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Überall der gleiche kritiklose Halleluja-Chor. Zu Hause sind wir auf Kaderveranstaltungen gewesen. Hier gibt es nur Lobhudelei. Wo gibt’s hier eine Debatte? Es lebe die Partei und sonst gar nichts! Hast du mit den Menschen gesprochen, die hier zu Hause sind? Hast du eine Ahnung, was die Leute hier denken? Hast du mal mit einem ganz normalen Bürger hier geredet? Wollten sie Walter Ulbricht und die SED? Wollten sie die Einheitspartei und die Planwirtschaft? Wollten sie Meinungsfreiheit und Pressefreiheit abschaffen und die politischen Gegner so gut wie ausschalten? Wollten sie sich auf der Straße niederschießen lassen wie beim Aufstand von 1953? Daheim in Island haben wir doch immerhin die Möglichkeit, uns mit unseren Gegnern auseinander zu setzen, und wir können unsere Meinung in Zeitungsartikeln veröffentlichen. Hier ist das verboten. Es gibt nur die Parteilinie — und damit basta. Und dann nennen sie das Wahlen, wenn die Leute in die Wahllokale gescheucht werden, um die einzige Partei zu wählen, die hier uneingeschränkt arbeiten darf. Für die Leute in diesem Land ist das Ganze eine einzige Farce. Sie wissen, dass es nicht das Geringste mit Demokratie zu tun hat!«

Hannes verstummte. Er kochte vor unterdrücktem Zorn.

»Die Leute trauen sich nicht zu sagen, was sie denken, weil hier alles und jeder bespitzelt wird. Diese ganze verdammte Gesellschaft. Sie können dir aus allem, was du sagst oder tust, einen Strick drehen, und dann wirst du vorgeladen, du wirst festgenommen, du fliegst von der Uni. Unterhalte dich doch mal mit den Menschen hier, aber wenn, dann nur von Angesicht zu Angesicht, denn die Telefone werden abgehört! Hier werden ganz normale Menschen bespitzelt!« Sie schwiegen.

Im Grunde genommen war er sich darüber im Klaren, dass Ilona und Hannes Recht hatten. Er fand, dass es der Partei besser anstünde, mit offenen Karten zu spielen und zuzugeben, dass es im Augenblick keinen Platz für freie Wahlen und freie Meinungsäußerung gab. Das alles käme später, wenn das Ziel erreicht war: der Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse. Sie hatten sich manchmal darüber amüsiert, wie die Deutschen auf Versammlungen mit allem, was ihnen vorgelegt wurde, einverstanden waren: Beschlussfassung nach dem Prinzip der Einstimmigkeit wurde so etwas genannt. Wenn man sich aber hinterher privat mit den Leuten unterhielt, kamen ganz andere Ansichten zum Vorschein, die völlig im Gegensatz zu dem standen, was gerade vorher beschlossen worden war. Niemand traute sich, offen seine Meinung zu sagen. Man traute sich kaum, eine eigene Meinung zu haben, aus Furcht davor, dass sie als parteifeindliche Äußerung ausgelegt würde, die strafbar war.

»Diese Leute sind gefährlich, Tómas«, sagte Hannes nach langem Schweigen. »Denen ist es bitterernst.«

»Warum redet ihr andauernd über Meinungsfreiheit?«, erwiderte er böse. »Du und Ilona. Sieh dir doch bloß an, was sie mit den Kommunisten in den USA machen! Sieh dir doch an, wie sie keine Arbeit bekommen und aus dem Land gewiesen werden. Und was ist mit der Überwachungsgesellschaft dort? Hast du gelesen, wie die Feiglinge unter ihnen ihre Genossen vor dem Komitee gegen unamerikanische Aktivitäten verraten haben? In den USA ist die kommunistische Partei verboten. Dort ist auch nur eine Meinung zugelassen, und das ist die Meinung der Monopolkapitalisten, der Imperialisten, der Militaristen. Alles andere wird ausgeschlossen. Alles.« Er stand auf, weil er sich in Rage geredet hatte.

»Du bist hier als Gast der Menschen, der Werktätigen in diesem Land«, sagte er böse. »Sie sind es, die deine Ausbildung bezahlen, und du solltest dich schämen, so zu reden. Schäm dich! Und sieh zu, dass du nach Island zurückkommst!« Er stiefelte davon.

»Tómas«, rief Hannes ihm nach, aber er reagierte nicht darauf.

Als er raschen Schritts den Korridor entlangging, traf er Lothar, der ihn fragte, was los sei. Er schaute zurück zur Kaffeestube. »Nichts«, sagte er. Sie verließen gemeinsam das Haus. Lothar lud ihn zu einem Bier ein, und er erzählte Lothar, worüber Hannes und er sich gestritten hatten und dass Hannes aus irgendwelchen Gründen jetzt ein erklärter Gegner des Sozialismus sei und gegen ihn agitierte. Er sagte Lothar, dass er diese Doppelmoral bei Hannes nicht verstünde. Er sei gegen das sozialistische Regime, aber trotzdem war er entschlossen, es auszunutzen und sein Studium hier zu Ende zu bringen.

»Ich begreife das nicht«, sagte er zu Lothar. »Ich begreife nicht, wie er seine Stellung so missbrauchen kann. Das könnte ich nie tun. Niemals!«

Abends traf er Ilona und erzählte ihr von dem Streit. Er erwähnte auch, dass Hannes sich manchmal so anhörte, als würde er sie kennen, aber Ilona schüttelte den Kopf. Sie hatte nie von ihm gehört und nie mit ihm gesprochen.

»Bist du einverstanden mit dem, was er sagt?«, fragte er zögernd.

»Ja«, sagte sie nach längerem Schweigen, »ich bin genau derselben Meinung. Und nicht nur ich. Da sind noch viel, viel mehr Leute. Junge Leute in meinem Alter in Budapest.

Junge Leute hier in Leipzig.«

»Warum melden die sich nicht zu Wort?«

»Das geschieht ja gerade in Budapest«, sagte sie. »Aber es geht gegen einen übermächtigen Gegner. Und es herrscht Angst. Überall herrscht Angst davor, was passieren könnte.«

»Das Militär?«

»Ungarn ist Kriegsbeute der Sowjetunion gewesen, und sie geben das Land nicht kampflos wieder frei. Falls es uns gelingt, sie abzuschütteln, weiß man nicht, was für Auswirkungen das auf die anderen osteuropäischen Länder haben wird. Das ist die große Frage, es geht um das, was damit ausgelöst würde.«

Zwei Tage später wurde Hannes ohne Vorwarnung relegiert und des Landes verwiesen. Er hörte, dass vor dem Zimmer, das Hannes gemietet hatte, ein Vopo postiert worden war und dass er von zwei Stasibeamten zum Flugplatz gebracht wurde. Sein Studium wurde ihm aberkannt. Es war, als wäre Hannes nie an der Universität gewesen. Er wurde einfach gestrichen.

Er traute seinen Ohren nicht, als Emíl ihm sagte, was passiert war. Emíl wusste nicht viel. Er hatte Karl und Hrafnhildur getroffen, die ihm von dem Polizeiposten erzählten und davon dass alle darüber sprachen, dass man Hannes zum Flughafen gebracht hatte. Emíl musste es ihm drei Mal sagen. Ihr Landsmann wurde behandelt, als sei er ein regelrechter Verbrecher. Abends wurde im Wohnheim über nichts anderes geredet. Niemand wusste genau, was passiert war.

Tags darauf, drei Tage nach ihrem Streit in der Kaffeestube, erhielt er eine Nachricht von Hannes. Hannes’ Zimmergenosse überbrachte sie ihm. Der Zettel steckte in einem verschlossenen Umschlag, auf dem nur sein Name stand. Tómas. Er öffnete den Umschlag und setzte sich mit dem Brief auf sein Bett.

Du hast mich gefragt, was in Leipzig passiert ist. Was mit mir passiert ist. Es ist sehr einfach. Sie haben mich wiederholt gebeten, meine Freunde zu bespitzeln und Informationen darüber weiterzugeben, was ihr über den Sozialismus sagt, über die DDR, über Ulbricht und was für Radiosender ihr hört. Nicht nur ihr, sondern alle, mit denen ich zusammenkam. Ich habe mich geweigert, für sie den Denunzianten zu spielen. Ich habe erklärt, dass ich meine Freunde nicht bespitzeln werde. Sie gingen davon aus, dass ich gefügig sein würde, weil sie mir damit drohten, mich von der Uni zu verweisen. Ich habe mich geweigert, aber sie haben mich immerhin noch geduldet. Bis jetzt. Warum konntest du mich nicht einfach in Ruhe lassen?

Hannes

Er las den Brief mehrmals und konnte nicht glauben, was da stand. Ein Schauder lief ihm über den Rücken, und für einen Augenblick schwindelte ihn. Warum konntest du mich nicht einfach in Ruhe lassen? Hannes gab ihm die Schuld daran, dass er relegiert worden war. Hannes glaubte wahrscheinlich, dass er direkt zur Universitätsverwaltung gegangen war und gemeldet hatte, was für Ansichten er hatte, seine Auflehnung gegen den Kommunismus. Wenn er ihn in Ruhe gelassen hätte, wäre nichts passiert. Er starrte auf den Brief. Das war ein Missverständnis. Was meinte Hannes eigentlich? Er hatte doch mit niemandem von der Universität gesprochen, sondern nur mit Lothar und Ilona geredet und abends Emíl, Karl und Hrafnhildur gegenüber sein Befremden über Hannes’ Anschauungen zum Ausdruck gebracht. Das war nichts Neues. Die anderen waren seiner Meinung gewesen. Sie fanden, dass Hannes’ Kehrtwendung im besten Fall fragwürdig, im schlimmsten Fall verwerflich war. Es musste ein Zufall sein, dass Hannes nach ihrem Streit von der Uni verwiesen worden war. Hannes hatte das missverstanden und es mit ihrem Gespräch in Verbindung gebracht. Hannes konnte doch nicht allen Ernstes glauben, dass es seine Schuld war, dass er sein Studium nicht zu Ende bringen konnte! Er hatte gar nichts getan. Er hatte mit niemandem außer mit seinen Freunden darüber gesprochen. Grenzte das nicht an Verfolgungswahn? Konnte Hannes im Ernst so etwas glauben?