»Was willst du denn von mir?«, fragte Erlendur.
»Bringst du morgen diese Frau zu der Grillparty mit? Bergþóra möchte das gern wissen. Sie möchte wissen, mit wie vielen Leuten sie rechnen kann.«
»Von was für einer Frau redest du?«, sagte Erlendur.
»Die, die du an Weihnachten kennen gelernt hast«, sagte Sigurður Óli. »Ihr trefft euch doch immer noch?«
»Was geht dich das an?«, sagte Erlendur. »Und von was für einer Grillparty redest du eigentlich? Wann habe ich zugesagt, dass ich zu einer Grillparty bei dir kommen würde?« Im gleichen Augenblick klopfte es, und er schaute zur Tür.
Sigurður Óli wollte sich gerade darüber auslassen, dass Erlendur sehr wohl zugesagt hätte und dass Elínborg schon das Essen vorbereitete, als Erlendur den Hörer auf die Gabel warf und zur Tür ging. Der Anflug eines Lächelns lag auf Valgerðurs Gesicht, als er öffnete. Sie fragte, ob sie hereinkommen dürfe. Er zögerte einen Augenblick, sagte aber dann: »Natürlich.« Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich auf das abgewetzte Sofa. Er wollte Kaffee aufsetzen, aber sie sagte, das sei nicht nötig.
»Ich habe ihn verlassen«, erklärte sie.
Er setzte sich ihr gegenüber auf einen Sessel. Ihm fiel wieder das Gespräch mit ihrem Mann ein, der gesagt hatte, er solle die Finger von Valgerður lassen. Sie sah ihn an und bemerkte den leicht besorgten Blick.
»Ich hätte es schon längst tun sollen«, sagte sie. »Du hast Recht gehabt. Ich hätte die Sache schon längst zu einem Ende bringen müssen.«
»Und warum jetzt?«, fragte er.
»Er hat mir gesagt, dass er bei dir angerufen hat«, sagte Valgerður. »Ich möchte nicht, dass du in unsere Sache verwickelt wirst. Ich will nicht, dass er dich anruft. Das hier ist einzig und allein zwischen ihm und mir. Es geht nicht um dich.«
Erlendur musste lächeln. Ihm fiel ein, dass er eine Flasche grünen Chartreuse im Schrank hatte. Er stand auf, holte die Flasche und zwei Gläser, goss ein und reichte ihr ein Glas.
»Ich meine es nicht so, und du weißt, was ich damit sagen will«, sagte sie, und sie nippten beide an ihrem Likör. »Wir haben nichts gemacht, außer miteinander zu reden. Das kann er von sich nicht behaupten.«
»Aber bislang hast du ihn nicht verlassen wollen«, sagte Erlendur.
»Das ist nicht leicht nach all den Jahren. Nach all dieser Zeit. Unsere Jungen und … Es ist einfach furchtbar schwierig.«
Erlendur schwieg.
»Aber heute Abend habe ich erkannt, dass unsere Beziehung völlig tot ist«, fuhr Valgerður fort. »Und mir wurde auf einmal klar, dass ich sie gar nicht wiederbeleben möchte. Ich habe mit meinen Söhnen gesprochen. Sie müssen natürlich wissen, warum ich ihn verlasse. Ich treff mich morgen mit ihnen. Das war auch ein Grund, ich wollte ihnen das ersparen. Sie bewundern ihn so.«
»Ich habe gleich aufgehängt.«
»Ich weiß, er hat es mir erzählt. Mit einem Mal habe ich das alles durchschaut. Er kann mir nicht mehr vorschreiben, was ich tue und was ich tun möchte. Ich weiß nicht, für was er sich eigentlich hält.«
Valgerður hatte bislang kaum über ihren Mann geredet, nur dass er zwei Jahre lang mit einer Krankenschwester im gleichen Krankenhaus fremdgegangen war und dass es auch vorher schon Seitensprünge gegeben hatte. Er war Arzt und arbeitete am gleichen Krankenhaus wie sie. Erlendur hatte hin und wieder darüber nachgedacht, wie es für sie wohl gewesen sein musste, zu erfahren, dass am Arbeitsplatz vermutlich alle außer ihr genau wussten, dass der Ehemann hinter anderen Frauen her war.
»Und wie wird es bei der Arbeit werden?«, fragte er.
»Das steh ich schon durch«, sagte sie.
»Möchtest du heute bei mir übernachten?«
»Nein«, sagte Valgerður, »ich habe mit meiner Schwester gesprochen, und ich werde fürs Erste bei ihr bleiben. Sie steht voll hinter mir.«
»Wenn du sagst, dass es nicht um mich geht …«
»Ich verlasse ihn nicht deinetwegen«, sagte Valgerður. »Ich möchte einfach nicht, dass er weiterhin darüber bestimmt, was ich tue und denke und möchte. Meine Schwester sagt genau dasselbe wie du, und ihr habt Recht, ich hätte ihn schon längst verlassen sollen. In dem Augenblick, wo ich von seinen Seitensprüngen erfahren habe.« Sie machte eine Pause und schaute Erlendur an.
»Vorhin hat er behauptet, dass ich ihn dazu getrieben hätte«, sagte sie. »Weil ich nicht … nicht genug … weil mich Sex nicht genügend interessiert.«
»Das sagen sie alle«, sagte Erlendur. »Das ist die erste Ausrede, die ihnen einfällt. Das darfst du dir nicht zu Herzen nehmen.«
»Er hat es immer bestens verstanden, mir die Schuld an allem zu geben«, sagte Valgerður.
»Was soll er auch anderes sagen? Er versucht, sich vor sich selber zu rechtfertigen.« Sie schwiegen und tranken den Likör aus.
»Du bist …«, sagte sie, brach aber mitten im Satz ab. »Ich weiß nicht, wie du bist«, erklärte sie dann, »oder wer du bist. Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
»Ich auch nicht«, sagte Erlendur.
Valgerður lächelte.
»Hast du Lust, morgen mit mir zu einer Grillparty zu gehen?«, fragte Erlendur plötzlich. »Wir wollen uns mit ein paar Kollegen treffen. Elínborg hat ein Kochbuch herausgegeben, du hast vielleicht davon gehört. Sie kümmert sich um das Essen. Sie kocht wirklich verdammt gut«, sagte Erlendur und schaute zu seinem Schreibtisch hinüber, auf dem noch die Verpackung eines Frikadellengerichts für die Mikrowelle lag.
»Ich möchte nichts überstürzen«, sagte sie.
»Ich auch nicht«, sagte er.
Als Erlendur den Korridor entlangging und nach dem Zimmer des alten Bauern Ausschau hielt, hörte er aus dem Speisesaal des Altersheims das Klappern von Tellern. Einige der Angestellten räumten dort nach dem Frühstück ab, andere brachten die Zimmer in Ordnung. Die meisten Türen standen offen, und die Sonne schien zu den Fenstern hinein. Die Tür zum Zimmer des ehemaligen Bauern war allerdings zu, deswegen klopfte Erlendur an. »Hat man hier denn nie seine Ruhe«, hörte er eine laute, heisere Stimme drinnen sagen. »Dauernd wird man gestört, verdammt noch mal.«
Erlendur drückte die Klinke herunter, öffnete die Tür und betrat das Zimmer. Er wusste kaum etwas über dessen Bewohner. Nur, dass er Haraldur hieß und vor zwanzig Jahren die Landwirtschaft aufgegeben hatte. Bevor er ins Altersheim ging, hatte er in einem Mehrfamilienhaus im Hlíðar-Viertel gewohnt. Eine Angestellte des Altersheims hatte Erlendur gewarnt und gesagt, dass Haraldur ein Querkopf war, der sich mit allen anlegte. Erst vor kurzem hatte er mit seinem Stock auf einen anderen Heiminsassen losgeschlagen, und er triezte die Angestellten, die ihn alle nicht ausstehen konnten.
»Wer bist du denn?«, fragte Haraldur, als er Erlendur in der Tür erblickte. Er war vierundachtzig, hatte schlohweißes Haar und große, abgearbeitete Hände. An den Füßen trug er grobe graue Wollsocken und saß mit krummem Rücken und eingezogenem Kopf auf der Bettkante. Ein struppiger Bart verhüllte das halbe Gesicht. Im Zimmer roch es unangenehm, und Erlendur überlegte, ob dieser Haraldur Schnupftabak nahm. Er stellte sich vor und sagte, dass er von der Kriminalpolizei sei. Das schien Haraldurs Interesse ein wenig zu wecken, denn er versuchte sich aufzurichten, um Erlendur ins Gesicht schauen zu können.
»Was wollt ihr denn von mir?«, fragte er. »Kommt ihr vielleicht deswegen, weil ich dem Þórður eins mit dem Stock übergebraten habe?«
»Warum hast du das getan?«, fragte Erlendur aus purer Neugierde.
»Dieser Þórður ist ein Idiot«, erklärte Haraldur, »und ich muss dir überhaupt nichts darüber sagen. Raus mit dir und mach die Tür hinter dir zu, sonst starren alle zu mir rein. Die stecken hier alle, wie sie da sind, den ganzen Tag ihre Nase in Sachen, die sie nichts angehen.«
»Ich hatte nicht vor, mit dir über Þórður zu reden«, sagte Erlendur, trat ganz ins Zimmer und schloss die Tür.