»Dass er in die Stadt zieht?«
»Dass du mehr von ihm siehst.«
»Nein, ich habe nichts dagegen. Ich finde es gut, wenn er nach Reykjavik kommt. Denk doch nicht immer das Schlimmste von mir, Eva. Was ist das für ein Mann, bei dem du jetzt wohnst?«
»Niemand, der dich interessiert«, sagte Eva Lind. »Und ich denke auch nicht ständig das Schlimmste von dir.«
»Seid ihr zusammen auf einem Trip?«
»Auf einem Trip?«
»Ich höre es, Eva. Ich höre es an deiner Stimme. Ich mach dir keine Vorwürfe, dazu habe ich keine Lust mehr. Von mir aus kannst du tun und lassen, was du willst, aber lüg mich nicht an. Ich möchte nicht, dass du lügst.«
»Ich … ich lüge … was meinst du damit, wie ich rede? Immer musst du …« Sie hängte ein.
Valgerður kam nicht, obwohl sie verabredet waren. Sie rief in dem Augenblick an, als Erlendur den Hörer auflegte, und erklärte, dass sie Überstunden hätte machen müssen und erst jetzt bei ihrer Schwester eingetroffen sei. »Alles in Ordnung bei dir?«, fragte er. »Ja«, sagte sie. »Wir sprechen uns.«
Er ging in die Küche und nahm das Fertiggericht aus der Mikrowelle, Frikadellen in brauner Soße und Kartoffelpüree. Er dachte an Eva Lind, an Valgerður und an Elínborg. Er warf die Packung ungeöffnet in den Müll und zündete sich eine Zigarette an.
Das Telefon klingelte zum dritten Mal an diesem Abend. Er starrte auf den Apparat und hoffte, dass er von selber wieder aufhören würde, aber als das nicht geschah, ging er dran. Es war ein Mitarbeiter der Spurensicherung. »Es ist wegen dem Falcon«, sagte der Mann. »Ja. Was ist mit dem Falcon? Hast du etwas gefunden?«
»Das meiste ist Straßenstaub, Steinchen und dann etwas Erde«, sagte der Mann. »Wir haben alles analysiert und fanden etwas, das Tiermist sein könnte. Etwas aus einem Kuhstall oder einem Schafstall. Aber nirgendwo Blut.«
»Kuhmist?«
»Ja, da ist aller möglicher Dreck und Sand, genau wie in allen anderen Autos, aber auch Kuhmist. Wohnte dieser Mann vielleicht außerhalb von Reykjavik?«
»Nein«, erwiderte Erlendur, »aber er war viel auf dem Land unterwegs.«
»Man kann dem aber keinerlei Bedeutung beimessen, das weißt du«, sagte der Mann. »Nach so langer Zeit und nach so vielen Besitzern.«
»Vielen Dank«, sagte Erlendur und beendete das Gespräch. Eine Idee schoss ihm durch den Kopf. Er schaute auf die Uhr. Es war bereits nach zehn. Um diese Zeit schläft doch noch niemand, dachte er unschlüssig. Nicht im Sommer.
Trotzdem zögerte er noch eine Weile, aber dann gab er sich einen Ruck.
»Ja«, sagte Ásta, Leopolds Verlobte. Erlendur verzog sein Gesicht. Er hörte ihr an, dass sie es nicht gewöhnt war, so spät am Abend noch Anrufe zu erhalten. Obwohl es Sommer war. Er sagte, wer er war, und sie fragte sehr verwundert, was er von ihr wolle, ob es nicht Zeit bis zum nächsten Tag damit gehabt hätte.
»Natürlich hätte es Zeit gehabt«, sagte Erlendur, »aber ich habe gerade erfahren, dass man auf dem Boden des Falcon Spuren von Kuhmist gefunden hat. Wir haben ihn untersucht. Wie lange habt ihr das Auto besessen?«
»Gar nicht lange, nur ein paar Wochen. Ich dachte, ich hätte dir das schon gesagt.«
»Ist er jemals damit aufs Land gefahren?«
»Aufs Land?« Die Frau überlegte.
»Nein«, erklärte sie schließlich, »ich glaube nicht. Er hat ihn ja nur so kurz gehabt. Ich kann mich auch erinnern, dass er gesagt hat, das Auto sei ihm zu schade, um damit auf diesen miserablen isländischen Straßen zu fahren. Er wollte es nur innerhalb der Stadt benutzen.«
»Da ist noch etwas«, sagte Erlendur, »und entschuldige bitte, dass ich dich zu dieser Tageszeit belästige, dieser Fall ist nur … Ich weiß, dass der Wagen auf deinen Namen angemeldet war. Kannst du dich erinnern, wie ihr ihn bezahlt habt? Hat Leopold ein Darlehen aufgenommen? Hast du etwas dazugezahlt? Besaß er Geld? Kannst du dich daran erinnern?«
Wieder herrschte Schweigen in der Leitung, während sich die Frau in die Vergangenheit hineinversetzte und versuchte, sich an etwas zu erinnern, was wohl die wenigsten im Gedächtnis behalten.
»Nein, ich habe nichts dazugezahlt«, sagte sie endlich. »Ich kann mich erinnern. Ich glaube, er hat ihn bar bezahlt. Er hatte Geld zurückgelegt, während er zur See fuhr, sagte er mir. Warum willst du das wissen? Warum rufst du wegen so etwas so spät an? Gibt es etwas Neues?«
»Weißt du, warum er das Auto auf deinen Namen angemeldet hat?«
»Nein.«
»Fandest du das nicht merkwürdig?«
»Merkwürdig?«
»Dass er das nicht auf seinen Namen machen ließ? So war es doch normalerweise. Die Männer haben die Autos gekauft, und die Papiere wurden auf sie ausgestellt. Soweit ich weiß, hat es von dieser Regel nur ganz wenige Ausnahmen gegeben.«
»Da kenne ich mich nicht aus«, erwiderte Ásta.
»Er könnte das getan haben, um seine Spur zu verwischen«, sagte Erlendur. »Wenn das Auto auf seinen Namen angemeldet worden wäre, hätte er bestimmt Papiere vorlegen müssen, die Auskunft über ihn gegeben hätten.«
Ásta schwieg eine Weile, dann erklärte sie: »Er hat sich nicht versteckt.«
»Nein, vielleicht nicht«, sagte Erlendur. »Aber vielleicht hieß er ganz anders, vielleicht hieß er gar nicht Leopold. Möchtest du nicht wissen, wer er war? Wer er in Wirklichkeit war?«
»Ich weiß, wer er war«, sagte die Frau, und Erlendur hörte, dass sie kurz davor stand, in Tränen auszubrechen.
»Natürlich«, sagte Erlendur. »Entschuldige die Störung. Ich habe nicht daran gedacht, wie spät es ist. Ich sage dir Bescheid, wenn ich etwas herausgefunden habe.«
»Ich weiß ganz genau, wer er war«, wiederholte die Frau.
»Natürlich«, sagte Erlendur. »Natürlich weißt du das.«
Einundzwanzig
Die Spuren von Kuhmist halfen nicht viel weiter, denn es hatte mehrere Besitzer gegeben, bevor das Auto beim Schrotthändler gelandet war. Jeder von denen hätte in Kuhmist treten und ihn ins Auto tragen können. Vor mehr als dreißig Jahren war Reykjavik eine ländliche Stadt, und der Besitzer hätte nicht einmal die Stadtgrenzen verlassen müssen, um auf Kühe zu stoßen. Erlendur konnte sich gut an Schafe erinnern, die aus einer eingezäunten Wiese ausgebrochen waren und nach kurzer Zeit mitten in der Stadt bei Háaleitisbraut herumstreunten. Er hatte damals gerade bei der Polizei angefangen und war einer von denen gewesen, die sie wieder einfangen mussten.
Es konnte aber auch sein, dass Haraldur, der immer noch auf allem und jedem herumhackte, irgendetwas herausrutschen würde. Seine Laune hatte sich nicht gebessert, seit Erlendur zuletzt in seinem Zimmer gesessen hatte. Er war gerade dabei, sich das Mittagessen einzuverleiben, Hafergrütze mit gesäuerter Sülzwurst. Sein Gebiss lag auf dem Nachttisch. Erlendur versuchte krampfhaft, nicht dorthin zu blicken. Es reichte schon, das Schlürfen zu hören und zu sehen, wie ihm der Brei am Mundwinkel herunterlief.
Haraldur schmatzte mit sichtlichem Genuss auf einem Bissen herum.
»Wir wissen, dass der Verkäufer mit seinem Falcon zu euch auf den Hof gekommen ist«, sagte Erlendur, als das Schmatzen aufgehört und Haraldur sich den Mund abgewischt hatte. Er war wie beim ersten Mal aufgebraust, als er Erlendur erblickte, und hatte ihm gesagt, er solle sich zum Teufel scheren, aber Erlendur hatte nur gelächelt und sich hingesetzt.
»Kannst du mich nicht in Ruhe lassen?«, hatte Haraldur gesagt und gierig auf sein Essen gestarrt. Er wollte Erlendur nicht beim Essen dabeihaben.
»Iss ruhig«, hatte Erlendur gesagt. »Ich warte so lange.« Haraldur schaute ihn grimmig an, kapitulierte aber bald.
Erlendur schaute weg, als er sich das Gebiss aus dem Mund nahm.
»Und was für Beweise wollt ihr dafür haben?«, fragte Haraldur jetzt. »Ihr habt gar keine Beweise, weil er nämlich nie zu uns gekommen ist. Gibt es denn kein Gesetz, das einen vor solchen Belästigungen schützt? Dürft ihr einen wirklich am laufenden Band behelligen?«