»Ein neues Leben?« Ásta klang so, als hätte sie noch nie von so etwas gehört.
»Ja«, sagte er. »Vielleicht sogar hier auf Island. Alle glauben, dass hier jeder jeden kennt, aber das ist weit gefehlt. Es gibt viele kleine Dörfer, wo höchstens im Sommer eine Hand voll Leute hinkommt, und vielleicht noch nicht einmal das. Damals waren all diese Orte weitaus isolierter als heute und einige sogar regelrecht von der Außenwelt abgeschlossen. Die Verkehrsverbindungen waren schlecht. Es gab keine Straße, die rings um die Insel führte.«
»Ich verstehe dich nicht«, sagte sie. »Worauf willst du hinaus?«
»Ich möchte nur wissen, ob du diese Möglichkeit jemals in Erwägung gezogen hast.«
»Was für eine Möglichkeit?«
»Dass er einen Bus bestiegen hat und zu sich nach Hause gefahren ist.«
Er sah ihr an, dass sie etwas zu begreifen versuchte, das unbegreiflich für sie war.
»Wovon redest du eigentlich?«, stöhnte sie. »Nach Hause? Wohin nach Hause? Was meinst du denn?«
Erlendur merkte, dass er zu weit gegangen war, dass trotz der vielen Jahre, die vergangen waren, seitdem der Mann aus ihrem Leben verschwunden war, das Ganze noch eine offene Wunde war, frisch und nicht verheilt. Er hätte noch etwas warten müssen, bevor er zu ihr ging, mit etwas mehr als seinen eigenen Spekulationen und einem verlassenen Auto vor dem Busbahnhof in der Hand. »Es ist nur eine Vermutung«, sagte er rasch, um seine Worte abzumildern. »Island ist bestimmt viel zu klein, und hier leben viel zu wenig Menschen«, erklärte er hastig. »Es ist nur so eine Idee, und zwar eine völlig unbegründete.« Erlendur hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, was geschehen sein konnte, falls der Mann nicht Selbstmord begangen hatte. Nachdem sich der Gedanke in ihm festgesetzt hatte, dass eine andere Frau im Spiel sein konnte, wälzte er sich manchmal schlaflos im Bett. Zunächst schien diese Theorie ganz plausibel zu sein; auf seinen Reisen im Land lernte der Handelsreisende die unterschiedlichsten Menschen aus allen Schichten kennen, Bauern, Hotelangestellte, die Bewohner der kleinen Handelsorte und Fischerdörfer, Frauen. Möglicherweise hatte sich auf einer dieser Reisen eine Liebesbeziehung zu einer Frau angebahnt, die er mit der Zeit der Frau in Reykjavik vorzog, aber er besaß nicht die Charakterstärke, ihr das zu sagen. Je länger Erlendur darüber nachdachte, desto mehr neigte er zu der Ansicht, dass der Mann einen zusätzlichen, wichtigen Grund für sein Verschwinden gehabt haben musste, falls es mit einer anderen Frau zusammenhing. Ihm fiel ein, was ihm vor dem verlassenen Bauernhof, der ihn an den Ort seiner Jugend in Ostisland erinnerte, in den Sinn gekommen war. Nach Hause.
Sie hatten im Dezernat darüber gesprochen. Was, wenn man das Ganze andersherum aufzog? Was wäre, wenn die Frau, die ihm gegenübersaß, nur Leopolds Verhältnis in der Stadt gewesen war und er eine Familie irgendwo auf dem Lande besaß? Was, wenn er einfach der prekären Lage, in die er sich hineingeritten hatte, ein Ende machen wollte, indem er sich dazu entschloss, wieder nach Hause zurückzukehren?
Er ging kurz auf diese Theorie ein und beobachtete, wie sich die Miene der Frau verdüsterte. »Er hat in keiner prekären Lage gesteckt«, sagte sie. »Das ist Unsinn. Wie kommst du nur auf so eine Idee? So über ihn zu reden.«
»Sein Name ist ziemlich selten«, sagte Erlendur. »Nur ganz wenige Männer in Island heißen Leopold. Du hattest noch nicht einmal seine Personenkennziffer oder, wie das früher hieß, seine Identifikationsnummer, und du hattest nur ganz wenige persönliche Gegenstände von ihm.« Erlendur verstummte. Níels hatte ihm gesagt, dass Verschiedenes darauf hindeutete, dass Leopold nicht seinen richtigen Namen verwendet hatte. Dass er die Frau getäuscht und vorgegeben hatte, ein anderer zu sein, als er war. Níels hatte aber Ásta nichts von diesem Verdacht erzählt, weil er Mitleid mit ihr hatte. Erlendur begriff jetzt, was er gemeint hatte.
»Vielleicht hat er nicht seinen richtigen Namen verwendet«, sagte er. »Hast du das jemals in Erwägung gezogen? Er war nirgendwo unter diesem Namen registriert. Man konnte keinerlei Unterlagen finden.«
»Ich wurde von der Polizei angerufen«, sagte die Frau ungehalten. »Später, viel später. Briem war, glaube ich, der Name, oder so etwas. Da habe ich von eurer Theorie gehört, dass Leopold vielleicht ein anderer war, als er vorgab, zu sein. Mir wurde nur gesagt, dass es sich ein wenig hinausgezögert hätte, mich darüber zu informieren. Ich weiß von dieser eurer Theorie, aber sie ist absurd. Leopold hätte niemals ein falsches Spiel gespielt. Niemals!« Erlendur schwieg.
»Du versuchst mir zu sagen, dass die Möglichkeit besteht, dass er eine Familie gehabt hat und zu ihr zurückgekehrt ist. Dass ich für ihn nur eine Liebschaft in der Stadt war? Was soll denn dieser Quatsch?«
»Was weißt du über diesen Mann?«, fragte Erlendur. »Was weißt du tatsächlich über diesen Mann? Ist es wirklich so viel?«
»Bitte rede nicht so«, entgegnete die Frau. »Ich bitte dich inständig, mir nicht einen solchen Blödsinn aufzutischen.
Behalte bitte deine Meinungen für dich, ich bin nicht daran interessiert, sie zu hören.« Ásta verstummte und starrte ihn an.
»Ich … ich bin nicht …«, begann Erlendur, aber sie unterbrach ihn.
»Meinst du damit, dass er noch am Leben ist? Willst du mir das zu verstehen geben? Dass er noch am Leben ist und irgendwo auf dem Land wohnt?«
»Nein«, sagte Erlendur, »nein, das will ich nicht zu verstehen geben. Ich hätte nur gern diese Möglichkeit mit dir besprochen. Alles, was ich gesagt habe, ist reine Mutmaßung.
Nichts davon muss zutreffen, und nichts davon trifft wohl auch zu. Ich wollte bloß wissen, ob du dich an irgendetwas in seinem Benehmen erinnerst, was Anlass zu der Vermutung geben könnte, dass es sich so verhalten hat. Das ist das Einzige. Ich will überhaupt nichts zu verstehen geben, was ich auch nicht kann, weil ich nichts weiß.«
»Es ist völliger Unsinn, zu glauben, dass er nur mit mir gespielt hätte. Dass ich mir so etwas anhören muss!« Während Erlendur versuchte, sie zu beschwichtigen, beschlich ihn ein seltsamer Gedanke. Von nun an, nach dem, was er gesagt hatte und was nicht mehr rückgängig zu machen war, wäre es wahrscheinlich ein größerer Trost für die Frau, zu erfahren, dass er tot war, als wenn er lebend gefunden wurde. Das würde ihr unendliches Leid zufügen.
Er sah sie an und hatte den Eindruck, als würde sie etwas Ähnliches denken.
»Leopold ist tot«, sagte sie. »Es hat keinen Sinn, etwas anderes zu behaupten oder mir weismachen zu wollen. Für mich ist er gestorben. Und zwar vor vielen Jahren. Vor einem ganzen Menschenleben.« Sie schwiegen.
»Aber was weißt du tatsächlich über diesen Mann?«, wiederholte Erlendur nach einer Weile.
Ihre Blicke gaben ihm zu verstehen, dass sie ihm am liebsten gesagt hätte, er solle damit aufhören und gehen.
»Meinst du im Ernst, dass er in Wirklichkeit anders hieß und sich diesen Namen nur zugelegt hat?«, fragte sie.
»Nichts von dem, was ich sage, muss so gewesen sein«, betonte Erlendur. »Leider ist es am wahrscheinlichsten, dass er sich aus irgendwelchen Gründen umgebracht hat.«
»Was weiß man schon über die Menschen?«, sagte sie auf einmal. »Er war verschlossen und sprach fast nie über sich selbst. Andere Männer sind sehr von sich selber eingenommen, ich weiß nicht, ob das besser ist. Er hat mir wunderschöne Dinge gesagt, die mir nie zuvor jemand gesagt hat.
Ich bin nicht in einer Familie aufgewachsen, wo man sich nette Dinge sagte.«
»Du hast danach nicht noch einmal den Versuch gemacht, einen anderen Mann zu finden. Zu heiraten. Eine Familie zu haben.«
»Ich war schon über dreißig, als wir uns kennen lernten. Ich war damals davon ausgegangen, dass ich eine alte Jungfer werden würde. Dass es zu spät für mich sei. Das hatte ich zwar nicht so geplant, aber irgendwie ist es einfach so gelaufen. Dann kommt man in ein gewisses Alter und hat nichts außer sich selbst und einer leeren Wohnung. Deswegen war er … er hat das geändert. Auch wenn er verschlossen war und häufig nicht daheim, er war trotzdem mein Mann.« Sie blickte Erlendur an.