Sie sagte, sie würde sich darauf freuen, Isländisch mit ihm zu lernen, um die Gedichte verstehen zu können. Sie sagte, sie hätte nichts für ihn. Er lächelte kopfschüttelnd. Er hatte ihr nicht gesagt, dass er Geburtstag hatte.
»Es ist genug, dich zu haben«, sagte er.
»Na, na«, sagte sie.
»Was?«
»Du mit deiner schmutzigen Fantasie.« Sie legte das Buch zur Seite, zog ihn aufs Bett und setzte sich rittlings auf ihn. Sie küsste ihn lange und intensiv. Es sollte sich zeigen, dass er noch nie in seinem Leben einen so schönen Geburtstag gehabt hatte.
In diesem Winter unternahmen Emíl und er viel zusammen, und ihre Freundschaft wurde enger. Er mochte Emíl gern. Aber je länger sie in Leipzig waren, und je besser sie das gesellschaftliche System kennen lernten, desto härter wurde Emíl in seinen sozialistischen Überzeugungen. Trotz der Diskussionen unter den Isländern und ihren kritischen Kommentaren zum Kontroll- und Unterdrückungsapparat, den Lebensmittelengpässen und den Pflichtveranstaltungen der FDJ und dergleichen ließ er sich nicht beirren.
Emíl pfiff darauf. Er hatte die langfristigen Ziele im Auge, und in dem Zusammenhang hatten kurzfristige Interessen keinerlei Bedeutung. Emíl und er kamen gut miteinander aus, und sie stärkten einander den Rücken.
»Aber warum produzieren sie denn nicht die Waren, die die Leute brauchen?«, fragte Karl einmal, als sie im Wohnheim zusammensaßen und über Ulbrichts Planwirtschaft diskutierten. »Es liegt doch auf der Hand, dass die Leute den Zustand hier mit der Situation der Menschen im Westen vergleichen, wo sie mit Konsumgütern überschüttet werden und es von allem genug gibt. Warum legen die hier in der DDR SO großes Gewicht auf den Aufbau der Industrie, wenn es an Lebensmitteln fehlt? Das Einzige, wovon sie genug haben, ist Braunkohle, und das ist ja noch nicht mal anständige Kohle.«
»Die Planwirtschaft wird sich schon noch bewähren«, entgegnete Emíl. »Der Aufbau hat ja gerade erst begonnen.
Und außerdem strömen hier keine Dollars aus Amerika ins Land. Das braucht alles seine Zeit. Die Hauptsache ist, dass die SED auf dem richtigen Kurs ist.« Auch andere Isländer verliebten sich in Leipzig, nicht nur er. Karl und Hrafnhildur lernten Deutsche kennen, die sehr nett waren und sich gut in die Gruppe einfügten.
Karl wurde immer öfter mit einer Studentin aus Leipzig gesehen, die Ulrike hieß. Ulrike war klein und zart, aber ihre Mutter war ein richtiger Drachen. Sie hielt überhaupt nichts von dieser Verbindung. Alle brüllten vor Lachen, wenn Karl ihnen von den konfliktgeladenen Begegnungen mit der Mutter erzählte. Karl und Ulrike hatten darüber geredet, zusammenzuziehen und vielleicht zu heiraten. Sie passten wunderbar zusammen, beide waren Frohnaturen und völlig unbekümmert, und sie erklärte, dass sie unbedingt Island sehen, vielleicht sogar dort bleiben wollte.
Hrafnhildur ging mit einem schüchternen Chemiestudenten. Er stammte aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Leipzig und konnte sie ab und zu mit selbst gebranntem Schnaps versorgen.
Es war Februar geworden. Ilona und er trafen sich jeden Tag. Sie sprachen kaum noch über Politik, aber das war auch gar kein Problem, denn es gab genug anderes, worüber sie reden konnten. Er erzählte ihr von dem Land, wo man Schafsköpfe aß, und sie sprach von ihrer Familie in Ungarn. Sie hatte zwei ältere Brüder, die ihr als Schwester einiges abverlangt hatten. Ihre Eltern waren beide Ärzte.
Sie studierte Germanistik und Literaturwissenschaft. Einer ihrer Lieblingsdichter war Friedrich Hölderlin. Sie las viel und fragte ihn über isländische Literatur aus. Bücher gehörten zu ihren gemeinsamen Interessen.
Lothar hielt sich viel bei den Isländern auf. Sie amüsierten sich über seine steife und formelle Ausdrucksweise auf Isländisch und seine unablässigen Fragen nach allem, was mit Island zusammenhing. Lothar und er verstanden sich gut. Beide waren überzeugte Kommunisten, und sie konnten über Politik reden, ohne sich zu streiten. Lothar übte sich im Isländischen, und er sprach Deutsch mit ihm.
Lothar stammte aus Berlin und war der Meinung, dass Berlin eine wunderbare Stadt sei. Seinen Vater hatte er im Krieg verloren, aber seine Mutter lebte noch dort. Lothar wollte unbedingt, dass sie irgendwann einmal zusammen nach Berlin führen, es sei ja nicht so weit mit dem Zug.
Ansonsten redete der Deutsche nur selten über sich, und er ging davon aus, dass es damit zusammenhing, dass er als Junge im Krieg so viel mitgemacht hatte. Lothar stellte aber umso mehr Fragen in Bezug auf Island, für das er ein hartnäckiges Interesse zu haben schien. Er fragte nach der isländischen Universität, nach politischen Auseinandersetzungen, nach den führenden Politikern; er wollte alles über das Erwerbsleben wissen und über den Lebensstandard, und auch über das amerikanische Militär in Keflavík.
Er versuchte, Lothar zu erklären, dass die Isländer enorm vom Krieg profitiert hätten, Reykjavik war rasant gewachsen, und das Land hatte sich im Handumdrehen von einer armen Agrargesellschaft in eine moderne bürgerliche Gesellschaft verwandelt.
Manchmal unterhielt er sich in der Universität mit Hannes, wenn sie sich in der Bibliothek oder in der so genannten Kaffeestube, dem Erfrischungsraum für die Studenten, trafen. Trotz Hannes’ negativer Einstellung und ihrer gegensätzlichen Meinungen freundeten sie sich miteinander an. Er bemühte sich angestrengt, Hannes zu überzeugen, hatte aber keinen Erfolg damit. Sein Interesse war erloschen. Er dachte nur an sich selbst, es ging nur noch darum, das Studium zu Ende zu bringen und dann nach Island zurückzukehren.
Eines Tages setzte er sich in der Kaffeestube zu Hannes.
Draußen schneite es. Zu Weihnachten hatte man ihm von zu Hause einen warmen Mantel geschickt. In einem seiner Briefe hatte er von der Kälte in Leipzig erzählt. Hannes sprach ihn auf den Mantel an, und er glaubte, ein klein wenig Neid herauszuhören.
Damals wusste er nicht, dass es das letzte Mal war, dass sie in Leipzig miteinander sprachen.
»Wie geht es Ilona?«, fragte Hannes auf einmal.
»Woher kennst du Ilona?«, fragte er zurück.
»Ich kenne sie eigentlich nicht«, sagte Hannes und blickte sich um, als wolle er sichergehen, dass niemand ihnen zuhören konnte. »Ich weiß nur, dass sie Ungarin ist. Und dass ihr zusammen seid. Stimmt das nicht? Ihr seid doch zusammen?«
Er trank einen Schluck von dem dünnen Kaffee und antwortete nicht. Er hörte einen anderen Ton bei Hannes heraus. Härter und unnachgiebiger als sonst.
»Spricht sie manchmal mit dir über das, was in Ungarn passiert?«
»Ja. Aber wir versuchen eigentlich, so wenig wie möglich über …«
»Dir ist doch klar, was dort im Gange ist?«, unterbrach Hannes ihn. »Die Sowjets werden militärisch intervenieren und ihre Panzer hinschicken. Ich staune bloß, dass sie das nicht schon längst gemacht haben. Es ist unausweichlich. Wenn sie zulassen, dass sich die Dinge so zuspitzen wie in Ungarn, werden andere osteuropäische Staaten nachziehen, und dann gibt es einen allgemeinen Aufstand gegen die Sowjets. Spricht sie nie darüber?«
»Wir reden über Ungarn, ja. Aber wir sind uns nicht einig.«
»Nein, eben, du weißt natürlich besser als sie, die Ungarin, was dort passiert.«
»Das habe ich nicht gemeint.«
»Nein, aber was meinst du dann eigentlich?«, sagte Hannes.
»Hast du jemals ernsthaft darüber nachgedacht? Ich meine, wenn du mal nicht alles durch die rosarote Brille siehst?«
»Was ist nur mit dir geschehen, Hannes? Warum diese Wut? Was ist passiert, seitdem du hier bist? Du warst doch bei uns zu Hause die große Hoffnung der Partei?«
»Die große Hoffnung«, schnaubte Hannes. »Das bin ich sicher nicht mehr.« Eine ganze Weile fiel kein Wort.
»Ich habe nur diesen ganzen Quatsch durchschaut«, erklärte Hannes leise. »Diese ganze verfluchte Lüge. Wir wurden mit solchem Zeug wie ›das Paradies der Proletarier‹ hochgepäppelt, mit Gleichberechtigung und Völkerverständigung so lange gefüttert, bis man die Internationale wie eine aufgezogene Spieldose runterleiern konnte.