlich kaum damit rechnete.
»Hast du schon geschlafen?«, fragte Sigurður Óli, als Erlendur endlich an den Apparat ging.