Erlendur betrat den Schuppen. War der Mann mit dem Falcon hierher gekommen?, überlegte er. Oder hatte er tatsächlich einen der Linienbusse in einen anderen Landesteil genommen? Falls er hierher gekommen war, was hatte er im Sinn gehabt? Er hatte Reykjavik am Nachmittag verlassen. Er wusste, dass nicht viel Zeit war. Sie würde vor dem Milchladen auf ihn warten, und er wollte nicht zu spät kommen. Trotzdem durfte er den Brüdern nicht den Eindruck vermitteln, dass er es eilig hatte, denn sie hatten Interesse daran, ihm einen Traktor abzukaufen. Der Vertragsabschluss war in Sicht. Er wollte aber nicht zu sehr drängeln. Es konnte den Verkauf vermasseln, wenn sie den Eindruck bekamen, dass ihm sehr viel daran gelegen war.
Trotzdem galt es, sich zu beeilen. Der Kauf musste über die Bühne.
Falls er hier gewesen war, wieso hatten die Brüder das nicht zugegeben? Warum erzählten sie eine Lüge? Für sie ging es um nichts. Sie kannten den Mann überhaupt nicht. Und warum fehlte die eine Radkappe? War sie abgefallen? War sie vor dem Busbahnhof gestohlen worden? War sie hier gestohlen worden?
Falls er der Mann aus dem Kleifarvatn war, wie war er dorthin gelangt? Woher kam der Apparat, der bei ihm gefunden worden war? Hatte es irgendetwas zu bedeuten, dass er Traktoren und Landmaschinen aus den Ostblockländern verkaufte? Gab es da eine Verbindung? Das Handy in Erlendurs Manteltasche klingelte.
»Ja«, sagte er kurz angebunden.
»Lass mich bloß in Ruhe«, sagte eine Stimme, die er nur zu gut kannte.
»Das tu ich ja«, sagte er.
»Mach das bloß. Lass mich von jetzt an in Ruhe. Hör auf, dich in meine Angelegenheiten einzumischen … Ich will …«
Er schaltete ab. Schwieriger war es, die Stimme abzuschalten, die in seinem Kopf widerhallte, gedopt, aggressiv, garstig und abstoßend. Er wusste genau, dass sie wieder in irgendeinem Loch mit jemandem herumgammelte, der vielleicht Eddi hieß und doppelt so alt war wie sie. Er vermied es, so gut er konnte, darüber nachzudenken, wie ihr Leben war. Er hatte so oft versucht, ihr nach Kräften beizustehen. Er wusste nicht, was er überhaupt noch tun konnte. Er stand seiner drogenabhängigen Tochter vollkommen ratlos gegenüber. Es hatte Zeiten gegeben, da hätte er versucht, sie in einem solchen Zustand zu finden, früher wäre er bei so einem Anruf losgestürzt und hätte sie irgendwo aufgespürt. Irgendwann einmal hatte er sich eingeredet, dass sie, wenn sie »lass mich in Ruhe« sagte, in Wirklichkeit »komm doch und hilf mir« meinte. Aber jetzt nicht mehr. Er wollte es nicht mehr. Er hätte ihr am liebsten gesagt: Jetzt ist Schluss. Mach, was du willst.
Letztes Jahr hatte sie sich über Weihnachten bei ihm einquartiert. Nach der Fehlgeburt war sie eine Weile clean gewesen, aber dann wieder rückfällig geworden. Kurz nach Neujahr spürte er, wie rastlos sie wieder war. Sie verschwand immer häufiger für kürzere oder längere Zeit. Er ging ihr nach und brachte sie wieder nach Hause, doch am folgenden Morgen hatte sie sich schon wieder aus dem Staub gemacht. So ging es eine Zeit lang, bis er aufhörte, ihr nachzulaufen, aufhörte, sich vorzumachen, dass das, was er unternahm, eine Rolle spielte. Es war ihr Leben.
Wenn sie es so leben wollte, war das ihre Sache. Er konnte nichts mehr tun. Er hatte mehr als zwei Monate nichts von ihr gehört, als Sigurður Óli von einem Hammer an der Schulter getroffen wurde.
Er stand auf dem Hofplatz und betrachtete die Ruinen eines Lebens, das einmal gewesen war. Er dachte an den Mann mit dem Ford Falcon. An die Frau, die immer noch auf den Mann wartete. An seine eigene Tochter und seinen Sohn. Er blickte in die Abendsonne und dachte an seinen Bruder, der umgekommen war. An was hatte er in dem tobenden Schneesturm gedacht? Wie kalt es war?
Wie schön es wäre, wieder nach Hause in die Wärme zu kommen?
Am nächsten Morgen fuhr Erlendur wieder zu der Frau, die den Mann mit dem Falcon vermisste. Da es Samstag war, ging er davon aus, dass sie nicht zu arbeiten brauchte.
Er meldete sich telefonisch an, und als er eintraf, hatte sie Kaffee für ihn gekocht, obwohl er ihr ausdrücklich gesagt hatte, sie solle sich seinetwegen keine Umstände machen.
Wie beim ersten Mal setzten sie sich ins Wohnzimmer. Sie hieß Ásta.
»Ihr arbeitet natürlich auch am Wochenende«, sagte sie. Sie selber hatte einen Job in der Küche des Krankenhauses in Fossvogur.
»Ja, es gibt oft viel zu tun«, erwiderte er ausweichend. Er hätte sich durchaus an diesem Wochenende freinehmen können. Aber dieser Fall hatte ihn gepackt, und ohne zu wissen, warum, verspürte er einen seltsamen Drang, ihm auf den Grund zu gehen. Vielleicht war es wegen der Frau, die ihm gegenübersaß und sich wahrscheinlich ihr ganzes Leben lang in unterbezahlten Jobs abgerackert hatte und immer noch allein lebte. Ihr müder Gesichtsausdruck zeugte davon, dass das Leben an ihr vorbeigegangen war, ohne angeklopft zu haben. Es hatte ganz den Anschein, als glaubte sie immer noch daran, dass der Mann, den sie einmal geliebt hatte, wieder zu ihr zurückkehren würde, sie wie früher küssen und ihr von der Arbeit erzählen und sie fragen würde, wie ihr Tag verlaufen war.
»Als wir neulich mit dir gesprochen haben, hast du erklärt, dass du nicht daran glaubst, dass eine andere Frau im Spiel gewesen ist«, tastete er sich vorsichtig vor. Er hatte mit sich gerungen, ob dieser Besuch richtig war. Er wollte nicht die Erinnerungen zerstören, die sie an diesen Mann hatte, er wollte nichts von dem zerstören, was ihr noch geblieben war. Er hatte zu oft gesehen, wie so etwas geschah. Wenn sie zu Hause bei einem Straftäter erschienen und die Ehefrau sie anstarrte und ihren Augen nicht zu trauen vermochte. Kinder scharten sich um sie herum. Das ganze Kartenhaus brach zusammen. »Mein Mann? Ein Dealer? Ihr seid wohl nicht ganz dicht!«
»Warum fragst du danach?«, entgegnete die Frau in dem Sessel. »Wisst ihr vielleicht mehr als ich? Habt ihr etwas herausgefunden? Habt ihr etwas Neues herausgefunden?«
»Nein, nichts«, sagte Erlendur, und sein Gesicht verzerrte sich leicht, als er hörte, wie gespannt sie war. Er berichtete ihr von seinem Besuch bei Haraldur und dass er den Falcon gefunden hatte, der immer noch existierte, in einer Garage in Kópavogur. Er sagte ihr auch, dass er den verlassenen Hof in Mosfellssveit besucht hatte. Trotzdem sei das Verschwinden ihres Mannes genauso rätselhaft wie zuvor.
»Du hast gesagt, du hättest kein Foto von ihm oder von euch beiden gehabt«, sagte er.
»Nein, das stimmt«, erklärte Ásta. »Wir haben uns nicht so lange gekannt.«
»Es ist also nie ein Bild von ihm in den Zeitungen oder im Fernsehen erschienen, als nach ihm gefahndet wurde?«
»Nein, aber die Beschreibung war recht genau. Damals wollten sie zunächst das Passfoto aus dem Führerschein nehmen, von dem angeblich immer ein Abzug bei der Polizei aufbewahrt wird, aber das haben sie nie gefunden. Als hätte er es nie eingereicht. Aber vielleicht haben sie es ja auch einfach nur verschlampt.«
»Hast du jemals seinen Führerschein gesehen?«
»Seinen Führerschein? Nein, nicht dass ich wüsste. Aber wieso fragst du auf einmal nach einer anderen Frau?«
In ihrer Stimme schwang jetzt ein härterer, unnachgiebigerer Ton mit. Erlendur zögerte einen Augenblick, bevor er die Tür zu etwas öffnete, was die reinste Hölle für sie sein musste. Vielleicht war es zu früh. Es gab einiges, was noch näher in Augenschein genommen werden musste. Vielleicht wäre es besser gewesen, noch etwas zu warten.
»Es gibt Männer, die ihre Frauen verlassen und sich aus dem Staub machen, um ein neues Leben zu beginnen«, sagte er dann.